Der wichtigste Gast des NATO-Gipfels in der litauischen Hauptstadt Vilnius: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj und NATO-Generalsekretär Jens Stolenberg. Foto: NATO

12.07.2023
Von Phlipp Kohlhöfer

Ukrainer können nur enttäuscht sein

Offiziell erst heute Programmpunkt, ist die Ukraine und ihre zukünftige Beziehung zur NATO das Überthema des Gipfels in Vilnius – auch wenn ihre Rolle im gestern veröffentlichten Communiqué relativ knapp gefasst ist. Zusammen mit einem fehlenden Zeitplan für eine ukrainische Mitgliedschaft sorgte das bei Beobachtern größtenteils für Enttäuschung. Eine Einordnung.

Als die NATO am MIttwochabend um 17.42 Uhr das Communiqué des diesjährigen Treffens veröffentlicht, versteckt sich der Satz, auf den alle gewartet haben, unter Punkt 11: „Ukraine’s future is in NATO.“ Nur, um ihn ein paar Sätze später wieder einzuschränken: „Wir werden in der Lage sein, eine Einladung an die Ukraine zum Beitritt in das Bündnis auszusprechen, wenn die Bündnispartner zustimmen und die Bedingungen erfüllt sind.“

Nicht bekommen, was die Ukraine wollte

In den Sätzen dazwischen wird der Ukraine der Membership Action Plan erlassen, wie das bereits vermutet worden war. Es wird auf politische und militärische Reformen verwiesen, die zuerst durchgeführt werden müssen und die NATO bekräftigt ihre fortgesetzte Unterstützung. Das wird später, Punkt 74, wiederholt: „NATO and EU will continue to support Ukraine.” Obwohl zudem das sogenannten Comprehensive Assistance Package (CAP) zu einem Mehrjahresprogramm umgebaut, die Allianz den Umbau der ukrainischen Armee auf NATO-Standards unterstützen will und ein NATO-Ukraine-Rat etabliert wird, hat die Ukraine hat nicht das bekommen, was sie wollte: einen Zeitplan ihrer vollen Integration in die Strukturen der NATO.

Formulierungen im Dokument bleiben vage

Die Formulierungen im Dokument sind vage, der Zeitpunkt der Mitgliedschaft völlig unklar. Nur wenige der 90 Punkte beschäftigen sich direkt mit der Ukraine, indirekt ein paar mehr, schließlich wird festgestellt, Punkt 19,: “We cannot consider Russia to be our partner.”… “Wir werden auf russische Bedrohungen und feindliche Handlungen geschlossen … reagieren.“ Der Rest des Communiqués beschäftigt sich mit der Rolle eines „zwanghaften“ Chinas, des Klimawandels als Bedrohung der Sicherheit und dem „enduring commitment to invest at least 2% of our Gross Domestic Product (GDP) annually on defence.“  Zwanzig Prozent davon sollen reserviert sein für schweres Gerät, die Rüstungsindustrie in Europa dabei deutlich gestärkt werden. Da auch die Deutschen dieser Formulierung unter Punkt 27 zugestimmt haben, bedeutet das, das der Verteidigungshaushalt ab 2028 um etwa 25 Milliarden Euro wachsen muss.

Überraschend ist das alles nicht, steht die amerikanische Position, die wichtigste Stimme im Bündnis, doch seit Wochen fest. Erst kurz vor dem Gipfel erklärt US-Präsident Joe Biden, die Ukraine sei noch nicht bereit für eine Mitgliedschaft und es sei "verfrüht", den Beitrittsprozess mitten im Krieg zu beginnen. Das Gefühl, dass sich dennoch unter den Beobachter festsetzte: Unzufriedenheit.

Russland hat keinen Grund, den Krieg zu beenden

Russland habe so keinen Grund den Krieg zu beenden. Die Terrorangriffe würden fortgesetzt, der Wideraufbau so auf unbestimmte Zeit verschoben. Die NATO-Mitgliedschaft sei die einzige Möglichkeit, die russische Aggression gegen das Land zu beenden und einen dauerhaften Frieden in Osteuropa zu erreichen. Viel mehr als ein Bukarest 2, als der Ukraine und Georgien 2008 bereits die Mitgliedschaft in der NATO versprochen worden war, nur um daraus nicht folgen zu lassen, sei das nicht.

Und das ist alles nicht von der Hand zu weisen. Die Erklärung von Bukarest verschleppte das Problem und brachte die Ukraine in die denkbar schlechteste strategische Position. Entsprechend enttäuscht reagierte Wolodymyr Zelenskyy. Er nannte das Versäumnis der NATO, einen konkreten Zeitplan für die Mitgliedschaft zu nennen, "beispiellos und absurd". Das Statement endet mit: „Uncertainty is weakness“. Experten wie Claudia Major, Forschungsgruppenleiterin für Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik und Mitglied im Beirat Zivile Krisenprävention und Friedensförderung der Bundesregierung, sehen die Alternativen zur Mitgliedschaft auf Twitter deutlich unattraktiver, weil: „teurer (westliche Staaten werden Großteil der Ausrüstung & Ausbildung finanzieren), instabiler (Netz bilateraler Verträge), ggg. Nuklearwaffen“. Und Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München, ergänzt, dass einen das Gefühl beschleiche, „dass man den NATO Beitritt als Verhandlungschip für mögliche Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine in der Hinterhalt behalten möchte.“

Langfristige Sicherheitszusagen

„Innerhalb des NATO-Kosmos allerdings sind die Aufwertung der NATO-Ukraine-Kommission zum Rat und die Aufhebung der formalen Anforderungen an den Aktionsplan zur Mitgliedschaft bedeutende Entwicklungen“, sagt dagegen Christopher Skaluba, ehemalige Direktor für NATO-Angelegenheiten im US-Verteidigungsministerium.  Bedenkt man, dass es noch vor wenigen Monaten hieß, dass die Ukraine keinesfalls Mitglied werden könnte, Diskussion beendet, dann hat sich zwar inhaltlich wenig geändert,  das wording allerdings ist komplett anders. Es gibt eine Anbindung an NATO und EU, das ist im Dokument mehrfach erwähnt. Es wird langfristige Sicherheitszusagen geben.

Zumal die amerikanische und auch deutsche Position mitnichten isoliert war. Polens Präsident Andrzej Duda etwa sagt: „Was den Zeitplan angeht, ist es sehr schwierig und praktisch unmöglich, jetzt über die Vollmitgliedschaft der Ukraine zu sprechen.“ Solange der russische Angriffskrieg andauere, könne man kein konkretes Beitrittsdatum nennen. Auch die Regierungschefs des Baltikums sind zufrieden mit den Beschlüssen.

Zweifelhafter Frieden ausgeschlossen

Und so enttäuschend, aus Sicht der Ukraine, das Communiqué auf den ersten Blick sein mag: Politisch hat sich die Allianz verpflichtet. “It puts Ukraine within, and not outside, the transatlantic family.”, sagt Daniel Fried, früherer US-Botschafter in Polen. Der Text macht außerdem klar, Punkt 7, “we do not and will never recognize Russia’s illegal and illegitimate annexations, including Crimea.” Inhaltlich ist das nichts Neues und Papier ist geduldig, aber in einem offiziellen Text der NATO trägt es dazu bei, die Ukraine eben nicht zur Aufgabe ihres Territoriums im Austausch für einen zweifelhaften "Frieden" zu Putins Bedingungen zu drängen.

Russland wird zudem klar als Gegner benannt, “the Russian Federation is the most significant and direct threat to Allies’ security and to peace and stability in the Euro-Atlantic area”, was bedeutet, dass allen klar ist, dass die Mitgliedschaft der Ukraine keine Wohltätigkeit ist, sondern im ureigenen Interesse der NATO und ihrer Mitglieder liegt. Außerdem wird, Punkt 8, Belarus und Iran thematisiert, die NATO wird die Ukraine auch bei dieser Bedrohung, denn nur zwei Absätze weiter, Punkt 10, heißt es: „We remain steadfast in our commitment to further step up political and practical support to Ukraine as it continues to defend its independence, sovereignty, and territorial integrity within its internationally recognised borders.“ Die Unterstützung werde fortgesetzt, „as long as it takes”.

Sicherheitszusagen mit Leben füllen

John Herbst, von 2003 bis 2006 amerikanischer Botschafter in Kiew, ist denn auch der Meinung, dass Vilnius nur der erste Schritt sei. Die Unterstützung der Ukraine werde andauen und zunehmen, denn durch die Erwähnung beider Punkte entstehe eine Dynamik, die sich nicht stoppen lasse. Im nächsten Jahr feiere die Allianz ihr 75jähriges Bestehen – auf  dem Gipfel in Washington. Joe Biden biete sich so die Chance „ein Vermächtnis als herausragender Präsident der nationalen Sicherheit zu hinterlassen". Dazu müsse er der Ukraine allerdings im ersten Schritt „alle Waffen zur Verfügung stellen, die sie braucht, um den Kreml auf dem Schlachtfeld zu besiegen".  Schritt Nummer zwei wäre dann „die Verankerung der Ukraine in der NATO“.


Dafür das Abschreckung immer auch in zwei Richtungen funktioniert, - die NATO schreckt Russland (bisher) von einem Angriff auf das Territorium der Allianz ab,  aber die Allianz wird eben auch von Russland abgeschreckt -, hat der Gipfel bisher kein schlechtes Ergebnis gebracht, schließlich wird Schweden zeitnah beitreten. Und die Sicherheitszusagen werden vermutlich heute  Nachmittag mit Leben gefüllt.

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