Hohe Energiekosten sind eine Folge des Krieges in der Ukraine: Mit welchen Zahlen müssen wir rechnen? Foto: Envato/jirkaejc

19.11.2022
Von Frank Jungbluth

„Trotz staatlicher Hilfen werden wir Wohlstandsverluste erleben”

Dr. Michael Hüther ist Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Der 60-jährige Volkswirt erklärt im Gespräch, wie der Ukrainekrieg die Wirtschaft belastet und worauf die Deutschen sich in der kritischen Lage noch einstellen müssen.

Wie wird sich der Ukrainekrieg auf den Wohlstand in Deutschland auswirken und wie hat er sich auf unsere Volkswirtschaft ausgewirkt? Dabei geht es auch um die sozialen Sicherungssysteme.

Dr. Michael Hüther: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist in vielerlei Hinsicht eine Zäsur. Er trübt das wirtschaftliche Klima direkt wie indirekt enorm, er verursacht einen Wohlstandsverlust für unser Land. Schon vor dem Krieg sind die Preise für Energie gestiegen, seit Frühjahr sind sie explodiert. Darunter leiden vor allem energieintensive Unternehmen, beispielsweise Papier- und Stahlproduzenten. Ohne staatliche Entlastungen sind etliche Existenzen bedroht. Aber auch mit staatlicher Hilfe wird es Wohlstandsverluste geben: IW-Berechnungen zeigen, dass durch einen hohen Gaspreis mehr als 300 000 Menschen in Deutschland bis Ende 2023 ihren Job verlieren könnten. Die soziale Sicherung wird künftig nur in dem Umfang zu gewährleisten sein, wie es gelingt, reale Einkommensverluste wettzumachen.

Welche Maßnahmen mit kurz-, mittel- und langfristiger Wirkung müssten jetzt ergriffen werden, um die zu erwartenden negativen Entwicklungen abzuwenden? Oder steuert Deutschland unweigerlich in eine Hyperinflation?

Mit insgesamt drei Entlastungspaketen hat die Bundesregierung richtige Impulse gesetzt. Trotzdem fehlt es Unternehmen an hinreichend schnellen Liquiditätshilfen. Hier wäre unser Vorschlag, die steuerlich anstehenden Vorauszahlungen bis Mitte 2023 automatisch auszusetzen. Sinnvoll wäre auch, wenn besonders unter Druck stehende Unternehmen schon geleistete Steuervorauszahlungen zurückbekämen. Der Bundesfinanzminister hat immerhin die Finanzverwaltung angewiesen, beantragte Anpassungen bei den Vorauszahlungen schnell und ohne Prüfung zu akzeptieren. Die Gaskostenbremse und die Stromkostenbremse sind wichtige Schritte, um eine breite Überforderung der privaten Haushalte durch Kaufkraftentzug und bei den energieintensiv produzierenden Unternehmen zu verhindern.

Welche tarifpolitischen Maßnahmen empfehlen Sie in der gegenwärtigen Lage?

Die Tarifparteien müssen grundsätzlich die alle betreffenden Wohlstandsverluste in Folge des Krieges akzeptieren, für Gewerkschaften eine undankbare Aufgabe. Hohe Lohnforderungen bieten in der gegenwärtigen Situation ein hohes Risiko, denn es droht eine Lohn-Preis-Spirale und eine weitere Überforderung der Unternehmen. Die Bundesregierung hat mit der steuerfreien Einmalzahlung das richtige Instrument geschaffen: Bis zu 3000 Euro sind steuerfrei möglich. Das könnte auch die Inflation verlangsamen. Der Tarifabschluss in der Chemie ist ein gelungener und verantwortlicher Kompromiss.

Welche volkswirtschaftlichen Folgen hat die aktuell empfohlene zweistufige Gaspreisbremse? Wie sinnvoll ist diese?

Grundsätzlich sind Preiseingriffe nicht das beste Mittel der Wahl. In der aktuellen Notsituation ist die Gaspreisbremse – wie angesprochen – dennoch unverzichtbar: Sie heizt die Inflation nicht weiter an und reduziert den Druck auf die Tarifparteien und auf die Europäische Zentralbank. Gleichzeitig bietet sie durch ihre zweistufige Konstruktion (mit dem Basisverbrauch) Anreiz zum Sparen. Hier muss Schnelligkeit vor Zielgenauigkeit gehen. Die Vorschläge der Kommission sind durchdacht und berücksichtigen dieses Dilemma angemessen.

Kommt die für März 2023 geplante Entlastung für viele Handwerksbetriebe zu spät?

Neben den teils extrem hohen Rechnungen für Energie haben die Unternehmen mit zahlreichen weiteren Hürden zu kämpfen, beispielsweise mit einem immer dramatischer werdenden Fachkräftemangel. Entsprechend reagierten viele Betriebe auf die späte Entlastung sehr enttäuscht. Gefragt ist schnelle Liquidität – insofern ist nächstes Frühjahr schon ziemlich spät. Der skizzierte steuerpolitische Ansatz könnte die Brücke bauen.

Sind hohe Tarifabschlüsse in der momentanen Lage empfehlenswert? Welche Konsequenzen aus dem Ukrainekrieg ergeben sich für die Tarifverhandlungen?

Wir warnen vor hohen Lohnabschlüssen, denn die würden die Inflation weiter befeuern. In dem Fall droht eine Lohn-Preis-Spirale. Die Energieprämie der Bundesregierung ist der richtige Weg. Bei einem Einkommen von 49.200 Euro sind 3000 Euro immerhin ein Plus von 6,1 Prozent – und das, ohne die Lohnkosten auf breiter Front in die Höhe zu treiben. Die Lohnpolitik kann den Wohlstandsverlust für alle grundsätzlich nur anteilig kompensieren. Der Staat stellt die gezielte Abfederung der liquiditätsbeschränkten Haushalte über Transfers sicher.

Welche Schlussfolgerungen für die Energiepolitik in Deutschland und in der EU sollten aus dem Krieg gezogen werden?

Für ein Industrieland von der Größe Deutschlands ist eine sichere Energieversorgung natürlich elementar. Bei andauernden Belastungen in dieser grundlegenden Energieversorgung drohen langfristige Folgewirkungen für den Wohlstand in unserem Land. Deshalb braucht es jetzt eine Kraftanstrengung, die notwendige Infrastruktur für eine Energiebelieferung auch ohne Russland zu errichten. Ich werbe dafür, bisherige Tabus zu überdenken. Auch in Deutschland gibt es Gasvorkommen, die wir erschließen können. Den Widerstand dagegen halte ich für moralisch inkonsistent. Dabei ist langfristig klar: Fossile Energien haben keine Zukunft. Deshalb müssen wir unsere Anstrengungen beim Ausbau erneuerbarer Energien weiter verstärken. Bis dahin benötigen wir aber gesicherte Leistung, und das verlangt zum Beispiel die befristete Weiternutzung unserer Kernkraftwerke.

Wie müssten die Wirtschaftsbeziehungen Deutschlands und der EU zu China gestaltet werden?

Deutschland ist abhängiger von China als umgekehrt, aber auch China kommt nicht alleine weiter. Nach unseren Zahlen ist die ¬Abhängigkeit in den vergangenen Jahren sogar konstant gewachsen. Im Moment stehen wir bei einem Handelsdefizit von 40 Milliarden Euro. Angesichts des Säbelrasselns der chinesischen Führung in Richtung ¬Taiwan ist das ein politisches Risiko, hier besteht Handlungsbedarf. Natürlich können wir uns nicht von einem Staat mit 1,4 Milliarden Menschen entkoppeln, allerdings müssen wir die überproportionale Bedeutung Chinas für die deutsche Wirtschaft reduzieren. Auch in anderen Schwellenländern lassen sich Geschäfte machen. Die Bundesregierung sollte hierfür die richtigen Anreize setzen.

Wie sinnvoll sind Sanktionen gegen Russland?
 
Die Sanktionen bleiben richtig und alternativlos. Sie behindern den Zugang Russlands zu Hochtechnologien und entfalten dadurch unmittelbar Wirkung. Das wird den technischen Fortschritt dort um Jahre zurückwerfen. Ein Ausscheren Deutschlands bei dieser Frage wäre ein fatales Signal an unsere transatlantischen Partner. Und sie sind Teil unserer Solidarität mit der Ukraine.

Welche Volkswirtschaften werden aus dem Ukrainekrieg langfristig als Gewinner hervorgehen, welche als Verlierer? Man sagt heute schon, dass die USA ein Profiteur sind, weil sie ihre Rohstoffe für die Energieversorgung jetzt besser verkaufen.

Zunächst einmal verlieren alle. Der allergrößte Verlierer dürfte Russland sein, dazu Belarus. Neben den ökonomischen und demografischen Verlusten hat die russische Führung ihren moralischen Bankrott angemeldet. Mittelfristig gewinnen Branchen und Unternehmen, die die Ukraine beim Wiederaufbau unterstützen. Und auch die USA gewinnen als Flüssiggasexporteur natürlich enorm durch die neuen Absatzmärkte. Wichtig ist, dass Deutschland den kommenden Wiederaufbau der Ukraine finanziell unterstützt. Das ist nicht nur für die Ukraine wichtig, sondern birgt auch Investitionsmöglichkeiten für die deutsche Wirtschaft.

Anders gefragt: Wie wird der Ukrainekrieg das wirtschafts- und machtpolitische globale Koordinatensystem verändern?

Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist der Versuch, in einer neu sich ordnenden Welt als wiedererstarkte Großmacht neben China und den USA mitzumischen. Tatsächlich kommt der Krieg für Russland einem ökonomischen Selbstmord gleich: Der Westen wird aller Voraussicht nach seine wirtschaftlichen Aktivitäten auf lange Sicht mit dem Land weitgehend einfrieren. Die Europäische Union wiederum tut jetzt gut daran, sich auf ihre Kernwerte zu besinnen – nur so spielt sie in der neuen Weltordnung eine geopolitisch nennenswerte Rolle.

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