Gelähmte Bundeswehr: Der Status quo ist unhaltbar
„Welche Reform die Bundeswehr heute braucht – Ein Denkanstoß“. Diesen Denkanstoß geben der frühere Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels und der frühere Befehlshaber des Einsatzführungskommandos Rainer Glatz mit einem Reformpapier. Ihre Vorschläge haben Glatz und Bartels unter dem Dach des außen- und sicherheitspolitischen Berliner Thinktanks Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) erarbeitet und jetzt unter „SWP-Aktuell“ auf der Homepage der Stiftung veröffentlicht.
In der aktuellen Ausgabe unseres Mitgliedermagazins „Die Bundeswehr“ haben der SPD-Politiker Bartels und Generalleutnant a.D. Glatz die wichtigsten Punkte ihres Dokuments zusammengefasst. Ihre Forderung ist klar: Es muss etwas passieren, denn aktuell lähmen Zentralisierung, Stabslastigkeit und Mangelwirtschaft die Bundeswehr.
Nicht schon wieder eine Reform! Das war lange Zeit das Grundgefühl der Altgedienten. Zu viele „Neuausrichtungen“ hatte man erlebt nach 1990: Große Pläne, harte Einschnitte. Reform, das hieß über zweieinhalb Jahrzehnte: reduzieren, umgliedern, umstationieren, auflösen – immer wieder. Es ging vornehmlich ums Sparen und ums Optimieren auf den wahrscheinlichsten Auftrag, nämlich deutsche Kontingente für multinationale Krisenmissionen weltweit zu stellen.
Heute ist die Lage anders. Seit 2014 heißt der Doppelauftrag: kollektive Verteidigung in Europa mit einer einsatzbereiten Bundeswehr und gleichzeitig weiter Kriseneinsätze außerhalb des Bündnisgebiets. Es kommt mehr Geld (2014: 32,4 Milliarden Euro, 2020: 45,6 Milliarden), der Personalkörper wächst, und laut „Fähigkeitsprofil“ wird immerhin bis 2031 die Vollausstattung angestrebt.
Aber die Struktur der Bundeswehr folgt noch immer den Vorgaben der letzten Spar-Reform von 2011 mit ihrer Fokussierung auf internationales Krisenmanagement. Das passt nicht. Manches hat nie gepasst, doch heute schon gar nicht mehr: Zu wenig Truppe und zu viele Stäbe, zu wenig Ausstattung und zu viele Aufgaben, zu wenig Eigenständigkeit der verantwortlichen Kommandeure und zu viele Abhängigkeiten von zusätzlichen Zentralstellen.
Während die Zahl der aktiven deutschen Soldatinnen und Soldaten um mehr als die Hälfte schrumpfte, verdoppelte sich (die klassischen Teilstreitkräfte eingerechnet) die Zahl der militärischen Organisationsbereiche. Ebenso wuchs die Zahl der zivilen Bundesoberbehörden. Überorganisation und Verantwortungsdiffusion, Verbetriebswirtschaftlichung und Durchbürokratisierung kennzeichnen zu viele Zusammenarbeits-Beziehungen in der heutigen Bundeswehr.
Nicht alles war früher besser, aber es muss auch nicht alles neu erfunden werden, was die Einsatzbereitschaft unserer Streitkräfte verbessern kann. An die Stelle von Zentralisierung und „Tool Box“-Denken sollte das Prinzip „organische Verbände“ treten. Kräfte, Mittel, Auftrag und Verantwortung müssen zusammenpassen. Und die Verantwortung der jeweiligen Kommandeure ist, wenn es hart auf hart kommt, unteilbar. Am besten gilt das schon im Grundbetrieb. Das heißt, bestimmte Kompetenzen für Personalführung, Materialerhaltung und Versorgung gehören an die Basis, auf die Bataillons-, Regiments-, Geschwader- und Brigadeebene. Und dazu die notwendigen Kräfte und Mittel.
Dass die tüchtige Koblenzer Beschaffungsbehörde nicht nur in Corona-Zeiten mit dem „N“ im gegenwärtigen Namen BAAINBw strukturell überfordert ist, dürfte kein Geheimnis mehr sein. Deshalb sollte die Materialverantwortung in der Nutzungsphase wieder den Teilstreitkräften, den Nutzern, gehören. Zusätzliche Luft im Rüstungsprozess könnte die Unterscheidung zwischen „IKEA“-artigen Allerweltskäufen und komplexen Entwicklungsprogrammen im „Design“-Modus der Behörde verschaffen.
Die Organisation des Verteidigungsministeriums sollte konsequenter auf die militärische Organisation der Streitkräfte abgestimmt sein, Stichworte: Führungsfähigkeit und Gesamtverantwortung des Generalinspekteurs. Dabei bleibt die Aufgabe der konkreten Operationsführung klar bei den Nato-Kommandostrukturen und ggf. anderen multinationalen Organisationen. Deutschland sucht keine Sonderwege für nationale Alleingänge.
All dies in Angriff zu nehmen, bedeutet tatsächlich, eine neue Reform zu wagen. Das muss in der Bundeswehr aber nicht mehr auf allgemeinen Widerstand stoßen. Ausformulierte Anregungen zur Strukturveränderung kommen inzwischen auch von den Soldatinnen und Soldaten selbst, so etwa aus den 41 Workshops des „Programms Innere Führung – heute“, dessen Vorschläge zum Abbau von Führungserschwernissen in die gleiche Richtung gehen wie die Hinweise in den letzten Wehrbeauftragten-Berichten und wie die hier skizzierten Prinzipien.
Spätestens nach der Bundestagswahl 2021 ist die Zeit gekommen, die dysfunktional gewordenen Strukturen der Bundeswehr ihren heutigen Aufgaben anzupassen. Dabei sollte anders als früher der Grundsatz gelten: So viel Kontinuität wie möglich, so viel Veränderung wie nötig. Eine neue Reformkommission braucht man diesmal nicht. Alle Probleme mit dem unhaltbaren Status quo sind bekannt, und viele sinnvolle Vorschläge liegen auf dem Tisch. Auch im Ministerium, wie man hört. Jetzt braucht es einen offiziellen Plan – und Entscheidungen.
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