Höhe 432, Deutschlands letzter Vorposten südwestlich von Kundus im Jahr 2011: Ein Dutzend Soldaten hält den Hügel, lebt und schläft hier tagelang in Unterständen unter Bohlendächern und hinter Sandsäcken. Foto: Bundeswehr/Didi

12.09.2021
Marcel Bohnert

„Ich war in einem Krieg, den es nicht geben durfte“

Kein Einsatz hat die Bundeswehr in den vergangenen Jahrzehnten so geprägt wie der in Afghanistan. Doch diese Leistung wird von den Deutschen wenig wertgeschätzt und kaum verstanden. Dieser Beitrag von Oberstleutnant Marcel Bohnert, zuerst veröffentlicht im „Spiegel“ in einer leicht gekürzten Fassung, sollte ein ganz persönlicher Abschluss dieses längsten Krieges in der Geschichte der Bundeswehr werden. Doch in der Zwischenzeit wurde klar: So ganz vorbei war er noch nicht. Nachdem auch die Hauptstadt Kabul an die Taliban gefallen war, flog die Bundeswehr unter schwierigsten Bedingungen Menschen aus, retteten Angehörige des KSK deutsche Staatsbürger. Die weitere Entwicklung in Afghanistan ist nach dem Rückzug der letzten Soldaten aus Kabul unklar, die Zeichen stehen auf Katastrophe.

Es war ein seltsames Gefühl, als ich meine Stiefel nach 200 Tagen Krieg wieder auf heimischen Boden setzte und in die Gesichter meiner Angehörigen blickte. Fast sieben Monate hatten meine Kameraden und ich in der Schlammzone verbracht, wie wir unseren Einsatzort in den Gräben und Feldern von Kundus nannten. Afghanistan hatte uns mürbegemacht, und die fröhliche Menschenmasse, die im Flughafengebäude von Hannover auf uns wartete, wirkte unecht.

Es war der Herbst 2011, vor fast zehn Jahren. Wir waren Rückkehrer und fühlten uns doch wie Entrückte. Der surreale Aufschlag setzte sich fort – in den Armen der Familie, auf der Autobahn, im Steakhouse, im klimatisierten Hotel. Ich kam mir vor wie ein Wandler zwischen zwei Welten. In die Welt, aus der ich zurückkehrte, war die Bundeswehr im Jahr 2001 aufgebrochen, um unter dem traumatischen Eindruck der Anschläge vom 11. September den Terrorismus zu bekämpfen.

Allerdings stolperte sie eher in das geschundene Land am Hindukusch. Kaum jemand konnte sich zu dieser Zeit vorstellen, dass die Bundeswehr in Afghanistan den folgenschwersten Einsatz ihrer Geschichte erleben würde. Dass eine ganze Generation deutscher Soldaten dort lernen würde, was es bedeutet zu kämpfen, zu töten und zu sterben. Keine Mission hat die Bundeswehr so sehr geprägt und verändert – eine Veränderung, die die deutsche Gesellschaft nicht wahrnehmen will.

Wir betraten das Land mit großen Ambitionen: Das Recht auf freie Meinungsäußerung sollte durchgesetzt werden, Menschen- und Frauenrechte, gute Regierungsführung, sogar die Demokratie. Maximal sechs Monate sollte der Einsatz dauern, und man wollte sich mit höchstens 1200 Soldaten engagieren. Wir waren unendlich naiv: Zwei Jahrzehnte hat der Einsatz gedauert, es gab rund 160 000 Entsendungen deutscher Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan. 59 von ihnen kamen nicht lebend zurück, 35 davon starben bei Anschlägen und in Gefechten. Mehrere Hundert wurden verwundet, Tausende traumatisiert.

Was mit umjubelten Patrouillen in der Hauptstadt Kabul begonnen hatte, artete ab 2006 in einen blutigen Guerillakampf aus. Erstmals in der Geschichte stand die Bundeswehr einem offensiv operierenden Gegner gegenüber, der sich inmitten der Bevölkerung bewegte und uns in schwere Kämpfe verwickelte. In den Anfangsjahren der Mission wurden unsere Bodentruppen von internationalen Partnern noch wegen ihrer mangelnden Risikobereitschaft kritisiert. Deutsche Infanteristen dichteten das Akronym ISAF (International Security Assistance Force) in „I Saw Americans Fighting“ um, der nordafghanische Bundeswehrstützpunkt Kundus galt lange als Insel der Stabilität und hieß in der Truppe nur „Bad Kundus“. Doch die Einschläge kamen näher.

Als ich 2011 nach Kundus kam, landete ich in einer Realität, die hierzulande bis heute großes Schaudern auslöst: Streitkräfte dienen der Androhung und Anwendung militärischer Gewalt. Wir Soldaten müssen kämpfen und töten können. Das ist der Wesenskern unseres Berufs und sein entscheidendes Merkmal.

Im September 2011 operierte meine Einheit in Isa Khel. Überwacht von einer Drohne, begleitet von Scharfschützen. Zusammen mit 70 schwer bewaffneten Infanteristen meiner Kompanie rückte ich in den frühen Morgenstunden in den kleinen Ort westlich des Kunduz-Flusses vor. Es war heiß, um die 40 Grad, mit jedem Schritt lief mehr Schweiß unter unsere Schutzwesten. Über Monate hatten wir Patrouillen im gefährlichen Chahar-Darreh-Distrikt durchgeführt und dabei unseren Sicherheitsbereich immer weiter ausgeweitet. Und da standen wir nun: an den Toren von Isa Khel, einem Labyrinth aus Lehmhütten, kleinen Pfaden und unübersichtlichen Gehöften. Es ging darum, Präsenz zu zeigen und Gespräche mit der Bevölkerung, mit Dorfältesten oder lokalen Würdenträgern zu führen.

Jedem Veteranen ist Isa Khel ein Begriff. Am Karfreitag 2010 gerieten Fallschirmjäger hier in einen Hinterhalt der Aufständischen, drei deutsche Soldaten starben in den stundenlangen Gefechten, etliche wurden verwundet. Eine Sprengfalle zerstörte ein Gefechtsfahrzeug vom Typ „Dingo“ – die zerschossenen Türen fanden wir später in einem Flussbett. Wir bargen sie umständlich, heute finden sie sich in einem alten Kinosaal, den das Fallschirmjägerregiment in Seedorf zu einem Gedenkraum umgewidmet hat. Mangels offizieller Initiativen schaffen sich Einsatzverbände so seit Jahren ihre eigenen Traditionen. Es gibt das Ehrenmal der Bundeswehr an der Rückseite des Berliner Bendlerblocks und den Wald der Erinnerung hinter einem Potsdamer Kasernenzaun – für die Stilisierung von militärischen Vorbildern oder etwa den Aufbau von Helden lässt die Gesellschaft aber keinen Raum. Kaum jemand kennt die Namen der 29 Träger des Ehrenkreuzes der Bundeswehr für Tapferkeit.

Schon die Nutzung militärischer Tugendbegriffe wie Ehre, Tapferkeit und Treue birgt die Gefahr, sich ins Abseits zu katapultieren. Das Ausblenden der soldatischen Lebenswelt beschrieb Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble kürzlich als „blinden Fleck in unserer postheroischen Gesellschaft“. Während das Kämpfen in den afghanischen Unruhedistrikten für die Bundeswehr zum Alltag wurde, verharrte man in Deutschland in einer verklärten Sicht auf den Einsatz. Die idealisierte Vorstellung von bewaffneten Wiederaufbauhelfern konnte auch durch die ersten Anschläge mit Gefallenen und Verwundeten nicht nachhaltig erschüttert werden. Die allgemeine Verdrängungsrhetorik hatte über Jahre ein Bild gezeichnet, in dem Soldaten „einsatzbedingt ums Leben“ kamen, nicht in einem Krieg, sondern einem „nicht internationalen bewaffneten Konflikt“.

Das war juristisch sicher einwandfrei, für Soldaten im Felde aber frustrierend und beschämend. Es sollte, es durfte keinen Krieg geben, also auch keine Gefallenen. Selbst innermilitärisch wähnte man sich trotz der eskalierenden Gewalt noch lange in den Denkmustern einer Friedensarmee. Die seit Beginn der Neunzigerjahre laufenden Stabilisierungsmissionen hatten zu der Überzeugung geführt, dass die Strategieschablonen des Bosnien- und Kosovoeinsatzes mit leichten Justierungen auch in Afghanistan angelegt werden können. Die vorherrschende Kultur der Bundeswehr war darauf ausgerichtet, dem Wunsch der Politik zu entsprechen und den unpopulären Eindruck eines Krieges zu vermeiden.

Erst das Kundus-Bombardement 2009, bei dem ein deutscher Oberst einen Angriff auf zwei von Taliban gekaperte Tanklastzüge befahl, und das Karfreitagsgefecht 2010 weckten viele Menschen auf. Irritiert schaute die deutsche Öffentlichkeit plötzlich auf das, was in afghanischen Unruheprovinzen längst kriegerische Realität für Tausende Soldaten war. Was dann folgte, war keine Solidarisierung mit der kämpfenden Truppe. Vielmehr konnten wir allerlei selbstgefällige Äußerungen zu Sinn und Unsinn der Mission hören, begleitet von taktischen Urteilen aus dem Wohnzimmersessel. Die dabei spürbare Überheblichkeit gegenüber allem Militärischen traf uns auch 5000 Kilometer entfernt noch mit voller Wucht.

Bis heute spürt man das Unbehagen. Verstohlene Blicke am Bahnhof, verunstaltete Werbeplakate, Nazi-Vorwürfe und Kotz-Smileys in sozialen Medien – die Liste ließe sich fortsetzen. Die militärischen Leistungen von Soldatinnen und Soldaten stehen selten im Vordergrund. Überhaupt, „militärische Leistungen“: Allein die Rede davon lässt zivile Gesprächspartner zusammenzucken. Ausnahmen bilden Hilfseinsätze wie während der Coronapandemie oder der Hochwasserkatastrophe – da findet die Gesellschaft ihre Wunschsoldaten: lächelnd, hilfsbereit, waffenlos.

Es ist in all den Einsatzjahren nicht gelungen, eine starke Gegenerzählung von einer Truppe zu etablieren, die – von wenigen und, ja, erschreckenden Ausnahmen abgesehen – fest auf dem Boden der Verfassung steht und ihren Auftrag ernst nimmt. Die sich am scharfen Ende des Berufes bewährt und professionalisiert hat. Die im parlamentarischen Auftrag ihren Dienst in den Konfliktregionen dieser Welt versieht – in Mali, am Horn von Afrika, im Südsudan und anderswo. Und so sind es häufig wir Soldatinnen und Soldaten selbst, die sich für das, was der Bundeswehr so entgegenschlägt, rechtfertigen. Die einordnen, erklären und versuchen, die viel beklagte Kluft zur Gesellschaft durch ihr persönliches Beispiel zu schließen. Auch Interessenvertretungen wie der Deutsche BundeswehrVerband hatten daran entscheidenden Anteil.

Einsatzveteranen, selbst Traumatisierte, berichten immer wieder davon, dass sie die Zeit ihrer Auslandsmissionen vermissen. Das liegt auch daran, dass die Gesellschaft ein aufrichtiges Interesse an ihren Erfahrungen vermissen lässt. Sie hat mit der Entwicklung der Bundeswehr nicht Schritt gehalten und pflegt Vorurteile und Halbwissen. Viele Veteranen bleiben dauerhaft Entrückte. Die Rückkehr der letzten 264 deutschen Soldatinnen und Soldaten aus Afghanistan Ende Juni ist unfreiwillig zum Symbolbild für die letzten 20 Einsatzjahre geworden, manche sagen: zu ihrer heimlichen Wahrheit. Ohne Politikerinnen und Politiker und unter den Augen nur weniger Medienvertreter wurde die in Wüstentarn gekleidete Truppe von einem Generalleutnant der Bundeswehr begrüßt. Man blieb unter sich, und womöglich wollte man es auch.

Es ist für eine echte Heimkehr jedoch wichtig, sich den Staub der Einsatzzeit nicht alleine von den Stiefeln putzen zu müssen. Viele Rückkehrende haben das Gefühl, für eine Gesellschaft den Kopf hingehalten zu haben, in der sie nun alleingelassen und als Fremdkörper wahrgenommen werden. Die Bundeswehr ist aber keine Armee von Kriegsfanatikern. Sie ist zivilgesellschaftlichen Normen verschrieben und fest in die Werte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung eingebettet. Es gilt das Primat der Politik; die Kriseneinsätze folgen den Beschlüssen des Parlaments. Es ist daher zuvorderst Aufgabe der Regierung, sich gegen die Skepsis der Gesellschaft zu stemmen und der Truppe aktiv zu mehr Geltung zu verhelfen. Bundeswehrangehörige dürfen erwarten, dass die politische Leitung der Bevölkerung klar vermittelt, unter welchen Rahmenbedingungen, mit welchem Ziel und in welcher Intensität Auslandseinsätze stattfinden. Das wäre die Voraussetzung für Anerkennung und Wertschätzung.

20 Jahre Afghanistan haben die Bundeswehr zu einer modernen Einsatzarmee reifen lassen. Das hat unser Selbstverständnis und unsere Identität nachhaltig geprägt. Die Belastungen und Entbehrungen dieser Zeit, die existenziellen Grenzerfahrungen sind ein verbindendes Element der „Generation Einsatz“ und ein Ankerpunkt ihrer Selbstdefinition geworden. Dabei liegen Stolz auf die eigene Bewährung und das Zerbrechen an bitteren Erfahrungen nah beieinander. Rituale können Heimkehrern dabei helfen, ihren Platz in der gesellschaftlichen Mitte wiederzufinden. Öffentliche Zeremonien wie Appelle oder Militärparaden haben das Potenzial, die einander fremden Lebens- und Erfahrungswelten zusammenzubringen.

Für den 31. August hatte das Verteidigungsministerium schließlich doch eine große Abschlusszeremonie für die Afghanistan-Veteranen in Berlin angekündigt. Geplant war die Teilnahme der Bundeskanzlerin und des Bundespräsidenten, vor dem Reichstagsgebäude sollte ein Großer Zapfenstreich stattfinden. Ein Vorhaben mit großer Symbolkraft und dem Potenzial, der Mission einen ehrenvollen und würdigen Abschluss zu verschaffen. Doch die Lage in Afghanistan gab diesen Tag nicht her: Knapp zwei Wochen vor dem Termin gab das BMVg bekannt, dass man sich mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen mit voller Kraft auf die Evakuierungen der zu schützenden Personen konzentriere. Bleibt zu hoffen, dass sie baldmöglichst nachgeholt werden kann!

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