Beim Atlantic Talk in Berlin: Moderator Werner Sonne, Politikwissenschaftler Prof. Dr. Dr. Hans-Joachim Gießmann, Dr. Magdalena Kirchner, der Leiterin des Kabuler Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung, Clemens Hach, Referatsleiter Krisenprävention/Stabilisierung im Auswärtigen Amt, un der DBwV-Bundesvorsitzende Oberstleutnant André Wüstner.

Beim Atlantic Talk in Berlin: Moderator Werner Sonne, Politikwissenschaftler Prof. Dr. Dr. Hans-Joachim Gießmann, Dr. Magdalena Kirchner, Leiterin des Kabuler Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung, Clemens Hach, Referatsleiter Krisenprävention/Stabilisierung im Auswärtigen Amt und der DBwV-Bundesvorsitzende Oberstleutnant André Wüstner.

02.09.2021
Yann Bombeke

„Ein Horrorszenario, das kaum zu händeln war“

„Afghanistan – krachend gescheitert?“ – eine Frage, die sich viele Menschen stellen, nachdem nach 20 Jahren Einsatz des Westens am Hindukusch die Taliban innerhalb weniger Wochen die Kontrolle über das Land übernehmen konnten. Bei der Atlantic Talk Onlinediskussion der Deutschen Atlantischen Gesellschaft e.V. wurde genau darüber gesprochen. Als gefragter Experte in der Runde: Oberstleutnant André Wüstner.

Der DBwV-Bundesvorsitzende diskutierte dabei mit dem Politikwissenschaftler Prof. Dr. Dr. Hans-Joachim Gießmann, Dr. Magdalena Kirchner, der Leiterin des Kabuler Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung, und Clemens Hach, Referatsleiter Krisenprävention/Stabilisierung im Auswärtigen Amt.

In der vom Journalisten Werner Sonne moderierten Runde machte Oberstleutnant Wüstner klar, dass der schnelle Zusammenbruch der afghanischen Sicherheitskräfte für ihn nicht wirklich überraschend gekommen sei. In den Lageberichten der Kontingentführer seien die Risiken und Bedrohungen klar beschrieben gewesen. Auch im Bericht der Bundesregierung an das Parlament im Jahre 2018 seien die Risiken eines zu schnellen Abzugs von Militär, aber auch der Entwicklungsunterstützung, beschrieben gewesen. „Man hat auch beschrieben, dass es zu einem Zusammenbruch des Sicherheitssektors kommen kann.“ Wüstner warf die Frage auf, warum man sich nicht auf ein solches Worst-Case-Szenario vorbereitet habe. Überraschend sei, warum die Bundesregierung so überrascht gewesen sei, so der Bundesvorsitzende.

„Viele im Westen haben nur auf die jungen urbanen Eliten geschaut“, sagte Gießmann. Dabei habe die afghanische Regierung auf dem Land viel weniger Rückhalt gehabt. Viele Investitionen des Westens in Afghanistan seien zudem für die Bevölkerung nicht sicht- und spürbar gewesen. „Die Fortschritte, die wir im Westen gesehen haben, decken sich nicht mit der Situation im Lande.“ Die Sicherheitskräfte seien nicht mehr bereit gewesen, sich vor eine Regierung zu stellen, von der man enttäuscht war. Kirschner fügte hinzu, dass selbst die Eliten in Afghanistan nicht richtig hinter dem Projekt des Westens gestanden hätten. Clemens Hach gab die Sichtweise des Auswärtigen Amts wieder: „Wir haben das Risiko gesehen, dass so etwas passieren kann, aber niemand hat vorhergesehen, dass es so schnell geschehen würde.“

Elementar: Die Strategiefähigkeit der Bundesregierung

Anschließend warf Moderator Sonne die Frage des Lessons Learned auf – was kann man aus dem Desaster für die Zukunft ableiten? Hach mahnte zu mehr Bescheidenheit in Bezug auf das, was ausländische Akteure in solchen Krisenregionen erreichen können. Die Ziele müssten dabei sehr viel klarer definiert werden.

„Ich hoffe, dass der Prozess zu Lessons Learned in der Regierung nicht nur möglichst schnell angegangen wird, sondern auch beendet wird“, sagte Wüstner. Elementar sei dabei die Strategiefähigkeit der Regierung. Strategische Ziele zu entwickeln heißt für Wüstner, auch die dafür notwendigen Ressourcen im Blick zu haben. Schon beim Weißbuchprozess 2016 habe der DBwV das Optimieren von Strukturen und Prozessen mit Blick auf den vernetzten Ansatz gefordert.

Aus diesem Grund hält Wüstner auch die nun wieder angestoßene Diskussion über einen Nationalen Sicherheitsrat für richtig. „Wir haben mit Blick auf die Pandemie oder länderübergreifende Katastrophen schon erkannt, dass ein Mehr an Koordination ressortübergreifend notwendig ist“, sagte der Verbandschef. Strukturen und Prozesse könnten auf jeden Fall optimiert werden, dabei sei es gleich, ob man von einem Bundesicherheitsrat oder einem Nationalen Sicherheitsrat spreche.

"In anderen Regionen könnten sich Dinge ähnlich entwickeln wie in Afghanistan"

Wüstner warf zudem die Frage auf, ob das in Afghanistan, aber auch in Mali praktizierte Ausbildungskonzept des TAA (Train, Advise, Assist) ein tragfähiger Ansatz sei. In den Streitkräften anderer Kulturregionen wüssten die Angehörigen der Armeen manchmal nicht genau, wofür sie eigentlich kämpfen und ob sie dauerhaft bezahlt werden. Wüstner warnte: „Diese Fragen müssen wir kritisch stellen und überlegen, ob das der richtige Ansatz ist. Ich hoffe, dass wir schnell Antworten bekommen, weil sich in anderen Regionen Dinge ähnlich entwickeln könnten wie in Afghanistan.“

Mit Blick auf die afghanischen Ortskräfte kritisierte der Bundesvorsitzende die Kriterien, die für die Gestaltung der Listen herangezogen werden. In der politischen Kommunikation habe man immer wieder unterschiedliche Kriterien gehört – ob die Ortskräfte etwa aufgenommen werden sollen, die in den vergangenen zwei, drei oder 20 Jahren für Deutschland gearbeitet haben.

Am Flughafen von Kabul sei der Listenabgleich „Wahnsinn“ gewesen, so Wüstner. „Aus meiner Sicht war das ein Horrorszenario, das kaum zu händeln war“, sagte der Bundesvorsitzende. Die Menschen hätten teilweise mit viel Gewalt in Richtung Flughafen gedrückt. Wüstner sprach von einer „großen Herausforderung für alle Ressorts, die dort im Einsatz waren“.

Die vollständige Podiumsdiskussion der Deutschen Atlantischen Gesellschaft finden Sie hier.

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