Unerträglicher Zustand
Nein: Es passt einfach nicht zusammen. In ihren Sonntagsreden sprechen unsere Politiker so gerne von der inneren und äußeren Sicherheit als Kern staatlichen Handelns. Doch wenn man sich die entsprechenden Instrumente dafür anschaut – Nachrichtendienst, Polizei, Bundeswehr – so stellt man fest: Seit Jahren werden sie von den jeweiligen Bundesregierungen verkleinert und ausgehöhlt. Immer waren die Schwerpunkte andere. Wir, die Menschen der Bundeswehr, können seit 1990 ein Lied davon singen, was es bedeutet, Opfer für die Sanierung des Bundeshaushaltes oder für andere Krisen bringen zu müssen.
Und auch die letzte große – und immer noch laufende – Reform unter den Ministern zu Guttenberg und de Maizière war von Sparauflagen getrieben, ohne dass man sich vorher mit einer vernünftigen Aufgabenkritik aufgehalten hätte. Sehr schnell wurde damals über das OB und noch schneller über das WIE einer Neuausrichtung entschieden. Wie fehlerhaft das WOFÜR von damals war, wird jetzt immer greifbarer. Die Auswirkungen erleben wir aktuell: Wissensverlust und teilweise hohle materielle und personelle Strukturen. Den Modernisierungs- oder Sanierungsstau beschrieb unser Wehrbeauftragter zuletzt mit dem Satz: "Der Bundeswehr fehlt es an fast allem".
Das ist ein unerträglicher Zustand, betrachtet man die immer weiter wachsenden Anforderungen an die Bundeswehr und den Trend zur Dauerwahrnehmung von der Bundeswehr originär nicht zugeordneten Aufgaben – von Ebola über die Seenotrettung im Mittelmeer bis zur aktuellen Flüchtlingshilfe. Die Bundeswehr soll künftig der zentrale Stabilitätsanker der NATO in Europa sein und schneller als je zuvor an den Außengrenzen des Bündnisgebietes wirksam werden. Das ist auch mehr als verständlich, wenn man die seit wenigen Jahren bedrohliche Stärkung und Modernisierung des russischen Militärs und das Agieren Putins betrachtet. Zusätzlich sollen unsere Streitkräfte mehr denn je den Kampf gegen islamistische Terrorgruppen führen und Ausbildungsmissionen zur Ertüchtigung geschwächter staatlicher Sicherheitsorgane unterstützen, idealerweise, bevor die betreffenden Staaten zerfallen.
Wer die Analysen und Grundlagenpapiere zur Neuausrichtung der Bundeswehr von 2011 liest, der wird feststellen, dass diese wenig mit der heutigen sicherheitspolitischen Wirklichkeit zu tun haben. Noch immer dauert das deutsche Engagement in Afghanistan an, stärker als zuvor ist die Bundeswehr in Mali und im Nordirak aktiv und sie beteiligt sich neuerdings auch am Kampf gegen den IS über Syrien. Zugleich erfüllt sie in zunehmendem Maße Dauereinsatzaufgaben im Baltikum und einsatzgleiche Verpflichtungen. Verteidigungsministerin von der Leyen ist daher auf dem richtigen Weg, wenn sie am Anfang des zweiten Quartals die im Koalitionsvertrag verabredete Aufgabenkritik sowie die Evaluierung der Neuausrichtung endlich abschließt und ableitet, welcher Entscheidungsbedarf sich daraus ergibt – auch mit Blick auf die in Arbeit befindliche Personalstrategie. Wollen wir hoffen, dass sie und die Koalition als Ganzes den Mut auch für möglicherweise politisch unpopuläre Entscheidungen haben – nämlich für eine spürbare Trendumkehr in puncto Personal, Material und Haushalt.
Für uns im DBwV ist bereits jetzt klar, dass die 2011 festgelegten Obergrenzen von 55.000 zivilen Beschäftigten und 170.000 Zeit- und Berufssoldaten flexibilisiert und erhöht werden müssen, schon um allein die heutigen Anforderungen an die Bundeswehr verlässlich erfüllen zu können. Entgegen anderslautenden Kommentierungen von der Seitenlinie ist die Bewerberlage bis auf einzelne Fachbereiche immer noch weit mehr als befriedigend. Und selbst mit Blick auf einzelne Mangelberufe könnten durch wenige gezielte Attraktivitätsmaßnahmen oder Kooperationsmodelle mit der Wirtschaft Lösungen erarbeitet werden. Insgesamt muss endlich wieder gelten: Wo Heeresdivision, Luftwaffengeschwader oder Einsatzflottille drauf steht, muss auch das komplett einsatzbereite Personal und Material drin sein.
Wer weiß, dass einzelne Einheiten oder Verbände zwar mit einem Federstrich aufgelöst werden können, man aber Jahre braucht, um verlorene Fähigkeiten wieder aufzubauen, der versteht, dass 2016 das Jahr der Entscheidung für die materielle und personelle Stärkung der Bundeswehr werden muss. Ein weiteres Aufschieben wäre grob fahrlässig und würde unserer Verantwortung in der internationalen Sicherheitsarchitektur und dem Satz "innere und äußere Sicherheit sind Kern staatlichen Handelns" immer weiter die notwendige Grundlage entziehen. Innenpolitisch erleben wir nach einem grauenvollen Realitätscheck in der Silvesternacht zu Köln jetzt wie so oft die politische Diskussion um Verantwortung, Fehler und Schuldzuweisungen – nichts davon hilft den Opfern und nur wenig davon hilft, verloren gegangenes Vertrauen in den Staat wieder aufzubauen. Ein vergleichbar ausfallender sicherheitspolitischer Realitätscheck im Kampf gegen den internationalen Terrorismus oder an den Bündnisgrenzen wäre – sowohl für das Image unseres Landes als verantwortungsbewusste Führungsnation als auch für unsere unmittelbare Sicherheit – eine Katastrophe. Die NATO und mit ihr unsere Bundeswehr darf keinesfalls ihr sicherheitspolitisches Köln erleben! Daher muss nun zügig die Modernisierung und Stärkung der Einsatzbereitschaft unserer Bundeswehr vorangetrieben werden. Mit Blick auf die aktuellen Umfragen hat dies unsere Bevölkerung verstanden. Hoffen wir, dass es auch unsere Politiker verstehen.
- Veröffentlicht am 01.02.2016 im "Behörden Spiegel Online"