Mit der Schaffung von Sicherheit oft überfordert: Afghanische Soldaten schützen eine Polizeistation vor den Wahlen im Herbst 2019. Foto: picture alliance/AP Photo

Mit der Schaffung von Sicherheit oft überfordert: Afghanische Soldaten schützen eine Polizeistation vor den Wahlen im Herbst 2019. Foto: picture alliance/AP Photo

02.12.2019
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Analyse zur Lage am Hindukusch: Halb Afghanistan steht heute unter dem Einfluss der Taliban

Berlin. „Nichts ist gut in Afghanistan“, stellte die ebenso meinungsstarke wie sendungsbewusste frühere evangelische Bischöfin Margot Käßmann vor bald zehn Jahren in ihrer Neujahrspredigt fest. Damals setzte ein, was heute gemeinhin als „Shitstorm“ bezeichnet wird. Zugegeben, die Fernanalyse einer Theologin, die – soweit bekannt – keine Afghanistanexpertin ist, wirkte damals einigermaßen wohlfeil. Inzwischen würden ihr aber wohl auch Fachleute zustimmen.

In der Bundesregierung geht man, gestützt auf Erkenntnisse der deutschen Auslandsaufklärung, davon aus, dass die Taliban inzwischen wieder über die Hälfte des Landes beherrschen oder hier zumindest eine aktive Rolle spielen. Fast die Hälfte der afghanischen Bevölkerung befindet sich damit im Einflussbereich der „Gotteskrieger“. Aktiv sind die Taliban aber im ganzen Land und die Moral unter den Kämpfern ist ungebrochen hoch. Mehr noch: Eine Niederlage fürchten sie ganz offenbar nicht.

Sorge bereitet der Bundeswehr auch die Durchhaltefähigkeit der afghanischen Armee (ANA), sollten ihre Verluste so hoch bleiben wie aktuell. Erschwerend kommt hinzu, dass die afghanischen Soldaten mehr oder minder ununterbrochen im Einsatz sind. Die Bundeswehrberater wollen durch Regeneration gegensteuern.

Die genauen Gefallenenzahlen der afghanischen Armee werden seit Oktober 2017 nicht mehr veröffentlicht. Die Verbündeten wurden angehalten, die gemeldeten Zahlen ihrerseits geheim zu halten. Grund dürfte die hohe Zahl an Gefallenen sein, wie die „New York Times“ im Herbst vergangenen Jahres recherchierte.

„Geistersoldaten“ gemeldet

Aber auch die Gesamtstärke der ANA war nur schwer zu ermitteln. Das hängt vor allem mit der verbreiteten Korruption zusammen. Wie aus den jüngsten beiden Quartalsberichten von John Sopko, dem amerikanischen Generalinspekteur für den Wiederaufbau in Afghanistan (SIGAR), hervorgeht, meldeten afghanische Offiziere massenhaft „Geistersoldaten“, um dann deren Sold unterschlagen zu können. Als Anti-„Korruptionsmaßnahme“ wurde eine biometrische Erfassung der afghanischen Soldaten eingeführt, in deren Folge Gefallene, Ausgeschiedene oder Deserteure Schritt für Schritt aussortiert werden konnten.

Doch nicht nur Organisation und Verwaltung, auch der militärische Wirkungsgrad ist ungenügend. Die Operationen der afghanischen Sicherheitskräfte und ihrer westlichen Verbündeten, allen voran der USA, schwächen die Taliban nicht nachhaltig. Auch ihre Führungsfähigkeit können sie trotz Verlusten nicht zuletzt durch Luftschläge aufrechterhalten. Im Norden, Osten und Westen sind sie in den vergangenen Monaten militärisch vielfach siegreich gewesen. Lediglich im Süden mussten sie, wie zum Beispiel in Helmand oder Kandahar, Niederlagen einstecken.

Im BMVg spricht man gar vom Aufbau eines „halbstaatlichen Gebildes“. Die USA gehen davon aus, dass nach einem erfolgreichen Friedensabkommen zwischen 60 000 und 150 000 Talibankämpfer reintegriert werden müssten. Eine Mammutaufgabe, die deutlich macht, dass Afghanistan nach einem möglichen Abkommen weiterhin auf westliche Hilfe angewiesen sein würde.

Allerdings hat der Anschlag auf das sogenannte „Green Village“ in Kabul vom 2. September abermals gezeigt, wie angreifbar die zivilen Wiederaufbaubemühungen sind. Die in der besonders gesicherten Zone untergebrachten deutschen Bundespolizisten und GIZ-Mitarbeiter verließen kurz darauf das Land, wie „Spiegel Online“ berichtete.

Dass deutsche GIZ-Mitarbeiter ihre Projekte aufgrund der schlechten Sicherheitslage nicht vor Ort begleiten, ist indes nicht neu. Die Folgen könnten unterdessen skandalös sein. „Die Zeit“ berichtete im August 2018, dass der Landtag in Kundus – mit deutschen Entwicklungsgeldern gebaut – schwerwiegende Mängel aufweist. Den GIZ-Auftrag soll ein afghanischer Bauunternehmer bekommen haben, dem kriminelle Methoden bis hin zu Erpressung nachgesagt wurden und der eine Miliz unterhalten soll. Die Zeitung warf die Frage auf, ob bei der Vergabe Korruption im Spiel war. Die GIZ bestritt die Vorwürfe öffentlich.

Politische Lösungen nicht in Sicht

Dass Konflikte wie in Afghanistan nicht militärisch, sondern nur politisch gelöst werden können, ist ein Mantra der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Tatsächlich hat Deutschland frühzeitig eine Verhandlungslösung unterstützt. Bereits 2010 soll im Münchener Umland ein geheimes Treffen zwischen US-Vertretern und Taliban stattgefunden haben, welches die Grundlage für echte Friedensgespräche gelegt haben soll. Was folgte, waren zähe, stockende Verhandlungen. Als Präsident Donald Trump acht Jahre später am 7. September 2019 via Twitter deren Ende erklärte, lag das Abkommen sogar „im Prinzip“ vor, wie sich der US-Sondergesandte Zalmay Khalilzad ausdrückte.

Die Bundeswehr rechnet nicht damit, dass die Taliban von ihren Angriffen ablassen werden. Mit Blick auf die angespannte Sicherheitslage hofft sie darum auf eine schnelle Fortsetzung der Verhandlungen. Denn die USA knüpfen die Wiederaufnahme an die Bedingung, dass die Taliban ihre Angriffe reduzieren.

Anfang Oktober fanden offenkundig informelle Gespräche zwischen einer Taliban-Delegation aus Doha und Botschafter Khalilzad in Islamabad statt. Um die Verhandlungsposition des Westens zu verbessern, demonstriert die Nato Stärke. Nachdem Khalilzad vor dem Nordatlantikrat in Brüssel vorgetragen hatte, betonte Generalsekretär Jens Stoltenberg vor der Weltpresse die Geschlossenheit der Allianz: „Wir sind gemeinsam nach Afghanistan gegangen, wir werden die Entscheidung über unsere zukünftige Präsenz vor Ort gemeinsam treffen und, wenn die Zeit reif ist, werden wir gemeinsam abziehen.“ Wenige Tage später, Ende Oktober, reiste der US-Sondergesandte dann auch nach Kabul.

Die afghanische Regierung um Präsident Aschraf Ghani spielt wiederum nur eine untergeordnete Rolle. Einerseits, weil die Taliban die Zentralregierung strikt ablehnen und nur mit den USA sprechen wollen. Andererseits, weil die Auszählung der Präsidentschaftswahl vom 28. September so lange andauert. Ghani und sein Konkurrent, der bisherige Regierungschef Abdullah Abdullah, haben sich vorsorglich beide zu Siegern erklärt. Wegen massiver Sicherheitsprobleme hatte nur rund ein Fünftel der Wahlberechtigten von seinem Stimmrecht Gebrauch gemacht. Zehntausende Sicherheitskräfte waren im Einsatz, dennoch kam es zu schweren Anschlägen auf Wahlkampfveranstaltungen.

Größter Auslandseinsatz

Mit einer tatsächlichen Kontingentstärke von rund 1 200 Soldatinnen und Soldaten bei einer Mandatsobergrenze von 1 300 ist die Mission Resolute Support (RSM) der derzeit größte Auslandseinsatz der Bundeswehr. Am 31. März 2020 läuft das Mandat aus, eine Verlängerung gilt als sicher. Sollten die USA ihre Truppen abziehen, müsste auch die Bundeswehr ihre Sachen packen. Doch danach sieht es im Moment nicht aus. Aktuell umfasst das US-Kontingent noch 14 000 Soldatinnen und Soldaten. Sollten sich die Taliban, wie von Washington gefordert, auf einen Waffenstillstand einlassen, ihre Unterstützung für internationale Terrororganisationen wie Al-Quaida einstellen und innerafghanischen Friedensverhandlungen zustimmen, könnte der Truppenabzug beginnen.

Präsident Trump selbst nannte im September gegenüber dem Radiosender „Fox News“ als erste Zielgröße die Zahl 8 600. Im Nato-Rahmen abgestimmt, wäre eine Verkleinerung des deutschen Kontingents dann unumgänglich. Die Pläne hierfür sollen bereits in den Panzerschränken liegen. Damit ist aber auch klar, dass die USA selbst nach einem erfolgreichen Vertragsabschluss mit den Taliban mit einem kleineren Kontingent für Anti-Terror-Operationen im Land bleiben würden. So wären sie außerdem reaktions- und aufwuchsfähig, sollten die „Gotteskrieger“ vertragsbrüchig werden.

Ob dann auch Deutschland die Bereitschaft aufbringt, gemeinsam mit seinen Verbündeten und Partnern „das Spektrum militärischer Mittel, wenn nötig, auszuschöpfen“, wie es Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer in ihrer vielbeachteten Rede an der Universität der Bundeswehr München gesagt hat, bleibt abzuwarten.

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