"Wir sind seit Ende 2014 im roten Bereich"
BundeswehrVerbandschef Wüstner im Interview
Berlin. Wenn Verteidigungsministerin von der Leyen ihr neues Personalkonzept vorstellt, muss sie darin nach Ansicht des BundeswehrVerbandes mindestens 19.000 zusätzliche Stellen vorsehen. RP-Online im Gespräch mit Verbandschef André Wüstner.
Von den 185.000 Stellen sind bei der Bundeswehr nur 177.000 besetzt. Wie viele Soldaten hat Frau von der Leyen denn wirklich zur Verfügung?
All diese Zahlen sind irreführend. Es gibt formal knapp 170.000 Zeit- und Berufssoldaten. Der Rest sind freiwillig Wehrdienstleistende und Reservisten. Deren Dienst ist sinnvoll und wichtig, aber sie sind nicht die Träger der Einsätze. Abrechnen müssen wir zudem rund 10.000 Kameraden, die sich im Berufsförderungsdienst auf die Zeit nach der Bundeswehr vorbereiten. Die fehlen in jedem Bataillon, in jedem Geschwader, auf jeder Fregatte und müssen schnellstmöglich ersetzt werden. Und wenn wir dann noch die fast 25.000 Soldaten in Studium und Ausbildung berücksichtigen, kommen wir auf eine Schockzahl: Statt 185.000 stehen nur rund 135.000 Zeit- und Berufssoldaten als tatsächliches Wirkpersonal zur Verfügung. Ziehe ich diejenigen ab, die in Stäben oder in der notwendigen Ausbildungsorganisation für eine Freiwilligenarmee gebunden sind, wird es dramatisch eng.
Muss man also bei künftigen Einsätzen kürzer treten?
Fakt ist, dass Deutschland international aktuell weit mehr leistet als viele Verbündete. Aber die Personalstruktur passt schon seit geraumer Zeit nicht mehr zu den Anforderungen, insbesondere aufgrund der radikalen Verkleinerung in der letzten Legislatur. Wir sind seit Ende 2014 im roten Bereich aufgrund zunehmender Aufträge. Das reicht bis zur Amtshilfe im Zuge der Flüchtlingskrise. Hinzu kommt eine ganze Reihe weiterer absehbarer oder diskutierter Verpflichtungen, von Libyen bis zur Frage, wie Abschreckung an der Nato-Ostflanke künftig substanzieller unterlegt wird. Und wir sollten uns heute auf das einstellen, was in drei, vier Jahren mehr als heute ansteht, mehr Cyber oder etwa die taktische Luftverteidigung, für die auch rechtzeitig Personal eingeplant und ausgebildet werden muss. Politisch geht es immer um mehr und nicht um weniger. Aber immer mehr Aufgaben mit immer weniger Personal ist einfach unmöglich.
Wie viele Soldaten braucht Deutschland also?
Wenn wir nur die Lücken schließen wollen, brauchen wir einen Zuwachs von 15.000 Planstellen plus rund 4000 für zivile Beschäftigte, die wir bis 2020 besetzen müssen. Wir können den Personalkörper eben nicht per Fingerschnipsen erweitern. Deswegen sollte der Zuwachs so schnell wie möglich auf einer Zeitachse beschlossen werden. Wir müssen heute die Ventile öffnen, damit wir aktuellen Anträgen von Zeitsoldaten stattgegeben können, die länger bleiben oder Berufssoldaten werden wollen. Die personellen Obergrenzen müssen fallen, sonst haben wir im nächsten Jahr erneut ein Potenzial von Tausenden qualifizierter Soldaten verloren. In personeller Hinsicht ist es bereits fünf nach zwölf.
Wo ist der größte Bedarf?
Seit der Ukraine-Krise und dem Nato-Gipfel von Wales ist klar, dass sich die Bundeswehr nicht mehr allein auf das Stellen von Kontingenten für Auslandseinsätze à la Balkan oder Hindukusch einstellen muss. Die Bündnisverteidigung ist neben dem Kampf gegen den Terrorismus auch wieder in den Vordergrund gerückt. Dafür müssen Heer, Luftwaffe, Marine, Sanitätsdienst und Streitkräftebasis aufwachsen. Bei der Marine sind viele Kameraden zehn von zwölf Monaten nicht mehr zu Hause. Auch in anderen Teilen der Bundeswehr heißt es inzwischen: "Entweder bist Du im Einsatz oder auch nicht zu Hause." Kaum sind die Kräfte aus Afghanistan, aus Mali, aus dem Irak zurück, gehen sie in die EU-Battlegroup oder in die vielen Bereiche, die die Nato in Form von Übungen mehr denn je abfordert. Bei immer mehr Kameradinnen und Kameraden funktioniert eine vernünftige Regeneration nicht mehr – sie brennen aus.
Gibt es genügend Nachwuchs?
Wir haben kein Nachwuchs-, wir haben ein Fachkräfteproblem. Wir haben bei den Mannschaftsdienstgraden eine sehr gute Bewerberlage, quantitativ wie qualitativ. Auch für die Laufbahnen der Feldwebel und Offiziere gibt es grundsätzlich genügend Bewerber. Die Problembereiche sind die IT-Spezialisten, das Feld der Elektronik, das Ingenieurswesen, bestimmte Bereiche der Sanität. Da muss die Ministerin Ideen entwickeln, wie wir in diesen Sparten attraktiver werden oder auch unseren Bildungssektor in der Bundeswehr stärken, damit wir mindestens mit der Wirtschaft Schritt halten können. Die bietet viele Angebote, die nicht zu unseren Laufbahnmodellen und Besoldungsgefüge passen. Daher braucht es neue Fachlaufbahnen, die dann auch für Seiteneinsteiger attraktiv sind.
19.400 Frauen hat die Bundeswehr – braucht sie noch mehr?
Beim Frauenanteil hat die Bundeswehr eine gute Entwicklung gemacht, und er wird auch weiter steigen. Sicherlich kann die Bundeswehr hier noch mehr tun, aber nicht mit Verfügungen und Vorgaben in Form von Schnellschüssen. Wir sollten genau analysieren, wer wo gebraucht wird. Egal ob ein Mann in Teilzeit oder eine Frau in Teilzeit – mit bestimmten Modellen, wie sie in der Wirtschaft üblich sind, können wir im Nordirak nicht bestehen.
Gregor Mayntz führte das Interview.