Im Mali-Einsatz sind ähnliche Krankheitsbilder wie in Afghanistan zu erwarten. Hier ein Bundeswehrsoldat nahe Camp Castor im Mai 2017. Foto: picture alliance/NurPhoto

Im Mali-Einsatz sind ähnliche Krankheitsbilder wie in Afghanistan zu erwarten. Hier ein Bundeswehrsoldat nahe Camp Castor im Mai 2017. Foto: picture alliance/NurPhoto

12.08.2021
Christine Hepner

Einsatzfolgeerkrankung – eine Zeitbombe, die erst nach Jahren explodieren kann

Ist mit dem Ende des Afghanistan-Einsatzes auch ein Rückgang der an psychischen Folgeschäden erkrankten Soldaten zu erwarten? Wohl kaum, sagt der Leiter des Psychotraumazentrums am Bundeswehrkrankenhaus Berlin, Oberstarzt Prof. Dr. Peter Zimmermann, denn die Erkrankungen machen sich zum Teil erst nach Jahrzehnten bemerkbar.

Die Bundeswehr: Seit 2010 gibt es das Traumazentrum im Bundeswehrkrankenhaus Berlin, an dessen Aufbau Sie maßgeblich beteiligt waren. Hat der Afghanistan-Einsatz für Einsatzfolgeschäden wie beispielsweise Posttraumatische Belastungstörungen sensibilisiert?

Oberstarzt Prof. Dr. Peter Zimmermann: Ja, das würde ich schon sagen. Wir haben bis zur Jahrtausendwende schon von Einsatzfolgestörungen gewusst, aber das stand zahlenmäßig nicht so im Vordergrund. Im Kosovo gab es bereits Schusswechsel, doch erst mit dem Busattentat 2003 in Afghanistan geriet das Thema in den Fokus der Aufmerksamkeit. Damals begannen sich auch die Zahlen in unserem Versorgungssystem bemerkbar zu machen. Dieser Trend hält bis heute an, aus dem „peu à peu“ wurde immer mehr und zusätzlich wurde auch die Problematik immer komplizierter. Anfangs waren das ja begrenzte Problematiken, da hatte man zum Beispiel Alpträume über Schusswechsel. Im Laufe der Jahre und des Einsatzes in Afghanistan kamen immer neue Dinge hinzu: Soldaten, die fünf oder zehn Einsätze hinter sich hatten und dann mit entsprechenden Folgeerscheinungen wie zusätzlichen Suchterkrankungen oder Angehörigen-Problemen zu kämpfen hatten. So etwas braucht seine Zeit, bis es entsteht und sich bemerkbar macht. Und das sind alles Dinge, die wir im Laufe von 20 Jahren Afghanistan-Einsatz gesehen haben: den Anstieg an Zahlen, die Zunahme an Bewusstheit, auch durch sehr schlimme Ereignisse wie das „Karfreitagsgefecht“, und dann natürlich die wachsende Vielfalt der Themen.

Wie hat sich der Umgang mit einsatzbedingten psychischen Schäden in dieser Zeit verändert?

Ich würde sagen, es hat sich auf zwei Ebenen etwas verändert. Zum einen in der Versorgungsgesetzgebung: Da haben wir ja wirklich Großartiges erreicht, auch mit Hilfe des DBwV. Es sind Gesetze novelliert worden und der Stand, den wir in dieser Hinsicht heute in Deutschland haben, ist wirklich vorbildlich in der Welt. Das Einsatzweiterverwendungsgesetz bietet Menschen, die psychosozial am Wackeln oder gar Scheitern sind, die Möglichkeit, wieder auf die Beine zu kommen. Auch gibt es inzwischen verschiedene Ansprechstellen, zum Beispiel die ZALK oder den General PTBS, die dafür sorgen, dass deutlich schneller und unbürokratischer als früher Hilfe geleistet wird.

Und auch therapeutisch ist einiges passiert: Wir haben zu Beginn der 2000er Jahre noch die Standardtherapie angewendet, die man auch im zivilen Bereich macht – Methoden wie EMDR oder kognitive Verhaltenstherapie – und damit kamen wir ganz gut klar. Im Laufe der Jahre, durch die eben schon erwähnte Komplexität, sind dann aber Notwendigkeiten entstanden, mehr zu tun. Zum Beispiel fing seit 2011 die intensive Zusammenarbeit mit dem evangelischen Kirchenamt vor allem in der Angehörigenarbeit an. Da war der DBwV auch dabei. Wir haben Angehörigenseminare für unsere Patienten angeboten oder das Kinderbuch „Schattige Plätzchen“ erstellt. Das waren inhaltlich deutliche Verbesserungen. Und auch in der tiergestützten Therapie haben wir einiges entwickelt. Wir sind intensiv dran, neue Therapieformen mit Pferden und Hunden auszuprobieren und zu beforschen. Und schließlich haben wir gelernt, dass Moral und Wertorientierung die Verarbeitung von Einsätzen essenziell beeinflussen können. Das haben wir früher völlig unterschätzt, wir dachten, das ist schmückendes Beiwerk. Dass aber „nur“ durch moralische Konflikte Therapieverläufe völlig blockiert werden können, dass das zu Suizidalität, zu Sucht führen kann, dass dadurch Familiensysteme völlig zerstört werden können, das haben wir erst im Laufe der Jahre gelernt. Dies sind die drei Schwerpunkte, die sich, neben der Gesetzgebung, in der Versorgung verändert haben.

Könnten Sie die moralischen Konflikte näher erläutern und auch sagen, welche Wirkung der oft thematisierte Mangel an Wertschätzung in der deutschen Öffentlichkeit auf die psychische Gesundheit der Soldaten hat?

Das ist ein weites Feld. Es fängt an mit den Erlebnissen im Einsatz selbst. Das ist ja ein interkultureller Schock: Man kommt in eine völlig andere Lebenswirklichkeit, gerade in Afghanistan. Da muss man sich mit anderen Wertorientierungen auseinandersetzen, da herrschen andere Vorstellungen von Moral, die schwerlich mit unserem westlichen Wertesystem zu vereinbaren sind. Zum Beispiel Gewalt gegen Frauen und Kinder, der Umgang mit Armut. Also, das ist ein Grund, warum Soldaten ins Nachdenken geraten und depressiv werden können. Diese moralischen Verletzungen werden hier im Inland, wenn sie nicht behandelt werden, zu einem chronifizierten Thema. Das heißt, sie führen zu Scham beziehungsweise zu der Überzeugung: „Ich habe da Dinge gesehen und auch selbst gemacht, jetzt bin ich kein guter Mensch mehr.“ Und dann ziehen sich die Soldaten zurück.

Das zweite Thema sind die Sorgen, wenn andere Menschen wie zum Beispiel die eigenen Vorgesetzten Dinge getan haben, die mit dem Moralsystem nicht vereinbar sind. Die Enttäuschungen setzen sich fest. Das, jetzt greife ich etwas weiter, geht durchaus auch in den Bereich der Reaktion des Inlandes. Soldaten, die mehrmals im Auslandseinsatz waren, die in Lebensgefahr schwebten, die viel geleistet, viel durchgestanden haben, wollen – das sage ich jetzt aus klinischer Erfahrung – zurück in Deutschland auch mal darüber sprechen, sie wollen gehört werden. Sie haben auch durchaus etwas zu erzählen, was uns als Gesellschaft nützen kann, gerade auf der Ebene von Wertorientierungen. Leider machen sie dann aber die Erfahrung, dass nicht zugehört wird, weil man das gar nicht in ihrem Umfeld oder in der Gesellschaft hören will. Da bekommen sie im Laufe der Jahre wunde Stellen, weil sie das Gefühl haben: „Mensch, ich habe doch so viel gemacht, aber es interessiert sich keiner dafür, es gibt auch keine Wertschätzung.“ Da spielen so kleine „Symbole“ wie zum Beispiel Stätten der Erinnerung wie in Potsdam durchaus eine Rolle. Das ist ein positives Signal, was solchen Tendenzen entgegenwirkt. Es gibt aber auch negative Signale, die man empfängt, wenn man aus Afghanistan zurückkommt. Da habe ich die Befürchtung, dass diese noch einiges an Problematiken nach sich ziehen.

Sie sprechen den Empfang der letzten Rückkehrer aus dem Afghanistan-Einsatz an, als weder Bundespräsident noch Ministerin oder Verteidigungspolitiker da waren?

Ich will nicht bewerten, ob das richtig oder falsch ist. Ich will nur als Therapeut sagen, dass ich glaube, dass dies von vielen belasteten Soldaten als zusätzliche Belastung wahrgenommen wird.

Sie waren ja selbst im Einsatz in Afghanistan …

Ja, 2003 und 2012 noch einmal.

Welche Erfahrungen haben Sie dort gemacht?

2003 war ich wenige Wochen nach dem Busattentat dort gewesen, da herrschte schon ein Klima der Angst, von dem ich mich auch nicht ganz ausschließen konnte. Das Erstaunliche, was ich selbst dort erfahren habe, ist, wie anpassungsfähig die menschliche Psyche ist. Denn nach zwei bis drei Wochen nimmt man die Angst gar nicht mehr wahr. Man gewöhnt sich daran, man hat die Erfahrung gemacht, aber man entspannt sich. Wir haben dort sehr viele zivile Hilfeleistungen gemacht, wir sind in die Krankenhäuser gefahren, haben uns Patienten angesehen und Computertomographie-Untersuchungen durchgeführt. Insofern war es auch eine Zeit des intensiven Austausches, der Freude gemacht hat. Wenn ich jetzt im Nachhinein darüber nachdenke, was das auch für eine gefährliche Zeit war, muss ich mich manchmal über mich selbst wundern, wie sehr ich das zum Teil auch verdrängt habe.

Der Einsatz 2012 war dann weniger spektakulär, da war ich im Camp Marmal und nie draußen, weil die Sicherheitslage einfach zu riskant war. Das war so ein typisches Lagerleben. Ich würde nicht sagen, dass das eine sehr prägende Erfahrung war.

Wird denn heute aus Ihrer Sicht genug getan, um die Soldaten auf die Herausforderungen und Gefahren in den Einsätzen vorzubereiten?

Prävention ist nicht so ganz mein Kerngebiet, weil ich im Rahmen des Sanitätsdienstes eher Behandler bin, nicht so sehr Vorsorger. Ich würde das mal so sagen: Wir sind da im Prozess und gerade im Moment dabei, auch Dinge zu entwickeln, die in Zukunft Verbesserungen bringen werden. Zum Beispiel ist, ergänzend zu den Ansätzen des psychologischen Dienstes, die Webseite der PTBS-Hilfe mit tollen Elementen aktualisiert worden. Da gibt es Videos von Dr. Wimmer, beispielsweise zum Thema Depression oder Angst – das in der Mediathek mal anzuklicken, lohnt sich. Die App „CoachPTBS“ wird regelmäßig weitergepflegt, das ist auch ein präventives Element. Ganz wichtig ist es, dass das Gute, das es jetzt im Moment gibt, auch ausreichend bekannt gemacht wird. Da haben wir wirklich noch Luft nach oben. Ich referiere an der Offizierschule des Heeres oder in der Führungsakademie und stelle dann immer die Frage: „Wer von Ihnen kennt denn eigentlich die App ‚CoachPTBS‘?“ Das kennen dann meist nur zwei oder drei von hundert. Beim Bekanntmachen von guten Angeboten brauchen wir wirklich noch etwas Dampf unterm Kessel.

Was denken Sie, wie lange sich der Sanitätsdienst noch mit den Auswirkungen des Afghanistan-Einsatzes beschäftigen wird?

Eine ganz wichtige Frage. Ein großes Thema, wenn man mit Soldaten zu tun hat, ist Stigma. Das betrifft aber auch Polizeikräfte oder die Feuerwehr. Immer wenn Sie es mit „Rescue Personalities“, mit rettenden, helfenden, schützenden oder bergenden Personen zu tun haben, dann haben diese mehr Interesse am Wohl anderer als am eigenen Wohl. Und das führt unter anderem dazu, dass negative Veränderungen bei sich selbst kaum wahrgenommen werden oder, wenn sie wahrgenommen werden, dass sie nicht ernst genommen werden oder man sich nicht vom Arzt behandeln lässt, denn dann wäre man ja hilfsbedürftig. Das ist so eine Kette, da kommen auch noch verschiedene andere Ängste dazu wie Karriereknick, nicht ernst genommen oder nicht mehr befördert zu werden. Alles irrational, stimmt alles gar nicht, wir haben inzwischen ein sehr aufgeklärtes System, was aber nicht heißt, dass dann einige trotzdem Ängste haben.

Diese Ängste führen dazu, dass wir bis heute Soldaten bekommen, die ihre Traumatisierungen 2000 im Kosovo erlitten haben und nie beim Arzt waren. Das heißt, sie schleppen sich durch, sie nutzen dafür ihre sozialen Bezugssysteme als Schutzfaktor, das dienstliche Umfeld, den Freundeskreis und die Familie. Und wenn das so halbwegs funktioniert, kann das zwanzig Jahre gut gehen. Das heißt aber auch, dass sie 20 Jahre lang mit Ängsten und Albträumen leben. Die besten Jahre sind futsch. Und deswegen werden wir vermutlich auch noch in den nächsten Jahren reichlich oder sogar mehr als heute mit diesen Folgeerkrankungen zu tun haben. Die Zahl der Personen steigt an und wird vermutlich mit zunehmender Distanz auch weiter wachsen. Das klingt vielleicht paradox, aber bei vielen, die diese Stigma-Ängste haben, dauert es ein paar Jahre, bis sie kommen. Das heißt: Die Dynamik der Psyche hat einen Zeitzünder, aber es dauert ein paar Jahre, bis der hochgeht.

Was erwarten Sie für die Zukunft – Afghanistan ist zwar vorbei, aber viele andere Einsätze laufen weiter und jetzt gerät Mali in den Blickpunkt. Werden sich die Krankheitsbilder unterscheiden?

Ich beschäftige mich mit dem Thema seit 30 Jahren und es gibt, das glaube ich schon, Unterschiede in den Einsätzen. Unterschiede, was die Problematiken vor Ort angeht, Unterschiede in der inneren Reaktion der Beteiligten und letztendlich auch in den Krankheitsbildern. Da kann man immer mal wieder einen Symptomwandel sehen. Die Symptomatik der Psyche im Ersten Weltkrieg war eine völlig andere als im Zweiten Weltkrieg, die Symptomatik im Golfkrieg war wieder eine völlig andere. Die Einsatzszenarien erzeugen gewisse spezifische Reaktionsweisen. Zum Beispiel erzeugen Peacekeeping-Einsätze, wo es viel um das Schützen geht, in der Psyche mehr Reaktionen in Richtung moralischer Verletzung oder Depression und vielleicht auch körperliche Reaktionen. Die kampfintensiven Einsätze sind mehr in Richtung Angst unterwegs, das heißt also zum Beispiel Todesangst oder Nachhallerinnerungen bei der PTBS, Schreckhaftigkeit, weil viel geschossen wird.

In Mali muss man sehen, wie es sich entwickelt. Ich würde es aber im Moment so einschätzen, dass dieser Einsatz in der Thematik dem in Afghanistan recht ähnlich sein wird. Das hängt natürlich davon ab, wie sich das weiterentwickelt nach den Anschlägen vor Kurzem. Aber im Moment wirkt es so, als würden wir auch dort wieder ähnliche Problematiken wie im Afghanistan-Einsatz sehen.

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