„Die Zukunft der Einsätze wird zunehmend durch Unsicherheit bestimmt“
Generalleutnant Bernd Schütt leitet die Abteilung Strategie und Einsatz im Verteidigungsministerium. Im Interview gibt er eine Einschätzung zur Sicherheitslage in den Einsatzgebieten und erläutert, warum die Einsatzlandschaft aktuell im Umbruch ist und bewaffnete Drohnen dringend benötigt werden.
Die Bundeswehr: Wie stellt sich die aktuelle Lage in den Einsätzen der Bundeswehr – auch in Bezug auf Personal und Material – dar?
Generalleutnant Bernd Schütt: SARS-CoV-2-bedingte Auswirkungen sind derzeit in nahezu allen Einsätzen in der Auftragserfüllung, insbesondere bei den Ausbildungs- und Beratungsmissionen zu verzeichnen. Auf die personelle und materielle Einsatzbereitschaft unserer Einsatzkontingente wirkt sich die Corona-Pandemie jedoch nicht unmittelbar aus. So haben wir am heutihgen Tag, dem 5. Juni, keine an COVID-19 erkrankte Kameradinnen und Kameraden im Einsatz.
Zu diesem positiven Sachstand haben maßgeblich die für alle Einsatzgebiete in unterschiedlichem Umfang etablierten Hygiene- und Schutzmaßnahmen beigetragen, die von der Truppe sehr diszipliniert umgesetzt werden.
Dabei verkennen wir nicht, dass die 14-tägige isolierte Unterbringung in Deutschland vor dem Einsatz sowie die teils durch die Vereinten Nationen geforderte, weitere 14-tägige (kohorten-)isolierte Unterbringung nach Eintreffen im Einsatzland für unsere Soldatinnen und Soldaten eine erhebliche zusätzliche Belastung bedeuten. Die Mehrheit der betroffenen Kameradinnen und Kameraden hat dafür Verständnis, denn ein Einschleppen des Virus in die Einsatzgebiete durch die Truppe hätte erhebliche Konsequenzen für die Einsatzbereitschaft, die Reputation und damit verbunden letztlich auch für die Sicherheit der nationalen wie der internationalen Einsatzkontingente.
Wie schätzen Sie die Gefährdungslage in den Einsatzgebieten und insbesondere in Mali mit der Ausweitung des EUTM-Mandats ein?
Die großen Herausforderungen wie Terrorismus, organisierte Kriminalität, irreguläre Migration, Nahrungsmittelknappheit und demografische Entwicklung in Verbindung mit wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit der jungen Generationen bestehen unverändert fort. Die Sicherheitslage – insbesondere im Zentrum Malis – gibt unverändert Anlass zur Sorge. Grenzüberschreitend agieren hier terroristische Gruppierungen im Länderdreieck Mali, Burkina Faso sowie Niger und gewinnen zunehmend an Boden.
Die sich verschlechternde Sicherheitslage, der schleppende Fortgang des Versöhnungsprozesses und die hohe Einsatzbelastung der örtlichen Sicherheitskräfte erfordern daher die fortgesetzte Unterstützung durch die internationale Staatengemeinschaft, auch militärischer Art. Vor diesem Hintergrund hat die strategische Überprüfung der europäischen Trainingsmission in Mali ergeben, dass eine einsatznähere Ausbildung und Beratung sowie die Ausweitung des Missionsgebiets auf alle G5-Sahel-Staaten erforderlich sind. Ziel ist die Effektivitätssteigerung der Mission entlang der beiden strategischen Ziele: „Verbesserung der operativen Fähigkeiten der malischen Streitkräfte“ sowie „Unterstützung der G5-Sahel-Staaten“.
Die zukünftige deutsche Beteiligung richtet sich an diesem – an die aktuelle Lage angepassten – EUTM-Mandat aus. Dies betrifft insbesondere die beabsichtige Unterstützung der malischen Streitkräfte beim Aufbau und Betrieb eines neuen Ausbildungszentrums in Zentralmali sowie die verstärkte Unterstützung der nigrischen Spezialkräfte durch die Integration der bisher bilateralen deutsch-nigrischen Military Assistance Mission „Gazelle“ in das EUTM-Mali-Mandat. Schwerpunkte sind hier einerseits die Begleitung der nigrischen Spezialkräfte in Ausbildung, Übung und Einsatz zur zielgerichteten Weiterentwicklung von Fähigkeiten sowie der Aufbau einer Schule für Spezialkräfte der Region in Tillia.
Wie geht es mit dem deutschen militärischen Engagement in Afghanistan weiter, wenn die politischen Freunde aus dem Land abziehen?
Afghanistan ist mal wieder am Scheideweg. Das US-Taliban-Agreement ist ein erster Schritt hin zu einem sicherlich noch länger dauernden Friedensprozess in Afghanistan. Die dort vereinbarten Zeitlinien sind ambitioniert und spiegeln derzeit noch nicht die Lage vor Ort wider.
Noch fehlen gemeinsam in der Nato beschlossene, richtungsweisende politische Entscheidungen zum Way-Ahead. Diese werden zurzeit vorbereitet. Dabei ist es aus unserer Sicht entscheidend, klar zu definieren, unter welchen Bedingungen die Nato ihre Truppenpräsenz verringern beziehungsweise beenden wird. Weitere Planungsparameter erwarten wir in den kommenden Monaten, insbesondere aus den Nato-Verteidigungsministertreffen im Juni und Oktober dieses Jahres.
Für uns gilt unverändert, dass wir als Rahmennation für den Norden Afghanistans zu unserer Verantwortung – auch gegenüber unseren langjährigen multinationalen Partnern – stehen. Gleichzeitig ist festzustellen, dass ein deutsches militärisches Engagement in Afghanistan ohne große Partner nicht möglich ist. Das vielfach zitierte und immer wieder beschworene Prinzip des „in together – adjust together – out together“ gilt auch für uns uneingeschränkt!
In dieser Situation gilt es, in den nächsten Monaten Lösungen im multinationalen Rahmen unter Beteiligung der internationalen Organisationen wie Nato, UN und EU zu finden. Angesichts der skizzierten Unsicherheiten müssen wir auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Vor diesem Hintergrund planen wir verschiedene Optionen bis hin zum Abzug aus. Die hierfür erforderlichen Vorbereitungsmaßnahmen werden wir zeitgerecht und situationsabhängig einleiten.
Ist für die neue EU-Mission EUNAVFOR MED Irini der Einsatz von mehr Personal geplant als der derzeitige Ansatz mit einem Seefernaufklärer und Personal im Hauptquartier in Rom?
Die Mission EUNAVFOR MED Irini soll eine stabilisierende Wirkung auf Libyen entfalten und zu einem durch die Vereinten Nationen geführten politischen Friedensprozess aktiv beitragen. Zur Hauptaufgabe gehört, einen Beitrag zur Umsetzung des Waffenembargos der Vereinten Nationen zu leisten. Daran kann sich Deutschland gemäß der beschlossenen Mandatsobergrenze mit bis zu 300 Soldatinnen und Soldaten beteiligen.
Neben der Gestellung von Stabspersonal haben wir im Rahmen der aktuellen EU-Planungen für das zweite Halbjahr 2020 bereits einen Wechsel vom derzeitig eingemeldeten Seefernaufklärer hin zur Gestellung einer seegehenden Einheit bei der EU angezeigt, so dass Deutschland stets mit einem wichtigen und sichtbaren Beitrag beteiligt ist.
Welche Entwicklung der Einsätze der Bundeswehr ist abzusehen beziehungsweise existieren Brandherde, wo sich ein möglicher deutscher Einsatz abzeichnet?
Ich sehe die Einsatzlandschaft insgesamt im Umbruch. Die Interessen und das Engagement der großen Akteure ändern sich, Ad-hoc-Bündnisse gewinnen an Einfluss, Ressourcen werden unter anderem mit Bezug zu Landes- und Bündnisverteidigung umgesteuert und es gibt eine gewisse Ernüchterung in Bezug auf die erforderliche Dauer und den Grad der Zielerreichung bei Stabilisierungsmissionen.
Viele langjährige Konstanten des internationalen Krisenmanagements geraten so ins Wanken und die Zukunft der Einsätze wird zunehmend durch Unsicherheit bestimmt. Die mittel- und langfristigen Auswirkungen von COVID werden diesen Prozess meines Erachtens noch beschleunigen und verstärken. Fest steht aber auch, dass sich die Krisen dieser Welt nicht von allein auflösen werden und das internationale Engagement zum Wohle von Frieden und Freiheit erforderlich bleiben wird.
Über Sahel und die Unwegsamkeit des Afghanistan-Einsatzes haben wir bereits gesprochen. Aber auch bezüglich der Zukunft der unterschiedlichen Operationen zum Beispiel im Irak gibt es derzeit viele Fragezeichen. Wie wird sich das USA-Engagement in der Region darstellen? Wird es weiterhin eine irakische Akzeptanz und den Bedarf für eine internationale Präsenz geben? Wie wird sich die Rolle der Nato in der Region entwickeln? Das sind nur einige der Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen.
Vor diesem Hintergrund müssen wir darauf eingestellt sein, flexibel und zum Teil recht kurzfristig zu reagieren, um unseren Beitrag im internationalen Kontext zu leisten. Dafür bedarf es entsprechender Kräfte, Mittel und Ressourcen. Dies darf auch in der Zeit nach Corona nicht aus den Augen verloren werden. Kurzum: Einsatzbereite, modern ausgerüstete, gut ausgebildete und verlegbare Streitkräfte bleiben der Schlüssel für unseren angemessenen Beitrag zum internationalen Krisenmanagement, unabhängig davon, wo der nächste Einsatz erforderlich wird.
Wie wichtig ist in diesem Zusammenhang die Ausrüstung der Bundeswehr mit bewaffneten Drohnen?
Ohne einer politischen Entscheidung zu einer möglichen Bewaffnung von Drohnen der Bundeswehr vorgreifen zu wollen, stelle ich auf der Grundlage meiner Erfahrung aus vier Einsätzen fest, das bewaffnete Drohnen bereits heute außerhalb der deutschen Streitkräfte integraler Bestandteil der Einsatzrealität sind, sie über Fähigkeiten für das gesamte Aufgabenspektrum verfügen und dass die Beherrschung ihrer Einsatzgrundsätze zum taktischen Handwerkzeug militärischer Führer in internationalen Einsätzen gehört.
Sie sind meines Erachtens elementar insbesondere mit Blick auf die Verbesserung des Schutzes unserer Frauen und Männer in den Einsätzen. Mit ihren besonderen Eigenschaften wie Stehzeit, Reichweite, Sensormix, Echtzeitübertragung und redundanter Zielprüfung erleichtern sie die Zielidentifizierung, -verfolgung und -bekämpfung bei geringer eigener, aber auch ungewollter Fremdgefährdung. Dabei sind sie skalierbar in ihrer Wirkung, können effektbasiert abschrecken oder präzise bekämpfen und helfen so, Kollateralschäden zu vermeiden.
Insgesamt sind bewaffnete Drohnen aus meiner Bewertung hocheffektive, von der Truppe im Einsatz gewünschte und auch benötigte Waffensysteme!