Dieses Bild soll Soldaten der 35. ukrainischen Marineinfanterie-Brigade zeigen, nachdem sie am 12. Juni das Dorf Storozheve in der Region Donezk zurückerobert haben. Foto: picture alliance / AA / Mihail Ostrogradski 35th Brigade

13.06.2023
Von Yann Bombeke

Ukrainische Gegenoffensive: Es bleibt unklar, wo der Hauptschlag erfolgt

Die ukrainischen Streitkräfte sind in den vergangenen Tagen im Kampf gegen die die russischen Invasoren an verschiedenen Frontabschnitten in die Offensive gegangen, es gab heftige Kämpfe, Verluste und Geländegewinne. Doch dies ist wohl noch nicht der erwartete große Gegenschlag.

Es waren Bilder, die viele Beobachter aufgeschreckt haben: Westliche Kampf- und Schützenpanzer, beschädigt, zerstört, liegengeblieben im Süden der Ukraine, in der Region Saporischschja. Der Auftakt zur großen Gegenoffensive geriet offenbar verlustreich für die ukrainischen Streitkräfte. Die russische Propaganda hatte nur darauf gewartet, endlich kampfunfähig gemachte Kampfpanzer Leopard 2 und Schützenpanzer Bradley aus US-amerikanischer Produktion zu zeigen. Und schnell zu erklären, dass die große ukrainische Gegenoffensive bereits gescheitert ist. Allein: Sie hat noch gar nicht richtig angefangen.

Noch ist nicht ganz klar, was in der vergangenen Woche südöstlich der Stadt Saporischschja geschehen ist. Allem Anschein nach erlitten die gepanzerten ukrainischen Verbände, ausgerüstet mit Minenräumfahrzeugen sowie Kampf- und Schützenpanzern aus westlicher Produktion, herbe Verluste bei einem Vorstoß in Richtung Süden. Minensperren, Artilleriebeschuss und Angriffe durch Kampfhubschrauber forderten ihren Tribut. Mindestens ein Leopard 2A6 und ein Leopard 2A4 wurden zerstört, zwei weitere Leopard 2A6 beschädigt zurückgelassen. Auf der als zuverlässig geltenden Liste des niederländischen Online-Portals „Oryx“ werden zudem 17 Schützenpanzer Bradley als zerstört oder beschädigt dokumentiert.

Ukraine hat Nachrichtensperre verhängt

Der ukrainische Vorstoß ist also gescheitert? Die russische Propaganda sieht es jedenfalls so und profitiert dabei von der Nachrichtensperre, welche sich die ukrainische Seite selbst auferlegt hat, ähnlich wie bei den Offensiven im vergangenen Jahr in Kharkiv und Cherson. So gibt es aktuell auf den Social-Media-Kanälen viele Beiträge über den Kriegsverlauf aus russischer Sicht, jedoch nur wenige Berichte aus ukrainischer Perspektive. Wahrscheinlich aus diesem Grund hat sich die ukrainische Führung am Wochenende entschieden, wenigstens etwas Bildmaterial von den Geschehnissen an der Front freizugeben: ukrainische Truppen, die russische Stellungen stürmen, feindliche Mehrfachraketenwerfer, die mit Präzisionsmunition zerstört werden, und Konvois der russischen Kräfte, die mit HIMARS-Raketen ins Visier genommen werden. Und dazu Meldungen von einem halben Dutzend Ortschaften weiter östlich in Donezk, die in den vergangenen Tagen befreit wurden.

Wie erfolgreich die aktuellen Vorstöße der ukrainischen Kräfte an der Südfront sind, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt nicht abschätzen. Zwar gelang es offenbar stellenweise, einige Kilometer vorzudringen, die erste russische Verteidigungslinie zu durchbrechen und einige Dörfer zu befreien. Doch die russische Armee hat die vergangenen Monate genutzt, um weitere, tief gestaffelte und massive Abwehrlinien aufzubauen. Der Weg zum Schwarzen Meer ist also noch lang.

Russland soll so lange wie möglich im Unklaren bleiben

Ebenso unsicher ist allerdings, ob ein vorangetriebener Keil zum Schwarzen Meer und damit die Teilung der russisch besetzten Gebiete in zwei Hälften überhaupt das Ziel der großen Offensive ist. Denn auch in anderen Regionen hat die Ukraine ihre Offensivbemühungen verstärkt – so etwa rund um das lange heftig umkämpfte Bachmut, das erst nach verlustreichen Kämpfen vor wenigen Wochen von russischen Truppen erobert wurde. Dort rücken die ukrainischen Truppen an den Flanken der Stadt vor. Russland musste seine Kräfte dort verstärken, um das Risiko einer Einkesselung zu reduzieren. Auch aus dem Norden, aus der Region Luhansk, melden russische Blogger zunehmende offensive Aktivitäten der ukrainischen Streitkräfte. Das Kalkül der Militärplaner aus Kiew ist klar: Russland soll so lange wie möglich im Unklaren bleiben, wo der eigentliche Hauptstoß erfolgt.

„Die Offensive hat eindeutig begonnen, aber ich glaube nicht, dass dies auch für den Hauptangriff gilt“, sagte jetzt Generalleutnant a.D. Ben Hodges, zuletzt Oberbefehlshaber der US Army Europe. Nach seiner Schätzung hat die Ukraine zwischen sieben und zwölf gepanzerte Brigaden für die Gegenoffensive vorbereitet. Erst wenn zwei bis drei dieser Brigaden mit 500 bis 750 gepanzerten Fahrzeugen in einem bestimmten Bereich zu sehen seien, werde eine Aussage möglich sein, dass der Hauptstoß begonnen habe – und an welchem Frontabschnitt.

„Strategie der tausend Bienenstiche“

Für den pensionierten US-General sind die aktuellen Aktionen der ukrainischen Streitkräfte nur punktuelle kleinere Angriffe, um Schwachstellen in der russischen Verteidigung zu finden und die eigenen Angriffsabsichten zu verschleiern. Auch hält er es für möglich, dass die Ukrainer einige wenige Leopard-Panzer eingesetzt haben könnten, um den Gegner zu täuschen.

Der Militärökonom Marcus Keupp hingegen glaubt nicht an einen einzelnen, massiven Vorstoß der ukrainischen Streitkräfte. „Es ist ein Irrglaube des Westens, dass es einen großen, romantischen Hauptangriff geben wird. Wir sehen bereits die Offensive, auch wenn die Ukraine noch nicht alle Brigaden eingesetzt hat“, sagte der Wissenschaftler von der Militärakademie der ETH Zürich dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Keupp weiter: „Das ukrainische Militär verfolgt die Strategie der tausend Bienenstiche, es greift an mehreren Achsen gleichzeitig an. Hinzu kommen Ablenkungsmanöver, die die russischen Reserven binden sollen.“

Die schweren Kampfbrigaden würden von der Ukraine noch zurückgehalten, sagt Keupp. Diese würden erst eingesetzt, wenn die leichten Brigaden einen Korridor freigekämpft hätten. Dort würden die schweren Kampfverbände dann durchbrechen, erläutert der Militärökonom.

Partisanen sind in den besetzten Gebieten aktiv

Als weiteren wichtigen Faktor der ukrainischen Offensive nennt Keupp die Aktionen von Partisanen in den besetzten Gebieten. So gab es in den vergangenen Tagen eine Reihe von Attacken auf Eisenbahnlinien im besetzten Teil von Cherson und auf der Krim. „Über die Brücke von Kertsch kommt der gesamte Nachschub aus Russland auf die Krim. Die Halbinsel ist das Logistikzentrum der russischen Besatzungsarmee, von dort wird das Material an die Südfront gebracht. Jetzt ist diese Verbindung unterbrochen und die Russen stehen vor einem Problem.“

Auch die militärische Führung Russlands kann sich im Hinterland der Front nicht sicher fühlen: Neben logistischen Einrichtungen und Nachschubwegen zielen die ukrainischen Angriffe auch auf Kommandostrukturen des Gegners. Verschiedenen Meldungen zufolge wurde am 12. Juni der Befehlshaber der russischen 35. Kombinierten Waffenarmee, Generalmajor Sergej Gorjatschow, bei einem ukrainischen Raketenangriff auf sein Hauptquartier getötet.

Das nächste US-Hilfspaket ist geschnürt

Trotz der erlittenen Verluste zu Beginn des Vorstoßes im Süden sieht Keupp die Ukraine im Vorteil. Russland habe eine enorm hohe Abnutzungsrate bei seinen Waffensystemen. „Die Russen haben mittlerweile zwei Drittel ihre operativen Panzerflotte verloren und sind nicht in der Lage, die bestehenden Reserven rechtzeitig instand zu setzen“, sagt der Dozent von der Schweizer Ausbildungsstätte für Berufsoffiziere.

Die Ukraine hingegen kann weiterhin mit Waffenlieferungen aus dem Westen rechnen: So wollen die USA mit einem weiteren Hilfspaket in Höhe von 325 Millionen Dollar zusätzliches Material zur Verfügung stellen. Neben Artillerie- und HIMARS-Munition soll die Lieferung zehn Transportpanzer Stryker und 15 Schützenpanzer Bradley umfassen – dies wäre der Ersatz für die in den vergangenen Tagen verlorenen Kampffahrzeuge. Das Material soll aus Beständen der US-Streitkräfte stammen und könnte so schnell auf den Weg gebracht werden.

 

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