Das Café Kyiv wird von der Konrad-Adenauer-Stiftung im Berliner Colosseum veranstaltet. Foto: DBwV/Philipp Kohlhöfer

Das Café Kyiv wird von der Konrad-Adenauer-Stiftung im Berliner Colosseum veranstaltet. Foto: DBwV/Philipp Kohlhöfer

24.02.2024
Von Philipp Kohlhöfer

Zwei Jahre Vollinvasion, jahrhundertelang Krieg

Zwei Jahre liegt die russische Vollinvasion der Ukraine jetzt zurück. Die ukrainische Armee wehrt sich tapfer, aber auch aufgrund mangelnder westlicher Unterstützung ist die Lage an der Front im Moment äußerst kritisch. Vor diesem Hintergrund fand am Montag das Unterstützerforum Café Kyiv in Berlin statt.

Es ist das Jahr der schlechten Jubiläen für die Ukraine. Am 24. Februar jährt sich die russische Vollinvasion der Ukraine zum zweiten Mal. Nicht viel später liegt die Krim-Annexion zehn Jahre zurück. Und im Dezember 1994 wird das letztlich nutzlose „Budapester Memorandum“ unterzeichnet, das der Ukraine die Unverletzbarkeit ihrer Grenzen garantiert, wenn sie sich atomar abrüstet. Schon zuvor startet der russische Kulturimperialismus, denn Denkschriften, wie man die Ukraine zurückholt ins russische Reich, entstehen schon sofort nach dem Zerfall der Sowjetunion.

In der Woche vor dem 24. Februar und damit vor dem Jahrestag des bisher größten Angriffs auf die Freiheit der Ukraine veranstaltet die Konrad-Adenauer-Stiftung im Colosseum in Berlin das Café Kyiv, eine Veranstaltung, die die ukrainische Zivilgesellschaft und auch das Militär unterstützen soll, indem sie über das Land aufklärt. Das Colosseum ist Kino seit 1924, zehn Säle, alle voll, hunderte Menschen sicher, im Laufe des gesamten Tages vermutlich mehrere tausend. Panels finden in den Sälen statt zu allen möglichen Themen, „Geschichte als Waffe“ etwa oder „Humanitäre Arbeit in der Ukraine: Aktuelle Herausforderung“, es gibt „Not a lonely fight“, wo es darum geht, wie man die Unterstützung Deutschlands aufrechterhalten kann und „Shorten the war through sanctions“. Beliebt auch „Der Weg der Ukraine in die NATO“.

Die Kinosäle sind umbenannt für diesen Tag. Man geht nicht in Kino 4 oder 10, sondern nach Mariupol und Kyiv und Krywyj Rih. Die Stimmung in den Panels ist ernst und konzentriert. Aufgelockert wird alles durch ukrainisches Essen und Kunst und Kultur. Es ist eine Mischung aus Landesausstellung und Politikseminar. Vor allem aber ist es eine Selbstvergewisserung. Die Lage an der Front mag schlecht sein, aber wir sind noch da, das ist die Botschaft.

André Wüstner, der Bundesvorsitzende des Deutschen BundeswehrVerbands, ist auch da, er kommt früh. Da ist es noch nicht so voll, die Veranstaltung aber schon hochkarätig. Man steht nur kurz herum, sieht sich das Programm an, das in den verschiedenen Kinos geboten wird und dann kommt sofort jemand vom Rundfunk und sammelt O-Töne. „Zu der Veranstaltung oder zu dem Krieg in der Ukraine?“ fragt Wüstner und der Pressemann erwidert: „Zu allem.“ Bisher,  sagt Wüstner, sei das mit der Zeitenwende ja eher mit angezogener Handbremse gelaufen und es sei an der Zeit, dass wir die endlich mal lösen. Gute Veranstaltung, schwierige Lage an der Front. So oder ähnlich hat man das schon mal gehört, aber es das stimmt ja auch und muss auch ständig erwähnt werden: Die Ukraine kauft uns Zeit, die müssen wir nutzen, um uns verteidigungsfähig zu machen.

Es liegt in unserem eigenen Interesse, die ukrainische Armee mit allem zu unterstützen, was unsere Arsenale hergeben. Berlin, sagt Wüstner, sei die Stadt der Freiheit und die Frage sei, ob auch Kiew nach dem Krieg die Stadt der Freiheit werden könne. Er kommt gerade aus München von der Sicherheitskonferenz. Er sagt: „Wir müssen verteidigungsfähig werden.“ Der Pressemann nickt. Danke für das Statement.  

Claudia Major läuft rum, Carlo Masala ist da, Gustav Gressel und Nico Lange, Ursula von der Leyen kommt, am Abend ist Wladimir Klitschko in dem Kinogebäude, zuvor der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev. Ist man im Thema, gibt es niemanden, den man nicht kennt.  Die Stimmung unter Experten und Besuchern schwankt zwischen „Gut, dass so viele Leute sich engagieren“ und „an der Front läuft es gerade richtig mies“. Die meisten gehen davon aus, das Russland Deutschland in ein paar Jahren einen Krieg aufzwingen wird – was nicht heißt, dass der thermonuklear und global geführt werden wird, denn dann ist sowieso alles egal und Pläne überflüssig, aber in einer hybriden Auseinandersetzung sind wir bereits. Die kann sich zwar theoretisch auch in jede Richtung entwickeln, aber weil aus Putins Russland bisher immer nur eskaliert wurde, wäre es schon eher überraschend, wenn das diesmal nicht passiert. Ohne an dieser Stelle jemanden zitieren zu wollen: Unterhalb der Schwelle „Artikel 5“ ist vieles vorstellbar.

Das Café Kyiv wird zum zweiten Mal veranstaltet. Wenn man im letzten Jahr dort war, damals im Café Moskau, das für die Veranstaltung in Café Kyiv umbenannt worden war, dann erkennt man Leute wieder. Updatet sich. Bestärkt sich. Es ist wie ein großes Klassentreffen und später merkt man das auch. Die Stimmung lockert sich dann, es wird Bier getrunken und die Gespräche zwischen den Panels werden wichtiger als die Panels selbst.

Am Nachmittag wird es voll, sehr voll. Die Besucher warten in langen Schlangen vor der Tür, irgendwann kommt man nicht mehr in das Gebäude, da ist die Garderobe schon lange wegen absoluter Überfüllung geschlossen. Kommt einem dann so vor, als ob die Unterstützung der Ukraine gar nicht kritisch ist, alle sind dafür, aber sieht man genau hin, merkt man das Problem. Viele Hipster sind da, mit lustig-ironischen Oberlippenbärten, die in Wahrheit natürlich genauso hart nerven wie ihre Träger, mit Vokuhilas und Hosen, die zu kurz sind und das ist natürlich ein Problem, denn die große Mehrheit der Leute sieht eben nicht so aus und schon im Kiosk auf der anderen Straßenseite und erst Recht bei Burger King zweihundert Meter weiter sind die Themen völlig andere und die Ukraine ist, wenn überhaupt, nur ein Thema unter vielen (Selbstversuch gemacht, in Wahrheit interessiert das Thema niemanden).

Vergleicht man das mit Franzosen oder Spaniern und Italienern, sind die Deutschen noch recht stabil, was ihre Unterstützung für die Ukraine angeht. Einerseits. Andererseits sind Debatten wie über Taurus einem Großteil der Bevölkerung einfach völlig egal, auch das zeigen Umfragen. Und die Erfahrung lehrt: Die ständige Konfrontation mit einem Thema führt im Idealfall zu Desinteresse, im schlechtesten Fall allerdings zu einer Gegenreaktion namens Ablehnung. Generell ist die Tendenz wenig erbauend: Die Unterstützung für die Ukraine in der Bevölkerung sinkt.

Eine neue Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) von Marcel Fratscher zeigt, dass die Unterstützung der Ukraine den Deutschen ökonomische Kosten von etwa 200 Milliarden Euro beschert hat. Fratscher sagt, dabei handle es sich um direkte wirtschaftliche Kosten, die indirekten seien nicht eingerechnet, die Summe also viel höher.  Zusätzlich kämen noch weitere Kosten durch die wegen des Krieges „eskalierenden geopolitischen und geoökonomischen Konflikte, vor allem mit China“. Da fragt man sich ernsthaft, für was diese Rechnung gut sein soll. Weder haben die Deutschen die Ukraine überfallen, noch können sie etwas für die sich daraus ergebende geopolitische Lage. Aus einer weitgehend vernünftigen Reaktion auf einen Angriffskrieg eine Rechnung aufzumachen, was das gekostet hat, stellt den Sicherheitsaspekt sofort in eine Reihe und eine Wichtigkeit mit allem anderen – etwa Urlaubsreisen, die man deswegen nicht machen kann, oder Unterhaltungselektronik, die man jetzt doch nicht kauft – und vergisst, dass ohne Sicherheit der schönste neue Fernseher völlig egal ist. So viel Meinung muss in diesem Text sein: Diese Studie dient ausschließlich der Stärkung der Ränder der deutschen Gesellschaft – auch wenn das bestimmt nicht beabsichtigt ist.

Und natürlich bewegt man sich im Café Kyiv in seinem eigenen Meinungsraum. Im Colosseum sind nur diejenigen, die es ohnehin interessiert. Die Blase bricht das nicht, die anderen erreicht man damit nicht – da kann das Informationsangebot noch so gut sein. Aber notwendig ist die Veranstaltung trotzdem. Schließlich hat sich das Ziel der Russen nicht verändert, die ukrainische Identität soll nach wie vor ausgelöscht werden. Dass das keine neue Idee der Russen ist, wissen mittlerweile alle, die es wissen wollen.

Bereits im 19. Jahrhundert unterdrückt Russland die ukrainische Nationalbewegung: Sprache und Kultur sind verboten. 1863 stellt das russische Innenministerium fest: „Eine eigene kleinrussische Sprache hat es nie gegeben, gibt es nicht und wird es nie geben“ Vielmehr spreche das Volk in diesem Teil des Reiches einen „verdorbenen“ Dialekt. Und so beginnt der Krieg Russlands gegen die Ukraine natürlich nicht am 24. Februar 2022. Aber er beginnt eben auch nicht mit der Annexion der Krim 2014. Sondern viel früher.

Russland macht nicht nur keinen Unterschied zwischen dem Überleben des ukrainischen Volkes und dem Überleben seiner Geschichte und seiner kulturellen Identität, es ist auch eine revisionistische Macht. Moskau kämpft nicht nur darum, sich die Ukraine einzuverleiben, sondern auch für die Abschaffung des westlich dominierten Rechtssystems – und deswegen darf die Ukraine nicht alleine kämpfen. Der Sieg der Ukraine ist in deutschem Interesse, weil ansonsten wieder das Recht des Stärkeren gilt und die Wahrscheinlichkeit eines Krieges im Rest von Europa steigen wird. Der Vergleich Russlands mit der Sowjetunion unter Breschnew ist denn auch sehr schief, denn da ging es darum, den Machtbereich zu konsolidieren. Russland ist heute, wenn man das denn vergleichen will, eher die Sowjetunion unter Stalin, die Weltrevolution ist jetzt die Zerschlagung des westlich geprägten internationalen Systems.

Mitte Februar im Café Kiyv wissen das alle. Man rennt offene Türen ein, wenn man das erzählt. Jeder weiß, um was es geht, man muss nicht Dinge zum 400sten Mal analysieren, denn das hilft keinem. Wir müssen ins Handeln kommen, und zwar in ganz großem Maßstab. Die Gespräche zwischen den Panels drehen sich denn auch eher um die Kapazitäten der Industrie. Im Ersten Weltkrieg wurden 850 Millionen Garanten hergestellt, in vier Jahren, von allen Beteiligten. 425 Millionen in zwei Jahren. Das war vor 110 Jahren. Die westlichen Mächte von damals sind heute wieder beteiligt. Das Bruttosozialprodukt der NATO-Verbündeten ist 36-mal höher als das Russlands. Und dennoch schaffen wir es in zwei Jahren nicht, eine Million Granaten auszuliefern. Schon klar, andere Zeit, anderes Verständnis von Militär und Gesellschaft, aber wenn sich das nicht ändert, superschnell ändert, wird das die letzte Café Kyiv Veranstaltung gewesen sein.

Granaten für die Ukraine werden dann nicht unser drängendes militärisches Problem sein. Granaten für uns aber schon.

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