„Wir haben viel erreicht, und wir haben viele tapfere Soldaten gesehen“
Wolfgang Schneiderhan war Generalinspekteur der Bundeswehr, nachdem die Bundesrepublik das Versprechen der uneingeschränkten Solidarität nach dem 11. September 2001 gegenüber den USA und den Nato-Bündnispartnern mit dem Beginn des Einsatzes in Afghanistan im Januar 2002 eingelöst hat. Der heute 74-jährige Offizier war siebeneinhalb Jahre lang, bis zu seiner Demission im Dezember 2009, der höchste Offizier der Bundeswehr.
Vieles ist in Vergessenheit geraten: Ein Sozialdemokrat war Bundeskanzler, ebenso der Verteidigungsminister. Ein Grüner war Bundesaußenminister und Vizekanzler. Tempi passati, aber sie stehen für den umfangreichsten und längsten Auslandseinsatz in der Geschichte der Bundeswehr, in der Geschichte deutscher Streitkräfte überhaupt. Seit fast 20 Jahren sind deutsche Soldatinnen und Soldaten am Hindukusch im Einsatz. Fast 160.000 Männer und Frauen haben dort ihren Dienst getan. 59 verloren dabei ihr Leben, 35 von ihnen sind bei Anschlägen ums Leben gekommen oder in Gefechten gefallen.
Es war nach den Anschlägen vom 11. September 2001, dem Angriff von islamistischen Terroristen auf die Vereinigten Staaten, auf die Twin Towers im Herzen von „God`s own country” ein atemloser Parforceritt, mit dem Kanzler Gerhard Schröder, Verteidigungsminister Rudolf Scharping und Außenminister Joschka Fischer auf die Solidaritätsadresse auf den Trümmern des Word Trade Centers einen Einsatz folgen ließen, der oft viel mehr war als Aufbauhilfe und Unterstützung für die US-Army oder die Soldaten anderer Nato-Staaten, die in Afghanistan den Terror besiegen und den Frieden sichern wollten.
„Es ging alles sehr schnell, aber es war gut so, denn es musste schnell gehen“, erinnert sich Wolfgang Schneiderhan an die Tage, Wochen und Monate nach dem 11. September 2001. General Harald Kujat war damals Generalinspekteur, Schneiderhan als Generalleutnant Chef des Planungsstabes im Bundesverteidigungsministerium. Er gehört zum engsten Kreis, berät den Verteidigungsminister, ist das Bindeglied in die Generalität und die Kommandostrukturen der Bundeswehr. Schneiderhan weiß, dass dieser Tag und die Erklärung der uneingeschränkten Solidarität des Bundeskanzlers unter dem Eindruck des Angriffs alles verändern wird. Vor allem für die Bundeswehr, die mit kleineren Auslandsmandaten, vor allem dem Einsatz im Kosovo und im Jugoslawien-Krieg, bewiesen hat, dass sie von Landes- und Bündnisverteidigung auch auf Einsatzarmee umzuschalten weiß. Aber Afghanistan, das zerstörte und zerrüttete Land unter der Terrorherrschaft der Gotteskrieger der Taliban, das ist ein viel größeres Kaliber.
„Aber es war auch aus heutiger Sicht gut und richtig, dass wir so schnell hineingegangen sind nach den Anschlägen“, sagt General a.D. Wolfgang Schneiderhan auch heute mit der Distanz zum Vergangenen. Die Operation Enduring Freedom (OEF) ist der Anfang, tausende Bomben fallen ab Herbst 2001 auf das von sowjetischer Invasion und Besatzung, von Bürgerkrieg und Taliban-Terror geschundene Land, weil die USA dort den Terrorfürsten Osama bin Laden vermuten, der den Angriff auf das WTC befohlen haben soll. Als die ersten 100 Soldaten der Bundeswehr, 100 Männer des Kommandos Spezialkräfte (KSK), am 1. Januar 2002 kurz nach Mitternacht in Kandahar im Süden Afghanistans ankommen, sind sie die Vorhut eines Einsatzes, der 20 Jahre andauern wird.
„Vieles ist vergessen“, sagt Wolfgang Schneiderhan, der General, der die dramatischen und schnellen Stunden bis zur Landung der 100 Kommandosoldaten als Chef des Planungsstabes erlebt, Stunden, Tage, Wochen und Monate mit vielen Fragen: „Ist das richtig?“ Deutsche Soldaten so weit weg im Kampfeinsatz. Die Deutschen übernehmen schnell Verantwortung, die Generale Norbert van Heyst und Götz Friedrich Eugen Gliemeroth sind die ersten Kommandeure ISAF in Kabul. Später dann wird es ein Nato-Einsatz. „Unser damaliger Botschafter in den Vereinigten Staaten, Wolfgang Ischinger, und ich haben bei der damaligen Sicherheitsberaterin Condoleeza Rice dafür geworben, dass wir die Sache anders aufziehen. So ist es im Grunde ein Nato-Einsatz geworden, daran kann man sehen, dass wir sicherheitspolitisch umsichtig und schnell reagiert und sehr früh signalisiert haben, dass wir bereit sind, im Bündnis Verantwortung zu übernehmen“, erklärt General Wolfgang Schneiderhan die damaligen Ereignisse aus der Sicht von heute.
Dieser Einsatz und dieser Auftrag warfen viele Fragen neuer Dimensionen auf. Die Beauftragung durch den Bundestag für den Einsatz der Bundeswehr so weit weg von daheim musste politisch mit neuen strategischen Überlegungen vorbereitet werden, die gewohnten Argumentationsmuster griffen zu kurz. Unter anderem deshalb verknüpfte der Bundeskanzler die Abstimmung zwei Tage vor dem Heiligen Abend 2001 fünf Wochen zuvor am 16. November mit der Vertrauensfrage. Damals stimmen 336 von 662 Abgeordneten für den Kanzler. Bei der Mandatserteilung am 22. Dezember sind 538 Abgeordnete dafür und nur 35 dagegen. Oppositionsführerin Angela Merkel (CDU) spricht davon, dass dieser Einsatz deutscher Truppen alternativlos sei.
„Das war ein Kaltstart für die Bundeswehr“, sagt ihr ehemals höchster Soldat heute. „Unsere Erfahrungswelt war der Balkan gewesen. Nun Afghanistan, 6000 Kilometer entfernt. Für die Bundeswehr war klar, wir hatten eine gigantische Aufholjagd zu bewältigen. Wir mussten in allen Fähigkeitskategorien dramatisch nachholen – Aufklärung, Verlegungsfähigkeit, vernetzte Operationsführung, Interoperabilität, Durchhaltefähigkeit, Robustheit, um nur einige zu nennen. Es war immer klar, das kriegen wir nur hin, wenn wir die Bundeswehr einem grundlegenden Transformationsprozess unterwerfen, der auch vor Streitkräftekategorien nicht haltmacht. Das Verhältnis von Input und Output musste sich deutlich verändern, um in Afghanistan bestehen zu können“, zieht Wolfgang Schneiderhan seine persönliche Bilanz.
Interoperabilität in vernetzter Operationsführung und operative und strategische Aufklärungsfähigkeit waren Kern der Aufholjagd und sind es zum Teil ja noch immer.
„Unsere Sicherheit wird auch in Zukunft keine insulare sein. Das war sie nie, das wird sie nie sein.“
Wenn man die Bundeswehr aus damaliger Sicht betrachte, dann sei das wie eine Reparatur am laufenden Motor gewesen. Es ist viel bewegt worden. Reformiert worden. Es war aber auch nötig. „Man hat nie die Streitkräfte beisammen, die man gerade braucht“, das hat der erste Generalinspekteur der Bundeswehr, General Ulrich de Maizière einmal gesagt, erinnert sich Wolfgang Schneiderhan. Der erfahrene Offizier hat den damals jungen Offizier Wolfgang Schneiderhan nach seinem Eintritt in die Bundeswehr geprägt, die beiden schätzen sich so sehr, dass Schneiderhan nach de Maizières Tod die Trauerrede halten darf.
„Die Freiheit wird am Hindukusch verteidigt“, hat der inzwischen verstorbene Verteidigungsminister Peter Struck die Notwendigkeit der deutschen Präsenz im Krisenland Afghanistan in einem Satz erklärt. „Das würde ich damals wie heute mit Blick auf Artikel 87a und Artikel 24 des Grundgesetzes unterschreiben. Die Partner in der Nato-Familie müssen sich gegenseitige kollektive Sicherheit geben. Alles, was die Bundeswehr in diesem Einsatz gemacht hat, ist auch durch die entsprechenden UN-Mandate abgedeckt. Unsere Sicherheit wird auch in Zukunft keine insulare sein. Das war sie nie, das wird sie nie sein“, bilanziert der besonnene General Wolfgang Schneiderhan. Und dann zitiert er noch, um zu untermauern, dass man schnell entscheiden musste in den schicksalhaften Zeiten des Herbstes und Winters 2001/2002, einen seiner Amtsvorgänger. „Klaus Naumann hat gesagt: ‚Gehe zur Krise hin, bevor die Krise zu dir kommt.’“
Vor zehn Jahren hat das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ in seiner Bilanz eine Dekade nach dem Beginn des Einsatzes in Afghanistan den Eindruck hinterlassen, Deutschland habe zugesagt, was die USA eigentlich nicht so richtig wollten, deutsche Soldaten am Hindukusch. Wolfgang Schneiderhan widerspricht vehement: „Das ist so nicht richtig, Amerika hat akzeptiert und immer anerkannt, was wir in diesem Bereich zu leisten imstande sind. Das ist in Deutschland vielleicht nicht so angekommen. Ich kenne keine amerikanische Stimme, die unseren Einsatz, unsere Leistungen infrage gestellt hat.“
Im Gegenteil. Die Bundeswehr habe sich Respekt und Ansehen verschafft. Innerhalb des Bündnisses und auch bei den anderen beteiligten Nationen, vor allem auch bei den Menschen in Afghanistan selbst. „Alle Nationen, ich war ja Mitglied im Militärausschuss, alle Nationen hatten irgendwelche Auflagen für den Einsatz ihrer Kontingente, das ist kein deutsches Thema, wir zelebrieren das vielleicht eher öffentlich, in anderen Ländern spricht man so nicht unbedingt darüber. Wir konnten alle Aufträge und Absichten erfüllen. Wir haben Brunnen gebohrt und Schulen gebaut, wir haben aber auch robust hingelangt, wo es notwendig war.“
Der frühere Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan betont: „Zu Hause wurde im sicheren Berlin vielfach kritisiert, dass wir nicht in den „heiß umkämpften Süden“ gegangen sind. Was ich als Aufholjagd bei den Fähigkeiten beschrieben habe – vor allem Fähigkeit zur vernetzten Zusammenarbeit – war ein Grund, dass ich glaubte, dieser Qualität von Kampf noch nicht gewachsen zu sein, das ISAF-Mandat mit seiner klaren Definition des Einsatzes. Wir haben uns nicht gedrückt, das weise ich immer noch zurück, nein wir waren die Ersten, die nach der räumlichen Ausweitung des Einsatzgebietes aus der Insel Kabul heraus in den Norden – Kundus und Faisabad – gingen und dann die Führungsverantwortung im neuen Regionalkommando Nord übernahmen. Dass wichtige Partner – Schweden, Norwegen, Ungarn als Beispiel – ihre Einsatzkräfte der deutschen Führung unterstellt haben, spricht ja nicht gegen uns.“
Und noch etwas habe aus operativer Sicht für den „Nordeinsatz“ gesprochen: „Wir kamen von Norden über Termez in Usbekistan ins Land. Folglich war das die logistisch richtige Achse, die auch für mögliche Evakuierungsoperationen angemessen gewesen wäre. Dass es dann später auch im Norden so ab 2007 ungemütlich wurde, lag auch mit daran, dass der Terror dem massiven Druck im Süden in das paschtunische Schlüsselgebiet um Kundus auswich und uns mit unseren Partnern viel abverlangte, unsere vielen Gefallenen sind Opfer dieser Veränderungen“, sagt Wolfgang Schneiderhan.
Haben wir viel, haben wir genug erreicht nach 20 Jahren Bundeswehreinsatz und vieler anderer Hilfe aus Deutschland? „Den Menschen dort war zunächst einmal dadurch zu helfen, dass der Terrorismus der Taliban aufhört, dass das Land sich entwickeln kann, vor allem nach der Vorstellung der Afghanen. Sie sollten sich im Neuen finden. Als Beispiel: Ja, wir haben Schulen aufgebaut, aber wir haben keine Lehrpläne geschrieben oder Lehrer eingestellt. Das heißt, die Afghanen selbst haben bestimmt, was ihre Kinder lernen sollen. Die Afghanen haben gelernt, dass wir sie und ihre Lebensweise respektieren“, beschreibt Wolfgang Schneiderhan den Weg, den er nach wie vor für den richtigen hält. „Die Afghanen haben gelernt, dass wir mit ihnen auf Augenhöhe geredet haben. Die Minister Struck und Jung und ich, wir waren bei Konferenzen mit den regionalen Führern, wir haben mit ihnen auf dem Teppich gesessen, debattiert und verhandelt. Wir wollten diese Vernetzung, denn sie war Voraussetzung für die wichtige Verzahnung zwischen politischen und militärischen Themen.“
Wolfgang Schneiderhan hat in den siebeneinhalb Jahren im Dienst als Generalinspekteur zahllose Besuche im Land erlebt, das für ihn auch heute eine große Bedeutung hat. Die Truppenbesuche waren damals nicht nur davon geprägt, um zu schauen, wie es den Soldaten geht. „Wir haben uns immer bemüht, die zivil-militärische Vernetzung (Comprehensive Approach) umzusetzen: Politik, Diplomatie, Justiz, Polizei, Kultusbehörden und nicht zuletzt Wirtschaft, Handel, Industrie müssen zusammenwirken, wenn diesem geschundenen Land in eine bessere Zukunft geholfen werden soll. Soldaten können da nur einen begrenzten, wenn auch als Voraussetzung für vieles andere wichtigen Beitrag leisten. Ein Beispiel: Soldaten können Sicherheit des Schulbesuchs auch von Mädchen erreichen. Dass nach der Schulzeit Berufe möglich sind, mit denen der Lebensunterhalt der Familie gesichert werden kann, das müssen andere ermöglichen, nicht zuletzt die Afghanen selbst.“
Unterdessen verhandeln in Doha in den Vereinigten Arabischen Emiraten die Taliban mit der gewählten afghanischen Regierung. „Wir haben viel geholfen, einiges erreicht, aber nicht alles, was wünschenswert war, war zu leisten. Unsere Soldaten haben viel riskiert, sie waren sehr mutig und loyal. Da ist noch viel zu tun. Jetzt ist Afghanistan dran. Der Kampf gegen Korruption ist Aufgabe der Afghanen selbst“, meint Wolfgang Schneiderhan. Er ist überzeugt. „Wir haben die Chancen für Afghanistan gebessert. Man kann immer mehr tun, aber wir müssen auch nicht in dem Bewusstsein gehen, vielleicht nicht genug getan zu haben.“
Natürlich sagt der ehemalige Generalinspekteur auch, Amerika hat immer den Takt vorgegeben, das ist klar. Einige Nationen haben ihr Engagement längst aufgegeben. Aber wir als Bundeswehr, wir müssen uns nicht verstecken, wir sind deutlich länger da, als der Erste und Zweite Weltkrieg gedauert haben. Wir bringen unsere Soldaten zuverlässig rein und auch bis auf bittere Ausnahmen wieder raus. Unsere Soldaten haben sich in diesem Einsatz als gute Staatsbürger in Uniform erwiesen. Sie haben in der überwiegenden Mehrzahl pflichtbewusst, mandatskonform, tapfer und loyal gehandelt, da haben wir uns nichts vorzuwerfen.
Er zolle, sagt Schneiderhan, bis heute der Gesamtleistung Respekt. Was wir geschafft und durchgehalten haben, andere Nationen sind sang- und klanglos herausgegangen. „Militärisch gesprochen können wir nicht diejenigen sein, die am Ende das Licht allein ausmachen. Das muss ein abgestimmter Prozess sein. Gemeinsam rein und gemeinsam raus, ist ein gängiger Slogan, der so ja nicht mehr stimmt und auch zu einfach ist. Intelligent und operativ wie auch strategisch umsichtig muss abgezogen werden, das ist der Punkt.“
Und dann ist da zum Schluss noch die Sache mit dem Krieg, Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), der letzte Verteidigungsminister unter dem Wolfgang Schneiderhan als Generalinspekteur kurz diente, hat den Begriff in diesem Einsatz in Afghanistan eingeführt, als die Bundeswehr um drei weitere deutsche Gefallene nach dem Karfreitagsgefecht bei Kundus im April 2010 trauern musste. „Juristisch stimmt das zwar nicht“, räumte auch Guttenberg ein, „umgangssprachlich schon“. Die selbsternannten Gotteskrieger der Taliban-Terrortruppen hätten es gerne gesehen, wenn wir sie in jeder Hinsicht als ebenbürtige Gegner anerkannt hätten. Das wollten wir gerade nicht. Das sind Terroristen und Mörder, keine Kombattanten. Und ich bleibe dabei: Es ist ein nicht internationaler bewaffneter Konflikt, in dem unsere Soldaten zum Einsatz kommen, Einsatz ist der richtige Begriff. Ich verstehe aber sehr wohl, dass diejenigen, die in diesem Einsatz in Gefechte und Kampfhandlungen in Lebensgefahr gerieten, dies wie ‚Krieg’ empfinden“, erklärt der General seine Sicht der Dinge.