Der Stabsunteroffizier a.D. Achim Wohlgethan ist einer von zehntausenden Soldatinnen und Soldaten, die im Einsatz in Afghanistan waren. Der Einsatz hat sein Leben verändert. Foto: Econ Verlag

Der Stabsunteroffizier a.D. Achim Wohlgethan ist einer von zehntausenden Soldatinnen und Soldaten, die im Einsatz in Afghanistan waren. Der Einsatz hat sein Leben verändert. Foto: Econ Verlag

06.12.2020
Frank Jungbluth

„Ihr habt vielleicht die Uhren, aber wir Afghanen haben die Zeit“

158.900 Soldatinnen und Soldaten sind in fast 20 Jahren Dauereinsatz irgendwann zwischen Januar 2002 und Dezember 2020 als Teil der Truppe, als Frauen und Männer der Bundeswehr in Afghanistan im Einsatz gewesen. 1200 sind heute noch am Hindukusch. 158.900 – Achim Wohlgethan, 54, Stabsunteroffizier a.D. ist der Mann hinter dieser Zahl, die das ganze Ausmaß beschreibt, was der Kampf der Vereinigten Staaten gegen Terror nach dem Angriff vom 11. September ausgelöst hat. „Afghanistan hat mein Leben verändert”, sagt der baumlange Fallschirmjäger mit der rauen Stimme. „Ich würde wieder hingehen, aber das geht jetzt nicht mehr.”
 
Wohlgethan ist nicht der erste Soldat der Bundeswehr, der Tagebuch geführt hat während der Monate, die er gedient hat in dem Bewusstsein, dass die Freiheit eines jeden Deutschen auch am Hindukusch verteidigt wird. Er war aber einer der ersten, der ein Buch darüber geschrieben hat, was er zwischen Kabul und Kunduz erlebt hat. Peter Struck, der letzte Sozialdemokrat im Amt des Verteidigungsministers, hat ihn im Dezember 2002 gesprochen. Das war wenige Tage bevor der Deutsche Bundestag dem Mandat, die Bundeswehr in Afghanistan einzusetzen, mit großer Mehrheit zugestimmt hat. „Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt”, hat Struck wörtlich gesagt. Der SPD-Politiker ist seit sieben Jahren tot, sein Satz bleibt für die Ewigkeit.

Irgendwie ist er immer noch Soldat, der Joachim Wohlgethan, geboren 1966 in Wolfsburg, nach dem Abitur auf der Suche nach einem Beruf, der mehr bietet als die Sicherheit bei der Stadtsparkasse. Er sucht auch das Abenteuer. Er wird es finden. Es ist der 11. September 2001, der Fallschirmjäger-Unteroffizier Achim Wohlgethan tut seinen Dienst in der Henning-von-Tresckow-Kaserne in Oldenburg/Oldb., dort ist die Heimat des Fallschirmjägerbataillons 314. Die Einheit steht kurz vor der Auflösung. Aber daran denkt am Abend des 11. September 2001 niemand mehr. Am 11. April 2002 fliegt Wohlgethan nach Afghanistan zum ISAF-Kontingent, dessen Mandat der Bundestag erst wenige Monate zuvor beschlossen hatte. Es geht über Termez in Usbekistan mit der Transall weiter nach Kabul, eine Mondlandschaft, von Luftfahrzeug-Wracks übersät im Tal der Berge nahe Kabul, von denen der Rawash mit 2199 Metern der höchste ist. Nach dem Ausstieg geht es mit dem Bus durch Hitze und Staub ins Camp Warehouse, erinnert er sich. „Es war totenstill.”

Achim Wohlgethan, der da mit den ersten ISAF-Soldaten der Bundeswehr in den Einsatz zieht im Frühjahr 2002, ist bereits von 1987 bis 1988 beim Bund gewesen, 1995 lässt er sich wieder einstellen, 2006 verlässt er die Truppe nach dem Ende seiner Dienstzeit. Er will gerne einen Dienstposten als Feldwebel, besteht den Lehrgang auch mit Bravour, aber er bekommt die Stelle nicht, weil die Personalplaner Sorge haben, ihn dann nicht mehr „loswerden” zu können, ihn zum Berufssoldat machen zu müssen. Er klagt als Mitglied und mit Hilfe des BundeswehrVerbandes dagegen, aber die Klage wird abgewiesen. Das Gericht entscheidet, die Stammdienststelle habe das letzte Wort.
 
„Er ist in der Lage, rasch auch komplexe Zusammenhänger zu erkennen, schnell und sicher zu analysieren und handelt stets im Sinne des Auftrages. Insgesamt zählt Stabsunteroffizier Wohlgethan in seiner Dienstgradgruppe zur Spitzengruppe und erscheint aufgrund seines Leistungsbildes für die Laufbahn der Unteroffiziere mit Portepee besonders geeignet”, schreibt ihm sein Kompaniechef nach dem ersten Einsatz am Hindukusch ins Zeugnis. Wohlgethan hat dort an mindestens zwölf Spezialoperationen teilgenommen. Er hat geschossen, wenn geschossen werden musste. Hat er getötet? Darüber spricht er nicht. „Wenn man nachts ins Richtung des feindlichen Mündungsfeuers schießt, trifft man vielleicht auch.”

Die Angst, die Gewissheit, dass die Familie zu Hause nicht wirklich weiß, was hier tatsächlich los ist. Dass es anders ist als in der Tagesschau um 20 Uhr. Die Taliban haben unter dem Bombenhagel der US-Militärmaschine erst wenige Wochen vor dem Einsatz des Stabsunteroffiziers Achim Wohlgethan die Flucht in die Berge oder nach Pakistan angetreten. Die Menschen aber, die Afghanen, die nach der Sowjet-Invasion 1979, nach dem Stellvertreter-Krieg zwischen USA und UdSSR, als die Taliban noch Mudschahedin hießen, vom Westen hofiert und aufgerüstet wurden, den Krieg noch in allen Knochen und Gliedern haben, die kennen sich besser aus, die sprechen ihre Sprache, nicht unsere, und sie spüren, dass es Achim Wohlgethan und seinen Kameraden nicht wohl ist in ihrer Haut in diesem fremden Land mit den anderen Gerüchen und Geräuschen. „Ihr habt vielleicht die Uhren, aber wir Afghanen haben die Zeit.” Ein Satz, den vielleicht jeder der 158.900 Soldatinnen und Soldaten und anderer Angehöriger der Bundeswehr während ihres Einsatzes gehört haben wird.

Für viele Afghanen, deren Urgroßväter die Briten im 20. Jahrhundert aus dem Land gejagt haben, in das die Soldaten des Empire am 6. April 1839 mit drei Divisionen einmarschiert waren, ist das „Handwerk” des immerwährenden Krieges ihr Alltag. Die mächtige Rote Armee des untergegangenen sowjet-russischen Reiches hat sich zuletzt am Hindukusch blamiert. Sie waren nur zehn Jahre da, von 1979 bis 1989, die Bundeswehr und ihre Alliierten sind jetzt fast 20 Jahre im Land. Die Metapher von der Uhr und der Zeit ist eine Erinnerung daran, dass Afghanistan ein armes Land ist, aber die Menschen haben Geduld gelernt. „Wenn man selbst dort im Einsatz ist, dann fühlt sich diese Geduld furchteinflößend an”, sagt Achim Wohlgethan, denn er und seine Kameraden, sie waren die Gejagten und der Gegner war überall.

Hinter jeder Straßenbiegung, am Ende eines schmalen Weges, an irgendeinem Marktstand, hinter einer Hütte - da könnte der Tod lauern, der letzte Augenblick. Achim Wohlgethan hat davon geträumt, er hat es zum Glück nicht selbst erlebt. Wie nahe er am Ende seines Lebens war, das wird dem Stabsunteroffizier, der mit niederländischen Kameraden in einer Spezialeinheit am Hindukusch operiert hat, erst dann klar, als er nach einem halben Jahr mit dem ersten Kontingent in Afghanistan wieder zurückgekehrt ist nach Oldenburg, in die Region zwischen Weser und Ems. „Ich war einige Tage in der Wohnung einer Freundin und bin ins schwarze Loch gefallen”, erinnert er sich. Achim Wohlgethan fühlt sich allein, schutzlos, überfordert mit dem normalen Leben und den grünen Wiesen, selbst mit der Riesenauswahl im Supermarkt. Er sagt selbst, dass er nicht unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leide. Zehn Prozent aller Soldatinnen und Soldaten, die in Afghanistan waren oder sind, gelten als Betroffene. Achim Wohlgethan hat nach „Endstation Kabul" ein weiteres Buch über seine Erlebnisse des zweiten Einsatzes im Norden Afghanistans geschrieben. „Operation Kunduz”, heißt das Werk, das 2009 erschienen ist. 2010 hat er das „Schwarzbuch Bundeswehr” veröffentlicht, seine Abrechnung mit dem Einsatz am Hindukusch, den er in wenigen Worten zusammenfasst: überfordert, demoralisiert und im Stich gelassen.

Zwei Tage nach seiner Rückkehr nach Deutschland, nach 182 Tagen im Einsatz in Afghanistan, ruft sein Teamführer an. Er will wissen, ob Achim Wohlgethan wohlbehalten zurück ist in der Heimat. Ist er, aber er hat Sehnsucht nach dem wilden, armen Land und seinen widersprüchlichen Menschen. „Ich will zurück, ich will zurück", schluchzt er ins Telefon. nachdem er im Oktober 2002 zurück ist aus Afghanistan. Aber in der Heimat ist Achim Wohlgethan noch lange nicht angekommen. Das, was er erlebt hat, nimmt er mit. Das, was ihn damals umtrieben hat, beschäftigt ihn auch heute. „Deeskalation mag ja schön und gut und in vielen Fällen auch die richtige Strategie sein. So ein schlichtendes Verhalten wird von den Afghanen aber als Schwäche ausgelegt. Defensives Auftreten entsprach in keiner Weise den örtlichen Gegebenheiten und war meinen Erfahrungen nach eher töricht. Waffen sind nun mal wichtig in der afghanischen Gesellschaft. Neben Zigaretten sind sie der Türöffner Nummer zwei, um mit afghanischen Männern ins Gespräch zu kommen”, hat er nach der Veröffentlichung seines ersten Buches ”Endstation Kabul” gesagt. Achim Wohlgethan lebt heute zwischen Wolfsburg und Magdeburg, bietet Seminare an und arbeitet als Schießtrainer, Sicherheitsberater und Personenschützer. Seine Verlobte Jeannette Lohan arbeitet in Colbitz bei Magdeburg mit ihrem Projekt ”Geistreich” mit Menschen und Hunden. Auch Soldaten mit Einsatzerfahrung in Afghanistan sind ihre Klienten. So schließt sich der Kreis zwischen der Heimat und dem Einsatzgebiet.

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