Vor vollem Haus informierte in Saarlouis Militärexperte Nico Lange zur Lage in der Ukraine. Foto:  KERH Südliches Saarland

Vor vollem Haus informierte in Saarlouis Militärexperte Nico Lange zur Lage in der Ukraine. Foto: KERH Südliches Saarland

01.07.2024
hk

Saarlouis: Keine Anzeichen erkennbar für ein Kriegsende in absehbarer Zeit - Militärexperte Nico Lange zu Besuch

Schon vor einem Jahr hatte die KERH Südliches Saarland zu dieser Veranstaltung eingeladen, und es scheiterte damals an einer massiven Flugverspätung. Entsprechend erfreut zeigte sich Hendrik Krause als Vorsitzender der KERH Südliches Saarland, als er kürzlich weit über 70 Mitglieder und Gäste im Offizierheim der Graf-Werder-Kaserne zur Vortragsveranstaltung mit Nico Lange begrüßen konnte. „Aktuelle Lage in der Ukraine - Chancen und Schwierigkeiten“ war die Thematik, zu der auch der Stellvertretende Kommandeur der Luftlandebrigade 1, Oberst Eiko Zuckschwerdt und viele seiner Offiziere erschienen waren. Nico Lange, ehemaliger Soldat, Politikwissenschaftler und unter der damaligen Ministerin Kramp-Karrenbauer Leiter Leitungsstab im BMVg, ist ein gefragter Experte zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Durch seine früheren Stationen als Dozent an der Universität St. Petersburg und als Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Ukraine verfügt er über gute Kontakte und ein umfangreiches Hintergrundwissen. Seit 2022 verantwortet er bei der Münchner Sicherheitskonferenz die „Initiative Zeitenwende“. Im Februar 2023 legte er zusammen mit Professor Carlo Masala und dem slowakischen Generalleutnant a.D. Pavel Macko die vielbeachtete Studie „How to beat Russia“ vor. 

In seinem Vortrag ging Lange zunächst auf die aktuellen politischen Rahmenbedingungen ein, insbesondere die zu diesem Zeitpunkt bevorstehenden Wiederaufbau- bzw. Friedenskonferenzen in Berlin und der Schweiz. Auch mögliche Ableitungen aus den Erfahrungen der Ukrainer hinsichtlich einer gesamtgesellschaftlichen Verteidigungsanstrengung für Deutschland sprach er an. Detailliert trug er dann zu vier Bereichen der militärischen Lage in der Ukraine vor. Insgesamt sieht er dort beide Seiten, die jeweils in einer Stärke von rund 300.000 im direkten Frontbereich engagiert sind, absehbar nicht zu weitreichenden Operationen in der Lage. Im Donbas führen die Streitkräfte der Russischen Föderation derzeit begrenzte Angriffsoperationen durch und machen damit sehr überschaubare, aber kontinuierliche Fortschritte. Die ukrainischen Kräfte können hier absehbar weiterhin erfolgreich verzögern. Als Beispiel führte Lange hier die aktuellen Kämpfe bei Chasiv Yar an, wo ukrainische Truppen die westlich gelegenen Anhöhen halten, und die russischen Kräfte schwere Verluste erleiden beim Versuch, den Siwerskyj-Donez-Donbas-Kanal zu überwinden. Da die russische Seite menschenverachtend hohe Verluste fest einkalkuliert, während die ukrainische Seite die Zerstörung und langsame Preisgabe einzelner Dörfer hinnehmen muss, kann diese Situation voraussichtlich noch sehr lange anhalten. Im Bereich der Krim sieht Lange derzeit den strategischen Schwerpunkt ukrainischer Offensivbemühungen. Hier ist es durch einen gemischten Einsatz von UAV, Marschflugkörpern und inzwischen auch der aus den USA gelieferten ATACMS gelungen, die maritimen Fähigkeiten der Russischen Föderation, ihre Aufklärungs- und Wirkmöglichkeiten erheblich zu reduzieren. Seit Februar 2022 wurden ca. 30% der Schwarzmeerflotte versenkt, der Rest ist weitgehend nach Noworossijsk verlegt. Ziel der russischen strategischen Luftkampagne ist 2024 besonders die ukrainische Rüstung sowie der Energiesektor. Auch die Russische Föderation nutzt dabei einen Mix aus Drohnen, Maschflugkörpern und ballistischen Raketen (inzwischen vielfach aus nordkoreanischer Produktion). Seit 2022 wurden so ca. 50% der ukrainischen Energieindustrie (ca. 8 Gigawatt Kapazität) zerstört. Allerdings zeigt sich auch hier, wie sehr die Kriegswirtschaft der Russischen Föderation am Anschlag arbeitet: Etwa alle 4 Wochen wird die gesammelte Monatsproduktion in einer Angriffswelle eingesetzt.

Wachsende Chancen sieht Lange im ukrainischen Drohnenprogramm: Zunehmend gelingt es hier, in der Tiefe des Raumes der russischen Kriegswirtschaft mehr als nur Nadelstiche zu versetzen, und andererseits ganz konkret die Problematik der von russischen Bombern eingesetzten billigen, jedoch verheerenden Gleitbomben zu adressieren. Wenig gesicherte Air Bases und die dort stationierten Bomber werden angegriffen und beschädigt, aber auch einzelnes Personal nachrichtendienstlich aufgespürt und neutralisiert. Als Fazit betonte Nico Lange erneut, dass bis mindestens 2025 voraussichtlich keine Seite in der Lage sein wird, militärisch eine Entscheidung herbeizuführen. Darauf müssen wir uns in unseren Planungen endlich einstellen. Politisch gibt es keine Möglichkeit, die Lage auf dem Schlachtfeld zu verändern. Was wir jedoch können: Durch Unterstützung (oder auch deren Ausbleiben) einen Einfluss auf die Entwicklung auf dem Schlachtfeld nehmen, welche dann zu einer Änderung der politischen Lage führen wird. Viele der von Nico Lange geduldig und mit dem entsprechenden Hintergrundwissen beantworteten Fragen der Zuhörer bezogen sich auf die politische Dimension der Zeitenwende in Deutschland, seine Einschätzung zur weiteren Entwicklung der Unterstützung, mögliche Erkenntnisse zur Stabilität der innenpolitischen Situation der Russischen Föderation und zu konkreten Optionen einzelner Unterstützungsleistungen und Waffenlieferungen. Im Anschluss dankte Major d.R. Hendrik Krause für den gelungenen Vortragsabend und überreichte Nico Lange einem Präsent. Auch wurde in diesem würdigen Rahmen Feldwebel d.R. Marco Willems für 50-jährige Mitgliedschaft im BundeswehrVerband gedankt, bevor die Veranstaltung bei dem ein oder anderen Kaltgetränk und angeregten kameradschaftlichen Gesprächen ausklang.

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