Der (west)deutsche Weg in die NATO
Die Bundesrepublik Deutschland trat am 9. Mai 1955 der NATO bei. „Die Bundeswehr“ nimmt diesen Jahrestag zum Anlass, die Geschichte Deutschlands in der NATO zu beleuchten.
Zu Beginn ihrer Existenz stützte sich die NATO, stützte sich die Verteidigung Westeuropas auf das überlegene US-Nuklearwaffenpotential mit seinen weitreichenden Bombern. Die unterlegenen konventionellen Streitkräfte der Allianz hätten einen sowjetischen Angriff nicht aufhalten können, die NATO hätte also schnell atomar eskalieren müssen. Das konnte nicht im bundesdeutschen Interesse sein, es sollte nicht zerstört werden, was verteidigt werden musste. Insofern war der Aufbau der Bundeswehr ein existenzieller Beitrag zur Etablierung einer Vorneverteidigung und Eskalationskontrolle. Bis 1959 hatte die Bundeswehr elf Heeresdivisionen aufgestellt, knapp 148.000 Mann.
Die strategische Lage hatte sich inzwischen grundlegend gewandelt. Am 4. Oktober 1957 schickte die UdSSR den ersten Satelliten (Sputnik 1) in eine Erdumlaufbahn – und demonstrierte so ihre Fähigkeit, weitreichende Trägersysteme für Atomsprengköpfe zu bauen. Der sogenannte Sputnik-Schock läutete öffentlichkeitswirksam das Ende der nuklearen Dominanz der USA ein. Die Kubakrise von Mitte bis Ende Oktober 1962 tat ihr Übriges. Erstmals drohten weite Teile der USA praktisch ohne Vorwarnzeit in Reichweite sowjetischer Atomraketen zu gelangen. Es entstand das „Gleichgewicht des Schreckens“, das beide Seiten zu der Einsicht zwang, dass ein Krieg nicht zu gewinnen war. Der Kalte Krieg trat in eine Phase der Stabilität ein.
Überlebt hatte sich auch die Doktrin der „Massive Retaliation“, wonach selbst rein konventionelle Angriffe mit großangelegten, strategischen Gegenschlägen vergolten worden wären. Dieses Abschreckungskonzept war durch das nukleare Patt, aber auch durch die Einführung von taktischen Gefechtsfeldwaffen Ende der 1950er Jahren nicht länger glaubwürdig. 1968 beschloss die NATO ein neues Strategisches Konzept (MC 14/3), wonach das Bündnis flexibel auf einen Angriff reagieren kann (flexible response). Dennoch: Eine „General nuclear response“ blieb eine Option, sie sei die ultimative Abschreckung, die ultimative militärische Antwort.
Der Bundestag stimmte 1958 für die Atombewaffnung der Bundeswehr mit amerikanischen Gefechtsköpfen (nukleare Teilhabe). Nichtsdestotrotz stellten taktische Atomwaffen die Bundesrepublik vor strategische Herausforderungen. Einerseits waren sie ein unverzichtbarer Teil der Triade, die aus einer glaubwürdigen konventionellen Abschreckung, den genannten taktischen Nuklearwaffen (z. B. Rohr- und Raketenartillerie des Heeres) und schließlich den strategischen Nuklearwaffen der USA (insbesondere Interkontinentalraketen) bestand.

Die NATO war dem Ostblock trotz ihres Aufwuchses im konventionellen Bereich unterlegen. Ende der 1970er Jahre ging die Bundeswehr von einer dreifachen Überlegenheit des Warschauer Paktes bei Panzern aus. Sie rechnete sogar damit, dass sich das Heer durch Schwerpunktbildung einer zehnfachen Panzerüberlegenheit zu stellen hatte. Taktische Atomwaffen stärkten also die Abschreckungsfähigkeit, weil der Einsatz von strategischen Waffen, sobald die konventionelle Verteidigung zu versagen drohte, als unglaubwürdig erschien. Sie machten zugleich deutlich, dass ein Krieg nicht allein konventionell geführt – oder gar gewonnen werden könnte.
Andererseits drohte eine Abkopplung Europas von den USA, eine Regionalisierung des Konflikts. Bei den europäischen Mitgliedsstaaten bestanden immer Restzweifel, ob die USA ihre strategischen Atomwaffen gegen sowjetisches Kernland einsetzten würden, wenn dadurch ein Gegenschlag auf amerikanisches Festland provoziert werden würde.
Wie heikel dieses Thema gesellschaftlich war, zeigte unter anderem die Diskussion um die „Neutronenbombe“ 1977/1978. Weil ihm in erster Linie die Bundesrepublik die Unterstützung versagte, entschied sich US-Präsident Jimmy Carter gegen die Waffe. Das Debakel lieferte einen Vorgeschmack auf den NATO-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979.
Als Reaktion auf die Stationierung von SS-20-Mittelstreckenraketen entschied sich das Bündnis, auf Drängen Bundeskanzler Helmut Schmidts (SPD), amerikanische Pershing-II und konventionelle Marschflugkörper unter anderem in Westdeutschland zu stationieren. Weil diese Waffen sowjetisches Kernland treffen konnten, war das Risiko einer Abkopplung minimiert. Der Nachrüstungsbeschluss war verbunden mit einem Abrüstungsangebot, auf das Moskau allerdings nicht einging. Nach dem Scheitern seiner Kanzlerschaft setzte Schmidts Nachfolger, Helmut Kohl (CDU), den Beschluss um. Am 22. November 1983 stimmte der Bundestag für die Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen in Westdeutschland, die bis 1987 abgeschlossen sein sollte.
Mit der Nachrüstung schien die Entspannungspolitik, die nach der Kuba-Krise z. B. mit dem Atomwaffensperrvertrag 1968, den Verträgen SALT-I 1972 und SALT-II 1979 oder der KSZE-Schlussakte 1975 große Erfolge gefeiert, gescheitert zu sein. Das Gegenteil war der Fall. Der Zweiklang aus militärischer Stärke und Verhandlungsbereitschaft, erstmals im Hamel-Bericht von 1967 formuliert und nicht zuletzt im Rahmen der bundesdeutschen Ostpolitik ab 1969 angewandt, erwies sich als zeitloses Erfolgsrezept der NATO. Im Dezember 1987 unterzeichneten US-Präsident Ronald Reagan und der Generalsekretär Michail Gorbatschow den INF-Vertrag, der Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 km vollständig verbot. Nur zwei Jahre nach der INF-Vertragsunterzeichnung fiel die Berliner Mauer. Es war das heutige Russland, dass ab 2014 mit der Entwicklung und Einführung des 9M729-Marschflugkörpers (SS-C-8) gegen diesen Vertrag verstieß, was die USA zum Anstoß nahmen, 2019 auszusteigen.
Nach dem Ende des Kalten Krieges leistete die NATO ihren Beitrag zur Schaffung einer europäischen Sicherheitsarchitektur, die nicht gegen Russland gerichtet war und ehemalige Gegner einband. 1991 beschloss die Allianz ein neues Strategisches Konzept und verabschiedete sich von der Vorneverteidigung. Mit der Partnerschaft für den Frieden 1994 und der NATO-Russland-Grundakte 1997 wurden Foren zur Zusammenarbeit geschaffen, 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn der Allianz bei (Osterweiterung). 2004 kamen dann unter anderem die baltischen Staaten und die Slowakei hinzu.

In den 1990er Jahren setzte eine gigantische Abrüstung ein, die Mitgliedsstaaten verkleinerten ihre Streitkräfte massiv. Zugleich gab es die ersten Missionen zum Krisenmanagement. 1993 intervenierten NATO-Truppen auf dem Balkan in Bosnien und Herzegowina, 1997 in Serbien. Der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr, die Operation Allied Force, fand ebenfalls in einem NATO-Rahmen statt. Zur Durchsetzung des Friedensvertrags von Rambouillet flogen 14 Tornado-Jagdbomber der Luftwaffe ab dem 24. März 1999 Einsätze gegen serbische Stellungen. Die Luftangriffe erreichten ihren politischen Zweck. Die serbischen Truppen zogen aus dem Kosovo ab. Im Juni rückte die Kosovo Force (KFOR) der NATO mit 50.000 Soldaten – darunter 6000 der Bundeswehr – mit schwerem Gerät ein und überwachten den Abzug der serbischen Einheiten und die Sicherheit im Kosovo. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 rief das Bündnis erstmals in seiner Geschichte den Verteidigungsfall nach Artikel 5 aus. Damit nahm der prägendste Einsatz der Bundeswehr, der in Afghanistan, seinen Anfang.
Trotz der russischen Intervention in Georgien 2008 konzentrierte sich das Bündnis und die Bundeswehr immer stärker auf internationale Stabilisierungseinsätze. In ihrem Koalitionsvertrag verständigten sich 2009 Union und FDP auf eine „[neue] Organisationsstruktur der Bundeswehr“. Die Überlegungen in der SPD und bei den Grünen waren noch weitreichender.
Im Rahmen der Neuausrichtung der Bundeswehr wurde 2010/2011 die zivile Wehrverwaltung grundlegend umgebaut, Standorte aufgegeben, die Wehrpflicht ausgesetzt und der Umfang an Berufs- und Zeitsoldaten sowie Zivilpersonal verringert. „Da ein unmittelbarer konventioneller Angriff auf deutsches Staatsgebiet unwahrscheinlich geworden ist, sind die ausschließlich für diesen Fall früher vorgehaltenen Personalumfänge in der bisherigen Form entbehrlich geworden“, hieß es im Eckpunktepapier.
Die Trendwende erfolgte erst, wenn auch in erster Linie auf dem Papier, nach der Annexion der Krim 2014. Auf dem NATO-Gipfel in Wales im September 2014 wurde unter anderem die Gründung der Very High Readiness Joint Task Force (VJTF) beschlossen und bekannten sich die Alliierten – und damit auch Deutschland – zum Zwei-Prozent-Ziel der NATO. Auf dem NATO-Gipfel in Warschau 2016 wurde zusätzlich die enhanced Forward Presence (eFP) z. B. in Polen und dem Baltikum beschlossen. eFP hat nichts mit der Vorneverteidigung zur Zeit des Kalten Krieges zu tun, es dient lediglich als „Stolperdraht“ und verhindert eine Abkopplung.
Ergänzend zum Weißbuch 2016 der Bundesregierung gab Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen im Juli 2018 die Konzeption der Bundeswehr (KdB) heraus. Gemäß dem Fähigkeitsprofil, das der Generalinspekteur im September 2018 erließ, sollte die Bundeswehr schrittweise bis 2031 z. B. wieder über drei vollausgestattete Heeresdivisionen verfügen.
Es blieb bei Absichtserklärungen. Am 24. Februar 2022 stand die Bundeswehr bekanntermaßen „blank“ da.