„Verantwortung für Afghanistan-Desaster ist unteilbar“
War die Katastrophe in Kabul und im Rest des Landes am Hindukusch zu verhindern? Wie erleben Beteiligte die Situation in der afghanischen Hauptstadt? Flieht die deutsche Politik vor der Verantwortung? Auf diese Fragen suchten die Gäste der Sendung „Maybrit Illner Spezial“ im ZDF Antworten. Gefragter Experte in der Sendung: Der Bundesvorsitzende Oberstleutnant André Wüstner. Er diskutierte unter anderem mit Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen, und dem stellv. Vorsitzenden der CDU/CSU Bundestagsfraktion, Johann Wadephul.
Viele Anrufe aus Afghanistan, insbesondere von Ortskräften, aber natürlich auch wütende Afghanistan-Veteranen, die eine unzureichende politische Kommunikation erleben und die Frage stellen: War das alles 20 Jahre Einsatz am Hindukusch und 59 Gefallene der Bundeswehr wert? So beschreibt der DBwV-Bundesvorsitzende André Wüstner die Reaktionen, die aktuell aus der Mitgliedschaft und aus Afghanistan den Verband erreichen.
Wüstner: „Der Generalinspekteur hat bereits im April militärische Pläne entwickeln lassen, wie afghanische Ortskräfte nach Deutschland geholt werden können, die lagen in der Schublade.“ Doch es sei nicht die Entscheidung der Streitkräfte, wann man evakuiert – das sei eine politische Frage. „Und da war man zu spät. Das macht wütend, das beschreibt das aktuelle politische Desaster und das muss diskutiert werden.“ Verstörend sei, dass Verantwortung und Konsequenz nur bedingt thematisiert würden, so Wüstner. „Wir sind in den Streitkräften so sozialisiert, dass Verantwortung unteilbar ist. Verantwortung und Konsequenz gehören zusammen. Es ist eine Frage der Ehre, wie man damit umgeht.“
Johann Wadephul, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion, glaubt, dass die Mission der Bundeswehr in Afghanistan auch eine Erfolgsgeschichte ist: „Die Bundesrepublik hat einen schwierigen Einsatz absolviert, der erfolgreich war, insbesondere am Anfang. Wir haben gemeinsam mit den Vereinigten Staaten, mit den Alliierten, Terrorismus bekämpft.“ Für viele Menschen in Afghanistan seien es 20 gute Jahre gewesen, aber das Ende sei unwürdig. Deutschland und auch die anderen verbündeten Nationen seien durch die Entscheidung, Afghanistan schnell zu verlassen, unter Druck gesetzt worden und nur unzureichend beteiligt und informiert worden. „Das ist ein Punkt, den wir auch im Bündnis besprechen müssen.“
Die Berichte aus Kabul, der Bilder von Kindern, die über den Flughafen laufen und versuchen, sich irgendwie in Sicherheit zu bringen, ließen niemanden kalt, betonte Annalena Baerbock, Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. „Deswegen hat für mich oberstes Gebot, dass der Bundesaußenminister, die Verteidigungsministerin, der Innenminister, aber auch die Bundeskanzlerin jetzt alles dafür tun, so viele Menschenleben wie möglich zu retten.“
Deutschland stehe jetzt in Gänze in Verantwortung, sagt Baerbock. Trotz der vielen Warnungen habe man sich politisch bewusst gegen eine rechtzeitige Evakuierung der Ortskräfte entschieden. Jetzt mache sich die Bundesrepublik erpressbar. Ausdrücklich bedankte sich Baerbock bei den Menschen in der Bundeswehr, die über ein Patenschaftsprogramm versucht hätten, sichere Häuser für die Ortskräfte und ihre Familien zu schaffen.
„Das afghanische Problem ist unlösbar“ - Altkanzler Helmut Schmidt warnte schon vor Jahren vor einem Scheitern des Einsatzes am Hindukusch.
Man dürfe sich bei der Rettung nicht nur auf Ortskräfte des Militärs beschränken, rief Wüstner auf. Auch im Bereich des Auswärtigen Amtes, im Bereich der Stiftungen und im Bereich der Entwicklungshilfe gebe es viele gefährdete Menschen. Er fügte hinzu: „Die Fallschirmjäger, das viel gescholtene Kommando Spezialkräfte, die holen jetzt wieder mal die Kohlen aus dem Feuer. Aber das ist ja auch eine unsägliche, chaotische Situation, hochgefährlich und sehr belastend nicht nur mit Blick auf die Gefahrenlage, sondern auch belastend, weil man entscheiden muss, Menschen, die einem gegenüberstehen, mitzunehmen, oder nicht.“
Souad Mekhennet, Sicherheitskorrespondentin der „Washington Post“, klagt an, dass man nicht bereits seit der Bekanntgabe der Abzugspläne durch die USA damit begonnen habe, die Ortskräfte sukzessive aus dem Land herauszuholen: „Was haben wir eigentlich die letzten 20 Jahre in Afghanistan getan?“ Das müsse man sich auch in den USA fragen angesichts dessen, dass weder die afghanische Armee noch die Polizei in der Lage waren, die Taliban zu bekämpfen. „Man hat den Taliban sehr großes Pfund überlassen, nämlich Menschenleben. Man wird jetzt verhandeln müssen mit den Taliban, die in Kabul das Sagen haben, und man hat sich erpressbar gemacht.“ Gruppierungen wie Al-Qaida würden so wieder Aufwind bekommen.
Wie lebensgefährlich die Lage für Ortskräfte und Helfer in Afghanistan ist, davon berichtete die ZDF-Korrespondentin Katrin Eigendorf hautnah. Sie war erst vor wenigen Wochen im Land, um die Not der Menschen zu beschreiben. „Ich bin in Kontakt mit einem Dolmetscher, der mit seiner Familie seit drei Tagen durch Kabul irrt und versucht, in den Flughafen zu gelangen. Aber dort werden sie von den Amerikanern abgewiesen. Wo ist da eine Strategie? Ich kenne diese Strategie nicht.“
Erst vor wenigen Tagen von der Bundeswehr ausgeflogen ist Patouni Izzaqzai-Teichmann, Vorsitzende der Afghan German Association. Ihr Weg zum Flughafen war ein Alptraum: „Die Menschen auf der Straße hatten panische Angst, es wurde in die Luft geschossen. Am Flughafen warteten Tausende Menschen – Frauen, Kinder, Kranke – es war schrecklich. Patouni Izzaqzai-Teichmann hatte Glück. „Ohne die Botschaft und die Bundeswehr wäre vielleicht nicht mehr am Leben.“ Dennoch habe man viele Menschen zurücklassen müssen.
Für den Bundesvorsitzenden André Wüstner steht fest, dass die künftige Bundesregierung endlich eine klare Strategie für den Einsatz der Bundeswehr und das Handeln bei internationalen Krisen haben müsse: „Was folgern wir für das sicherheitspolitische Engagement Deutschlands und der westlichen Gemeinschaft für die Zukunft? Wir blicken jetzt alle mit dem Brennglas auf Afghanistan, das ist derzeit von elementarer Bedeutung. Aber genauso wichtig ist es, dass eine zukünftige Regierung endlich einmal strategiefähig sein muss. Nach der Bundestagswahl hoffe ich, dass Sicherheitspolitik eine wesentliche Rolle spielt und dass mit anderen Ansätzen agiert wird, als wir es heute tun.“