Invictus-Athlet Vocko: „Ich will alles immer positiv sehen. Aber in sich Hineinfressen bringt nichts.“
1638 Tage, mehr als vier Jahre, ist Vocko in Einsätzen gewesen. Der Luftlandesanitäter, seit 1996 bei der Bundeswehr, liebt seinen Beruf. Aber auf einige Erlebnisse hätte er gerne verzichtet. Erfahrungen, die er nicht vergessen kann und die zu seiner PTBS geführt haben. Dass er vom 16. bis 22. April an den Invictus Games in Den Haag teilnimmt, ist für ihn Auftrag und Anerkennung zugleich. Weil der Fallschirmjäger die Privatsphäre seiner Familie schützen möchte, benutzen wir seinen Spitznamen.
Seinen Auftrag bei den Invictus Games sieht Vocko so: „Zu zeigen, dass es Menschen gibt, die nicht mehr perfekt funktionieren, aber trotzdem Menschen sind.“ Das ist auch der Geist der Invictus Games: Über 500 Soldaten und Soldatinnen aus 20 Nationen kommen zusammen und messen sich in diversen Sportarten. Sie eint, dass sie im Krieg an Körper oder Seele versehrt wurden. Und sie zeigen, dass sie trotzdem Leistung bringen können. Lange Zeit geht es dem jungen Soldat Vocko vor allem um Leistung. Er will funktionieren, jeden Auftrag bestmöglich erfüllen, Leben retten, Karriere machen. „Manchmal war ich richtig arrogant“, sagt der gebürtige Pfälzer rückblickend. In seinen neun Einsätzen, der erste beginnt 1999 und dauert zehn Monate, muss er auch erfahren: Er kann nicht jedes Leben retten. Aber weil ein Einsatz auf den nächste folgt, kommt er nicht dazu, zu verarbeiten was er erlebt. Die Alpträume? „Naja, gehören dazu, schließlich habe ich Schlimmes gesehen.“ Die Aggressionen? „Die anderen sind das Problem. Ich bin normal.“ Die Schlafstörungen? „Dann setze ich mich nachts an den PC und arbeite.“
Wenn er auf seine Ausbildung blickt, sagt Vocko: „Die Bundeswehr hat ihr Bestes gegeben, aber sie konnte mich ja nicht auf jede Situation vorbereiten.“ Außerdem wollte er immer wieder in die Einsätze – und seine Vorgesetzten waren froh darüber, dass da einer ist, der will. Der Luftlandesanitäter erinnert sich an seinen Abenteuerdrang, die Kameradschaft, den guten Verdienst – all das habe ungeheuer motiviert. Auf Laufbahnlehrgänge und gute Bewertungen folgt schnell wieder die Vorbereitung auf den nächsten Einsatz. Dann der Laufbahnwechsel, heute ist er Hauptmann. Mit der Offizierausbildung hatte Vocko „eine neue Ablenkung“. Er kommt so gar nicht dazu, zu verarbeiten, was er im Kosovo, in Bosnien oder in Afghanistan erlebt.
Für Außenstehende mag es irritierend klingen, wenn Vocko sagt, er wollte immer wieder in den Einsatz – und dann im nächsten Satz von Gefechtssituationen in Afghanistan oder im Kosovo berichtet. Oder darüber spricht, wie er selbst angeschossen wurde. Wenn er über schwer verletzte Kameraden oder Zivilisten berichtet und von den Toten. Oder wenn er die Verwüstungen von Banda Aceh nach einem Tsunami beschreibt. Aber das ist eben sein Job, sagt er sich lange Zeit. Er ist Luftlandesanitäter bei den Fallschirmjägern, er wird Kompanieführer. Da ist kein Raum für Schwäche – denkt er. Schließlich haben er und seine Kameraden einen Auftrag: Verletzten helfen, Menschen retten. Schließlich hat er gelernt, wie das geht, kämpfen. Und er sagt auch: „Im Einsatz ist alles einfach. Man hat einen klaren Auftrag, der Alltag ist klar strukturiert.“ Die Probleme kommen daheim, auch wenn er sie nicht sehen will.
Aus drei Tagen werden vier Monate
Seine Frau, selbst Soldatin und heute Oberfeldarzt, sieht die Probleme sehr wohl, die Veränderung ihres Mannes. Irgendwann ist sie nicht mehr bereit, sie zu tolerieren. Als Vocko „mal wieder ausrastet“, weil im Geschirrspüler eine Gabel im Messerfach liegt, stellt seine Frau ihn vor die Wahl: „Ausziehen oder zum Arzt gehen.“ Als er am nächsten Tag vor der Truppenärztin sitzt, hat die beim Blick in seine Akte einen Verdacht. Sie sieht die vielen Einsatztage. Die Ärztin schickt ihn ins Traumazentrum nach Berlin. Drei Tage soll er bleiben. Kurz nach seiner Ankunft wird er wieder von seiner Wut übermannt. Ein junger Stabsarzt fragt ihn im ersten Gespräch: „Waren sie schon mal im Einsatz?“ Klar, der hätte sich besser vorbereiten müssen, sagt Vocko auch heute. Aber seine Reaktion war viel zu extrem. Der Hauptmann wird laut, aggressiv, bepöbelt den Arzt, fast haut er ihm eine runter. Erst eine „toughe Frau Oberfeldarzt“ bringt ihn zur Räson. „Da habe ich gemerkt, irgendwas läuft hier wirklich aus dem Ruder.“ Aus drei Tagen Begutachtung werden vier Monate stationäre Therapie.
„Flashbacks sind das Schlimmste“
2015 beginnt seine Therapie, 2016 startet er mit einer speziellen Traumatherapie. Sein Therapeut gibt ihm eine Aufgabe: Seine Erlebnisse, Einsatzerfahrungen und Gefühle aufzuschreiben. Nicht bloß einen militärischen Bericht soll er verfassen, sondern über sich selbst zu schreiben. Das musste Vocko erst lernen. Alle sechs Wochen bespricht er mit seinem Therapeuten ein „Kapitel“ in einem vierstündigen Block. Das sei besser als sechs Wochen Klinik, sagt der Hauptmann. Neben der Therapie sind die Kinder seine „Rettung“. Drei Töchter hat er mit seiner Frau. Als die aufgrund einer Verwendung unter der Woche nicht daheim ist, wird er „alleinerziehender Papa“. „Da konnte ich nicht liegen bleiben im Bett. Ich musste mich um die Kinder kümmern, Essen und den Haushalt machen.“ Das habe ihm fehlende Struktur zurückgegeben und ihm geholfen auch die Zeit zu überstehen, in der er nach seiner PTBS-Diagnose krank Zuhause war. „Diese Zeit mit meinen Kindern hätte ich nie gehabt, wenn das alles nicht passiert wäre. Denn wahrscheinlich wäre ich mal wieder im Einsatz gewesen.“
Ausgerechnet als er seine Tochter auf dem Arm hat, erlebt Vocko einen besonders langen Flashback. „Im Schwimmbad hebe ich meine Tochter aus dem Wasser und war plötzlich im Kosovo.“ Der Sanitäter Vocko ist plötzlich in einer Situation, in der er ein Kind auf dem Arm hat, das durch eine Granate schwer verletzt wurde. Fünf Minuten ist er abwesend, sagt seine Frau. „Aber so ein Flashback kann ja auch gefährlich werden. Stell dir vor, der führt zu einer Kampfsituation und du verhältst dich dann im Hier und Jetzt wie im Kampf.“ In der Therapie lernt er, wie er diese Situationen vermeidet oder entschärft. So trägt er zum Beispiel Kopfhörer, wenn er joggen geht. Denn er weiß: Wenn es geregnet hat und ein Auto auf nasser Fahrbahn an ihm vorbeifährt, dann erinnert ihn das Geräusch an einen Tag im Einsatz, an dem der „Gegner“ eine Panzerfaust auf ihn abschießt. Sein Körper reagiert dann automatisch: Schwitzen, Herzrasen, Panik. Oder er geht nur zu bestimmten Zeiten einkaufen, um zu viele Reize zu vermeiden. Wenn ihn doch etwas im Supermarkt triggert, lenkt er sich ab. Er sucht alle Menschen, die Sneakers tragen. Dann ist er völlig auf die Aufgabe fokussiert. „Oder in 17er Schritten von 1000 rückwärts zählen. Ist schwieriger als man denkt“, sagt der Offizier lachend.
Spitzensportler Vocko?
Wenn man Vocko begegnet und hört, dass er bei den Invictus Games im Diskuswurf, 100 und 200 Meter Sprint sowie 1 Minute und 4 Minuten rudern antritt, denkt man: Klar! Der Hauptmann ist fit wie der sprichtwörtliche Turnschuh. Kein Alkohol, keine Zigaretten, seit Jahren macht er Kraftsport und gesunde Ernährung gehört auch dazu. Aber in der Sporttherapie, in der Vocko seit 2017 Lehrgänge besucht und im Team Invictus steht nicht der Spitzensport im Vordergrund. Im deutschen Team geht es nicht um Medaillen. Bei den Amerikanern sei das anders, sagt Vocko. „Die haben Zeitverträge und ob die verlängert werden, hängt auch vom Erfolg bei den Invictus Games ab. Da gibt es nicht so etwas tolles wie das Einsatzweiterverwendungsgesetz.“ Ihm und den Kameraden gehe es um den Austausch mit anderen Athleten, die gegenseitige Unterstützung. Und das ist es auch, was das Team Invictus Germany ausmacht: „Wir akzeptieren uns alle und keiner muss sich verstellen.“
Der Hauptmann freut sich vor allem auf die Begegnungen mit Soldaten aus aller Welt. Das hat auch etwas mit seiner Familiengeschichte zu tun. Der Vater ist Pole, die Mutter gebürtige Engländerin und sein Bruder dient als Soldat in der U.S. Army. Vocko freut sich daher vor allem auf die „Stories“ der Athleten aus den USA, aus Polen oder aus England. Über England war sein Großvater, Pilot der Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg, abgestürzt. Als kriegsgefangener Offizier durfte er nicht arbeiten, kochte aber im Lager. Das kam offenbar so gut an, dass er die Aufgabe offiziell übernehmen durfte. Er bekam eine Küchenhilfe. Eine junge Engländerin aus Maidenhead bei London. Der deutsche Pilot und die junge Engländerin verliebten sich, bekamen drei Kinder, gingen wieder nach Deutschland. Eines der Kinder ist Vockos Mutter. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.