Die Tricolore im Himmel über Paris: Deutschlands enger Verbündeter ist traditionell Frankreich. Aber: Die politischen Verhältnisse beim Nachbarn im Westen haben sich verschoben.

Die Tricolore im Himmel über Paris: Deutschlands enger Verbündeter ist traditionell Frankreich. Aber: Die politischen Verhältnisse beim Nachbarn im Westen haben sich verschoben. Foto: dpa/picture alliance

25.09.2024
Von Ulrike Franke und Jana Puglierin

Was bleibt von Deutschlands Sicherheit, wenn die engsten Verbündeten gehen?

Da sich Deutschland in Bezug auf seine Sicherheit und Verteidigung weitgehend auf die USA und zum Teil auf Frankreich verlässt, könnte es leicht isoliert und gefährdet dastehen. Berlin muss handeln, ist das Fazit der Analystinnen vom European Council on Foreign Relations (ECFR).

Als im zweiten Wahlgang der französischen Parlamentswahlen am 8. Juli die rechtsextreme und ausgesprochen deutschfeindliche Partei Rassemblement National (RN) nicht die meisten Sitze im französischen Parlament errang, war in Berlin ein Seufzer der Erleichterung zu hören. Die nächste französische Regierung –  wer auch immer sie bilden wird – wird aller Voraussicht nach nicht sofort die gesamte deutsch-französische Verteidigungszusammenarbeit beenden oder aus dem integrierten Militärkommando der NATO austreten, wie es der RN in Erwägung gezogen hatte.

Aber die deutsche Regierung kann sich keine Entspannung leisten. Die Alarmglocken sollten läuten, wenn man bedenkt, wie oft Deutschland in letzter Zeit aus Angst vor den Wahlergebnissen seiner engsten Verbündeten den Atem anhalten musste. Bisher hatte die Bundesrepublik Glück: Joe Biden gewann die US-Präsidentschaft im Jahr 2020. Emmanuel Macron gewann die französische Präsidentschaft im Jahr 2022 und verlor die Parlamentswahlen im Juli nicht ganz so spektakulär wie von vielen befürchtet. Aber es besteht die Gefahr, dass diese Beinahe-Pleiten ein grundlegendes Problem verschleiern: Deutschland steht zunehmend allein da, ohne seine engsten Verbündeten.

Deutschlands Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist stärker auf die Zusammenarbeit mit Verbündeten ausgerichtet – und darauf angewiesen – als die der meisten anderen europäischen Länder. Das liegt nicht nur am bekannt schlechten Zustand der deutschen Streitkräfte. Deutschland hat sein Militär jahrzehntelang unterfinanziert, so dass es auf NATO-Verbündete und insbesondere auf die Vereinigten Staaten angewiesen ist, um sich selbst zu verteidigen. Doch an dieser Situation wird im Zuge der „Zeitenwende” gearbeitet. Wichtiger ist, dass es in der DNA der Bundesrepublik liegt, mit Verbündeten zusammenzuarbeiten. Die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik beruht auf dem Grundsatz „niemals allein“. Seit 1949 ruht sie auf zwei Säulen: dem transatlantischen Bündnis und der Partnerschaft mit den USA sowie dem europäischen Integrationsprojekt und der engen Beziehung zu Frankreich. Das deutsche Grundgesetz (genauer gesagt, eine eine Auslegung desselbigen aus dem Jahre 1994 durch das Verfassungsgericht) sieht vor, dass die Bundeswehr international nur im Rahmen eines „Systems kollektiver Sicherheit“, das heißt der Vereinten Nationen, der NATO oder der Europäischen Union, tätig werden kann.

Sprich: Abgesehen von der unmittelbaren Verteidigung des deutschen und verbündeten Territoriums darf die Bundeswehr nach herrschendem Konsens international nichts ohne ihre Verbündeten tun – das wäre eine rechtliche wie ideologische Herausforderung. Vor einem Jahr hat Deutschland seine erste nationale Sicherheitsstrategie veröffentlicht. Auf 76 Seiten werden nur Frankreich und die USA als Partner namentlich genannt (Israel, für dessen „Existenzrecht Deutschland weiterhin Verantwortung übernimmt“ wird ebenfalls erwähnt). Frankreich ist Deutschlands wichtigster Partner in Europa und Studien zeigen, dass ohne einen funktionierenden deutsch-französischen Motor kaum Fortschritte auf europäischer Ebene erzielt werden können. Frankreich ist das einzige Land, mit dem Deutschland neben dem NATO-Artikel 5 und dem EU-Artikel 42.7 ein gegenseitiges Verteidigungsabkommen, den Vertrag von Aachen, geschlossen hat. Noch wichtiger ist der Schutz der Sicherheit Deutschlands und Europas durch die USA, im Kontext der NATO und ihres nuklearen Schutzschirms. In den zweieinhalb Jahren seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine 2022 ist die Abhängigkeit Deutschlands von den USA nur noch deutlicher geworden.

„Deutsches Gift“

Die letzten Monate haben jedoch gezeigt, warum die enge Bindung an Partner wie die USA und Frankreich ein Problem darstellen könnte. Frankreich hat zwar gerade noch eine rechtsextreme Regierung abgewendet, aber der RN erhielt dennoch den höchsten Stimmenanteil. Marine Le Pen könnte 2027 durchaus Präsidentin werden und ihre Partei könnte bei künftigen Parlamentswahlen eine Regierungsmehrheit erlangen. Noch wichtiger ist, dass die antideutsche Stimmung in Frankreich nicht auf den RN beschränkt ist. Durch den Wahlerfolg der linksgerichteten Neuen Volksfront (NFP) sind 74 Mitglieder der Partei „Unbeugsames Frankreich“ (LFI) ins Parlament eingezogen, deren Vorsitzender Jean-Luc Mélenchon bekennend deutschlandfeindlich ist. So schrieb er ein über das „deutsche Gift“, beschuldigte Deutschland in einem  2018, heimlich zu versuchen, französische Atomwaffen in die Hände zu bekommen, und rief der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel auf Twitter (jetzt X) zu, sie solle „die Klappe halten“. Sowohl der RN als auch die LFI haben sich in der Vergangenheit für einen Austritt aus dem integrierten Militärkommando der NATO beziehungsweise im Falle der LFI für einen Austritt aus der NATO insgesamt – ein Schritt, der die NATO und somit auch Deutschlands Sicherheit unterminieren könnte. Es ginge zwar zu weit zu behaupten, dass RN- oder LFI-Wähler ihre Parteien speziell wegen ihrer antideutschen Rhetorik unterstützen, aber es bedeutet dennoch, dass fast die Hälfte der französischen Wählerstimmen an Parteien gegangen ist, die antideutsch und NATO-skeptisch sind.

Auf der anderen Seite des Atlantiks könnte Donald Trump wieder ins Weiße Haus einziehen. Während seiner Präsidentschaft war Deutschland ein beliebtes Ziel für seine Kritik. Möglicherweise will er die USA aus der NATO zurücknehmen oder sie so stark schwächen, dass sie den größten Teil ihrer Schutzfunktion verliert. Sein Vizepräsidentschaftskandidat J.D. Vance, der Senator von Ohio, hat in der Vergangenheit die deutsche Ukraine-Politik als „schändlich“ und die deutsche Energiepolitik als „idiotisch“ bezeichnet und behauptet, dass sich „alle ihre Versprechen als Mist herausgestellt haben“ (Deutschland ist der wichtigste europäische Unterstützer der Ukraine). Angesichts des sich wandelnden außenpolitischen Diskurses zwischen beiden Parteien und des Generationswechsels in der US-Gesellschaft könnte Joe Biden der letzte US-Präsident sein, der einen klaren Bezug zu Europa hat und unmittelbar um die europäische Sicherheit bemüht ist. Amerikas „Pivot to Asia“ hat bereits unter Präsident Barack Obama begonnen und wird angesichts der geopolitischen Macht Chinas sicherlich weitergeführt.

Über die in der Sicherheitsstrategie genannten Partner hinaus, die derzeit wegen politischer Verwicklungen auch besonders im Rampenlicht stehen, hat Deutschland auch andere wichtige Verbündete. Hier sind insbesondere die Niederlande zu nennen. Militärisch sind Deutschland und die Niederlande stark verflochten: Es ist der breiten Öffentlichkeit weitestgehend unbekannt, aber in den letzten Jahren haben die Niederlande ihre Kampfbrigaden in deutsche Heeresdivisionen integriert. Doch auch die niederländische Politik entwickelt sich aus deutscher Sicht in einer Weise, die zu Problemen führen könnte. Die neue rechte bis rechtsextreme Regierung der Niederlande hat sich zwar bisher nicht besonders kritisch gegenüber der Verteidigungszusammenarbeit geäußert, könnte aber aufgrund ihrer EU-kritischen Rhetorik zu einem problematischen Partner für die deutsche Regierung werden. Der Gewinner der niederländischen Wahlen, Geert Wilders, hat in der Vergangenheit rechte, regierungskritische Proteste in Deutschland unterstützt.

Das deutsche Sicherheitsmodell ist bedroht

Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 ist es zu einer allgemein anerkannten Erkenntnis geworden, dass das deutsche Modell nicht mehr funktioniert: billiges Gas aus Russland, Export nach China, Sicherheit durch die USA. Hinter dem letztgenannten Punkt verbirgt sich jedoch etwas Grundsätzlicheres als die Sorge um die USA. Das deutsche Sicherheitsmodell, das sich so stark auf die Zusammenarbeit mit den Verbündeten stützt, ist bedroht und möglicherweise nicht mehr tragfähig.

Berlin muss dringend handeln. Am dringendsten sollte die Regierung in ihre eigenen Sicherheits- und Verteidigungsfähigkeiten investieren. Die „Zeitenwende“, die Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner berühmt gewordenen Rede vom Februar 2022 anmahnte, scheint noch nicht ganz im Bewusstsein der Deutschen angekommen zu sein. Zweitens, und vielleicht etwas kontraintuitiv, sollte Deutschland seine Verteidigungskooperationen in Europa ausweiten, um nicht zu sehr von einzelnen Akteuren abhängig zu sein. Deutschland (und jedes andere europäische Land) ist zu klein, um seine Sicherheit ganz allein zu gewährleisten – aber das sollte nicht das Ziel sein. Europa basiert auf Zusammenarbeit und freundschaftlichen Beziehungen zwischen Nachbarn, und die Zusammenarbeit in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit kann dazu beitragen, diese zu fördern. Deutschland sollte jedoch darauf abzielen, seine Abhängigkeiten zu diversifizieren und mit Akteuren wie Polen, dem Vereinigten Königreich und den skandinavischen Ländern zusammenzuarbeiten. Deutschland ist zunehmend auf sich allein gestellt und muss daher vorbereitet sein.

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