13.05.2022
Von Katja Gersemann

Raus aus den Fachzirkeln

Sicherheitspolitische Diskussionen müssen endlich breit geführt werden, fordert der zweite Stellvertretende Bundesvorsitzende des Deutschen BundeswehrVerbandes, Oberstleutnant i.G. Marcel Bohnert, im Interview – als erster Schritt auf dem Weg zu einer echten Veteranenkultur in Deutschland.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat den Fokus der Politik auch auf die eigene Verteidigungsbereitschaft gelenkt. Die Bundesregierung will plötzlich Summen in die Bundeswehr stecken, die noch vor wenigen Monaten unvorstellbar waren. Bundeskanzler Scholz sprach von einer Zeitenwende. Ist das deutsche Unbehagen allem Militärischen gegenüber nun dauerhaft gewichen oder sehen wir vielmehr eine Momentaufnahme?

Oberstleutnant i.G. Marcel Bohnert: Ich sehe das Momentum, die Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Bundeswehr und Gesellschaft neu auszugestalten. Für das 100-Milliarden-Paket gab es in Bevölkerung und Politik große Zustimmung. Allerdings zu einer Zeit, in der der Schock des russischen Überfalls noch sehr tief saß. Die eigene Verwundbarkeit war plötzlich greifbar.

Die Tragweite dieser Zäsur können wir in ihrer gesamten Dimension noch immer nicht absehen. Wie die derzeitigen Debatten zeigen, gleiten wir – je länger der Krieg in der Ukraine dauert – jedoch offenbar wieder zurück in alte Denk- und Verhaltensmuster. Der frühere Verteidigungsminister Thomas de Maizière hat es vor Jahren so formuliert: „Wir leben in einer zutiefst pazifistischen Gesellschaft mit einer Grundskepsis gegenüber allem Militärischen.“ Das fasst meiner Meinung nach das generelle Unbehagen oder zumindest die Indifferenz der Bevölkerung gegenüber Soldaten sehr treffend zusammen – auch heute noch. Das hat historische Gründe, die völlig nachvollziehbar und vernünftig sind. Diese Einstellung und die spürbare intellektuelle Überheblichkeit gegenüber Militärs sind aber aus meiner Sicht nicht angemessen, wenn man berücksichtigt, was Soldatinnen und Soldaten tagtäglich leisten. Und in der heutigen sicherheitspolitischen Lage sind sie sicherlich auch grundsätzlich der falsche Ansatz.

Immerhin hat sich seit de Maizière einiges zum Guten gewendet, was Anerkennung und Wertschätzung angeht…

Es gab in den letzten Jahren kleine Schritte, die Bundeswehr und Bevölkerung wieder zusammengebracht haben. Die Amtshilfeeinsätze in der Pandemie und nach dem Hochwasser sind hier natürlich an erster Stelle zu nennen. Ganz wichtig war auch die Einführung des kostenlosen Bahnfahrens in Uniform. Vorher waren Uniformen in der Gesellschaft kaum noch präsent. Nun sind sie wieder überall zu sehen. Das rückt die Bundeswehr wieder ins Bewusstsein vieler Menschen.

Andere Länder haben eine deutlich ausgeprägtere Veteranenkultur. Werden wir da aufschließen können?

Was Versorgung und Fürsorge angeht, gab es in Deutschland seit Beginn der Auslandseinsätze enorme Fortschritte, wir haben ein hohes Niveau erreicht – auch wenn es an manchen Stellen noch Verbesserungsmöglichkeiten gibt. Da schneiden wir auch im internationalen Vergleich gut ab.

Eine Kultur der Anerkennung und Wertschätzung von Veteranen, wie sie etwa in den Niederlanden oder in den USA und in vielen anderen Ländern selbstverständlich ist, ist hier allerdings tatsächlich nicht zu finden. Da liegt noch einiges an Arbeit vor uns.

Eine Veteranenbewegung existiert in Deutschland vor allem als Graswurzelbewegung. Da haben wir zum Beispiel die K-Märsche: Beim diesjährigen „12K3“, bei dem zwölf Kilometer in Gedenken an die drei Gefallenen des Karfreitagsgefechtes in Afghanistan marschiert wurden, haben über 5.000 Menschen teilgenommen. Es gibt den „Marsch zum Gedenken“ und auch der Sportwettkampf „Good Friday Battle“ wächst von Jahr zu Jahr. Erwähnen lässt sich auch noch die Initiative #DerLeereStuhl: Familien lassen jedes Jahr zu Weihnachten einen Platz an ihren Tafeln frei, um so an Gefallene der Bundeswehr zu denken und Solidarität mit Einsatzveteranen und Hinterbliebenen zu demonstrieren.

Diese und andere Initiativen zeigen, dass es auch hierzulande einen Bedarf für Veteranenkultur gibt. Da entsteht gerade etwas. Ich bin davon überzeugt, dass es wichtig ist, diese Ansätze zu kanalisieren – und von Seiten des Deutschen BundeswehrVerbandes, auch im Austausch mit jüngeren Veteranenverbänden, mitzugestalten. Wir alle dürfen es nicht zulassen, dass der Begriff „Veteranen“ von den politischen Rändern, von Radikalen oder Extremisten besetzt wird.

Was können wir von anderen Ländern konkret lernen, was würde die Veteranenkultur in Deutschland wirklich voranbringen?

Woran es hierzulande ganz besonders hapert, sind nach meiner Wahrnehmung Veranstaltungen mit Symbolwert, wie etwa Militärparaden, Rückkehrer-Appelle oder öffentlichen Verleihung von Medaillen und anderen Auszeichnungen. Im Idealfall unter Beteiligung der Öffentlichkeit. Wenn das dann nach der Beendigung eines Einsatzes noch von einer gründlichen Evaluation begleitet wird, wäre das nur angemessen. Das ist in anderen Ländern Standard. Die Entstehung einer gesunden Veteranenkultur setzt eben eine ernst gemeinte Veteranenpolitik voraus.

Seit vielen Jahren fordert der Deutsche BundeswehrVerband auch die Einführung eines Veteranentages. Das sehen auch viele jüngere Veteranenverbände in Deutschland so. Mit dem Bund Deutscher EinsatzVeteranen und dem Combat Veteran e.V. haben wir bereits Sondierungsgespräche und einen Workshop durchgeführt und unsere Positionen abgeglichen. Nun wollen wir sie nach und nach mit den kleineren Vereinen abstimmen. Mein Ziel: Den Veteranen-Anliegen soll noch mehr Nachdruck verliehen werden. Ob der Veteranentag am Ende der 20. Juli sein wird, der Tag der Bundeswehr, der Karfreitag oder der 2. April, also der Tag des Karfreitagsgefechts – das kann man noch diskutieren. Wichtig ist, ihn überhaupt zu etablieren. Auch bei anderen Forderungen beginnen wir derzeit uns mit anderen Verbänden abzugleichen, um eine möglichst große Breitenwirkung zu erzielen.

Wo gibt es weitere Schnittmengen mit den jüngeren Veteranenverbänden?

Der Forderung nach einer prominenten Schirmherrschaft stimmen viele zu. Im Idealfall sollte der Bundespräsident diese Aufgabe übernehmen. Die Politik muss das Thema aufgreifen und voranbringen. Und im Bundesministerium der Verteidigung muss aus unserer Sicht ein „Veteranengeneral“ mit einem leistungsfähigen Arbeitsmuskel die Veteranenangelegenheiten voranbringen. Daneben wäre es eine große Hilfe, einen Botschafter für Veteranenthemen als Scharnier zwischen Ministerium und Gesellschaft zu etablieren. Dr. Peter Tauber war zum Beispiel als Parlamentarischer Staatssekretär wegen seiner großen Nähe zu Soldatinnen und Soldaten sehr beliebt und hoch anerkannt – eine solche Gallionsfigur bräuchte die Bewegung.

Ganz wichtig ist aus unserer Sicht auch die Förderung der öffentlichen Debatte, etwa durch Ausstellungen oder die Teilnahme von Veteranenvertretern in Talkshows oder auf Podiumsdiskussionen. Ein Förderpreis für Veteranenarbeit würde die öffentliche Aufmerksamkeit zusätzlich auf gute Initiativen lenken. Entscheidend sind zudem Begegnungsstätten im öffentlichen Raum. All das trifft auch bei anderen Verbänden auf Zustimmung. Ich tausche mich zu all diesen Themen auch mit vielen anderen Keyplayern aus, etwa mit Vertretern der Militärseelsorge und dem Bundesministerium der Verteidigung oder Verwundeten und Hinterbliebenen. Ein Termin mit dem Präsidenten des Reservistenverbandes ist bereits anvisiert, Termine mit kleineren Verbänden folgen nun nach und nach. Wir müssen im Idealfall jetzt alle an einem Strang ziehen. Im September 2023 finden die Invictus Games in Deutschland statt. Die Aufmerksamkeit, die die Veteranenangelegenheiten rund um diese Spiele für Einsatzveteranen, Verwundete und Traumatisierte erzeugen werden, müssen wir nutzen, um unsere Forderungen und die Bewegung voranzubringen.

Sie haben im April die Invictus Games in Den Haag besucht. Welche Eindrücke und Erkenntnisse haben Sie von dieser Veranstaltung mitgenommen?

Ich habe einen guten Eindruck davon, was uns erwartet, wenn die Spiele im nächsten Jahr in Düsseldorf stattfinden. Die Veranstaltung in Den Haag war zutiefst beeindruckend – all diese Menschen, die sich trotz ihrer seelischen und körperlichen Verletzungen ins Leben zurück kämpfen und gekämpft haben. Ich hoffe sehr und bin zuversichtlich, dass wir das 2023 in Deutschland mindestens genauso gut hinbekommen. Das wäre eine echte Chance für unsere Veteranenkultur.

Wir haben in Deutschland nach wie vor die Situation, dass manche Schulen Jugendoffiziere ablehnen. Und an nicht wenigen Universitäten gelten Kooperationsverbote mit der Bundeswehr. Glauben Sie, dass sich vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse hier etwas nachhaltig verändern wird?

Die Bundeswehr lässt sich seit Jahrzehnten diese und ähnliche Herabwürdigungen aus gesellschaftlichen Kreisen gefallen, ohne dagegen nachträglich eine Stimme zu erheben. So etwas muss öffentlich thematisiert und diskutiert werden, das kann nicht einfach so hingenommen oder sogar noch gefördert werden. Ich erinnere an den Aachener Friedenspreis, der 2013 an Schulen verliehen wurde, die den Ausschluss von Jugendoffizieren beschlossen hatten. Ein Tiefpunkt war auch der Ausschluss der Bundeswehr von der Messe re:publica 2018. Man muss aber gar nicht so weit zurückblicken: Vor wenigen Wochen wurden Soldaten und Gäste an einem Pop Up-Store der Bundeswehr in Stuttgart mit roter Farbe überschüttet und verbal beschimpft und beleidigt. Ein gesamtgesellschaftliches Umdenken, das durch den russischen Angriff möglicherweise eingesetzt hat, kann solche Tiefpunkte künftig hoffentlich verhindern. Auf jeden Fall hilft schon einmal, wenn sicherheitspolitische Diskussionen nicht mehr länger nur in Fachzirkeln geführt werden. Das hat Potenzial für die Entwicklung einer Kultur der Anerkennung und Wertschätzung, die wir alle unseren Soldatinnen und Soldaten mit ihren Familien – insbesondere denen, die in ihrer Dienstzeit große Opfer gebracht haben – schuldig sind.

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