Wüstner: Truppe braucht Milliarden mehr als geplant
Leere Munitionsdepots, zu wenig Personal und fehlende Strategie: Die Soldaten sind noch lange nicht genug gerüstet, sagte der Bundesvorsitzende, Oberstleutnant André Wüstner, im Interview der Welt. Das Parlament schweigt. Warum nur?
Die Welt: Als Teil des Nato-Schutzprogramms für Osteuropa schickt die Bundeswehr im nächsten Jahr 600 Soldaten nach Litauen, ausgestattet mit Leopard-2-Panzern. Russland spricht im Gegenzug von atomwaffenfähigen Iskander-Raketen, die in Kaliningrad stationiert werden. Wie gefährlich ist die Lage, Herr Wüstner?
André Wüstner: Sie ist gefährlicher als zu Zeiten des Kalten Krieges. Die globale Ordnung ist im Umbruch. Wir haben nicht mehr nur zwei Machtzentren, sondern eine Vielzahl staatlicher und nicht staatlicher Akteure, die sich kaum noch an internationales Recht halten. Rund um Europa liegt ein Feuerring, der sich von der Grenze zu Russland über Afghanistan, Syrien und Irak sowie entlang Nordafrikas zieht. Daher muss sich die Nato, und insbesondere auch die Bundeswehr, wieder mehr denn je auf das volle 360-Grad-Einsatzspektrum ausrichten.
Die Welt: Ist die Bundeswehr für diese Herausforderung mittlerweile ausreichend ausgerüstet? Ministerin von der Leyen spricht ja von Trendwenden, die sie veranlasst hat.
Wüstner: Wir sind mit den eingeleiteten Maßnahmen auf dem richtigen Weg. Aber noch steht das meiste nur auf dem Papier, ausreichend gerüstet sind wir noch lange nicht. Nehmen Sie die Kampfpanzer: Bisher sind nicht einmal die Verträge für die ergänzende Beschaffung von weiteren 100 Leopard 2 unter Dach und Fach. Ich kann nur davor warnen, sich nach den ersten Schritten auszuruhen – und demnächst im Wahlkampf womöglich Nebelkerzen zu zünden, nach dem Motto: Wird schon wieder, wir haben alles Nötige getan. Fakt ist: Es gibt weiterhin enorme Lücken in der Bundeswehr, ob bei den Waffensystemen oder der Personallage. Es wird noch einige Jahre brauchen, um wieder die Einsatzbereitschaft zu erlangen, die angesichts der vielen Kriege, Krisen und Konflikte am Rande Europas nötig ist.
Die Welt: Ob das neue Kampfschiff MKS 180, die Raketenabwehr Meads oder die bewaffneten Drohnen: Viele Rüstungsvorhaben verzögern sich. Werden da bewusst Entscheidungen in die nächste Wahlperiode vertagt?
Wüstner: Das glaube ich nicht. Das Ministerium ist bei Vertragsverhandlungen aufgrund der Pannen der Vergangenheit extrem vorsichtig, fast zu vorsichtig geworden. Das verstehe ich. Nur: Der beste und am längsten verhandelte Vertrag nützt nichts, wenn heute dringend benötigtes Gerät erst in zehn Jahren verfügbar ist. Die Bundeswehr ist nun einmal materiell am unteren Limit. Wir brauchen in den nächsten fünf Jahren einen beschleunigten Zulauf an Ausrüstung, sonst können wir unsere Aufgaben in der Nato und anderweitig nicht mehr so erfüllen, wie es notwendig wäre. Und neben Großgerät dürfen wir die Munitionsbeschaffung nicht vergessen – die Depots sind fast leer. Was helfen Panzer, Flugzeuge oder Schiffe, wenn diese nur Munition für wenige Gefechtstage haben und die Truppe vor Einsatzbeginn nicht im scharfen Schuss üben kann?
Die Welt: Halten Sie die Budgetplanungen für ausreichend, die das Parlament nächste Woche beschließen wird?
Wüstner: Nein. Es muss spätestens für 2018 massiv nachgelegt werden. Die Regierung hat sich auf dem letzten Nato-Gipfel und in ihrem neuen Weißbuch dazu bekannt, international mehr Verantwortung übernehmen zu wollen. Wenn man diesen Versprechungen glaubwürdig nachkommen will, dann wird der Verteidigungsetat bis 2021 nicht wie geplant von derzeit 36,6 auf 39 Milliarden Euro anwachsen müssen, sondern auf rund 45 Milliarden Euro. Noch sehe ich da eine enorme Lücke, Anspruch und Wirklichkeit passen nicht zusammen. Aber die Bereitstellung der Finanzmittel ist eigentlich erst der zweite Schritt.
Die Welt: Was ist der erste?
Wüstner: Das Entwickeln und Kommunizieren einer sicherheitspolitischen Strategie. Insbesondere das Erklären dieser über die Berliner Fachkreise hinaus. Das ist die Grundlage für alles.
Die Welt: Die Regierung hat gerade ein neues Weißbuch beschlossen.
Wüstner: Ja, eben. Und daher verstehe ich nicht, dass der Bundestag nicht über das Weißbuch beraten will. Darin sind die Gründe beschrieben, warum Deutschland, eingebettet im Bündnis, mehr in Diplomatie, Entwicklung und Militär investieren muss. Bei vielen Soldaten ist die Enttäuschung groß, dass die Koalition nun zu feige ist, das im Parlament zu diskutieren. Warum will sich die Politik nicht auf offener Bühne über Sicherheitspolitik, über Strategien und Zielsetzungen unseres Engagements austauschen? Diese Frage treibt die Soldaten um. Deshalb hapert es auch noch an Vertrauen in die Trendwenden.
Die Welt: Wie erklären Sie sich diese Feigheit?
Wüstner: Ich sehe zwei Gründe. Es gibt die Sorge, dass klare Positionen nicht populär sind und deshalb Auswirkungen auf den Wahlkampf im nächsten Jahr haben können. Wir als Verband aber sagen ganz klar: Schweigen über innere oder äußere Sicherheit ist keine Option – es geht um den Kern staatlichen Handelns. Nicht nur die Menschen aus und um die Bundeswehr werden übrigens auch deshalb genau abgleichen, was demnächst in den Partei- und Wahlprogrammen stehen wird. Und weiter: Zwar haben wir jetzt das Weißbuch und auch eine Nato-Strategie für Osteuropa. Für den gesamten Süden, Südosten aber haben wir nichts Greifbares, obwohl der IS weit bedrohlicher als Russland ist. Es fehlen greifbare, regionale Sicherheitsstrategien für Nordafrika, für Syrien und den Irak – zumindest werden sie der Öffentlichkeit nicht erläutert.
Die Welt: Dennoch weitet der Bundestag die Aufgaben der Bundeswehr in dieser Region aus. So sollen jetzt beispielsweise zusätzlich zu Ausbildungs- und Aufklärungskapazitäten noch Rettungs- und Kampfhubschrauber nach Mali geschickt werden. Der Einsatz wächst auf deutlich über 1.000 Soldaten, kommuniziert wird das alles nur häppchenweise – wie einst in Afghanistan. Sehen Sie Parallelen?
Wüstner: Teilweise, ja. Erstens ist das der gefährlichste Einsatz, mit dem wir derzeit zu tun haben – komplexer sogar noch als Afghanistan. Zweitens gehen wir in der Bundeswehr schon seit Monaten fest davon aus, dass wir diese Hubschrauber nach Mali bringen werden. Wir wissen doch, dass diese Fähigkeit international nur sehr wenige Nationen stellen können und derzeit niemand dazu bereit oder in der Lage ist. Warum also dieses Herumgeeier? Es geht mir aber gar nicht so sehr um diese Hubschrauber.
Die Welt: Sondern?
Wüstner: Gerade läuft die Verlegung der Heron-Drohnen, nach der politischen Entscheidung kommen die Hubschrauber. Es sind bereits Aufklärung, Sanität, Führungsunterstützung im Norden – neben der EU-Ausbildungsmission im Süden. Das alles wird einen weiteren Logistik-Hub nach sich ziehen. Wir sind dann ein elementarer Bestandteil der UN-Mission in Mali. Ich sehe die Gefahr eines „mission creep“, dass wir also irgendwann so viele elementare Aufgaben übernommen haben, dass ein Abzug schwierig wird – selbst wenn dies aufgrund der Überdehnung unserer Streitkräfte notwendig wäre. Und ganz nebenbei, kennen Sie eine ressortübergreifend abgestimmte Zielsetzung, operationalisiert für Entwicklung, Regierungsführung oder Sicherheit der Region für die nächsten fünf bis zehn Jahre? Ich nicht.
Die Welt: Im November wird für die Bundeswehr mit den Awacs-Aufklärungsflugzeugen ein zweites Mandat in der Türkei hinzukommen. Wie wichtig ist es den Soldaten, dass die Bundestagsabgeordneten sie besuchen können?
Wüstner: Es ist schon wichtig, dass unsere Parlamentarier sich selbst von Zeit zu Zeit ein Bild von der Einsatzrealität verschaffen. Wir hatten jetzt erst einen Besuch, daher sehen die Soldaten vor Ort keinen Mehrwert, wenn jetzt zeitnah weitere Abgeordnete einfliegen würden.
Die Welt: Es gibt aktuell mehr als ein Dutzend Auslandseinsätze, Tausende Soldaten müssen samt Material ständig transportiert werden. Wie sieht es mit der Kapazität des Lufttransports aus?
Wüstner: Der Lufttransport ist für alle Nationen in Europa eine große Herausforderung. Deutschland hat Schwierigkeiten mit der Auslieferung des A400M, der den Oldie Transall ablösen soll. Es gibt auch deshalb jetzt eine deutsch-französische Initiative, zusätzliche C-130J aus Amerika zu kaufen.
Die Welt: Wie bewerten Sie die Anschaffung der C-130J? Die müsste im Jahr 2021 einsatzbereit sein. Dann soll die Transall ausgemustert werden.
Wüstner: Für uns geht es grundsätzlich um die Fähigkeit, nicht um einen spezifischen Flugzeugtyp. Das angestrebte Projekt mit Frankreich ist unter anderem für den Einsatz von Spezialkräften von Bedeutung. Wie ich höre, sind die Verhandlungen nicht so banal, wie man es erwartet hat. Wir brauchen aber auch hier schnelle Entscheidungen, um die dafür notwendigen personellen, Stichwort Ausbildung, und materiellen Strukturen auf den Weg zu bringen.
Die Welt: Halten Sie im Notfall eine noch spätere Ausmusterung der Transall für vorstellbar?
Wüstner: Nein. Das Muster ist so alt, dass es irgendwann nicht mehr verantwortbar ist, das Flugzeug einzusetzen. Die Fachleute sagen mir, es sei jetzt schon grenzwertig. Über 2021 hinaus kann ich mir das wirklich nicht vorstellen.
Die Welt: Auch beim Personal hat Ministerin Ursula von der Leyen eine Trendwende ausgerufen. Die Entwicklung der Truppenstärke aber stagniert seit Monaten. Warum geht es nicht voran?
Wüstner: Die Bundeswehr war im freien Fall. Jetzt ist die Ministerin in die Bremse getreten, hat einen Stillstand erreicht und versucht nun, in die andere Richtung zu drehen. Wir sind derzeit zwar erstmals wieder leicht im Aufwuchs. Ob wir die anvisierten 170.000 Berufs- und Zeitsoldaten bis Ende 2016 schaffen, das sei dahingestellt. Es geht auch nicht nur um die Quantität. Problematisch wird es vor allem, Fachkräfte zu gewinnen, daher wartet alles auf eine längst angekündigte Personalstrategie für die Bundeswehr und deren Umsetzung.
Die Welt: Um beispielsweise die Lücken in der Marine zu schließen?
Wüstner: Ja, denn unsere Marine steckt in einem Teufelskreis. Wenige Schiffe, wenig Personal für immer mehr Einsatzaufträge. Daraus resultierende Unplanbarkeiten für die Besatzungen werden zum Attraktivitätskiller, der durch alle sozialen Netzwerke geistert. Die Lösung ist da entweder ein Einsatzstopp oder mehr Schiffe, aber auch eine kräftige Zulagenerhöhungen für die Seefahrer, die jährlich sieben oder acht Monate unterwegs sind. Es bleibt also noch viel zu tun, und wir haben aufgrund der enorm gewachsenen Bedrohungslage keine Alternative.
Interview: Von Thorsten Jungholt, Tim Röhn, welt.de, 31. Oktober 2016
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