„Wir werden bedroht, also brauchen wir mehr Verteidigung.“
Dr. Graf, welche zentralen Erkenntnisse ziehen Sie aus Ihrer repräsentativen Studie mit dem Titel „Zeitenwende im sicherheits- und verteidigungspolitischen Meinungsbild“, die das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr einmal pro Jahr durchführt?
Dr. Timo Graf: Der zentrale Befund unserer Studie, für die vom 13. Juni bis zum 17. Juli dieses Jahres 2741 zufällig ausgewählte deutschsprachige Personen im Alter über 16 Jahren befragt wurden, ist dieser: Die verteidigungspolitische Zeitenwende schlägt sich deutlich im sicherheits- und verteidigungspolitischen Meinungsbild der deutschen Bevölkerung nieder. Vier Aspekte sind dabei von besonderer Bedeutung.
Erstens, die Bedrohungswahrnehmung der Deutschen hat sich fundamental verändert. In den Vorjahren wurden steigende Preise – das ist der Klassiker – sowie Migration und Corona als Hauptbedrohungen wahrgenommen, während sicherheits- und verteidigungspolitische Bedrohungsfaktoren sich in unserem Ranking stets ganz unten befanden. Jetzt hingegen dominieren sicherheits- und verteidigungspolitische Sorgen, die einen direkten oder indirekten Bezug zu Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine haben. Russland selbst wird inzwischen von einer absoluten Mehrheit als Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands wahrgenommen. Das ehemals ambivalente Russlandbild der Deutschen ist mit dem Ukraine-Krieg also der Erkenntnis gewichen, dass Russland eine reale Gefahr darstellt – auch für Deutschland.
Zweitens, diese veränderte Bedrohungswahrnehmung führt zu einer größeren öffentlichen Zustimmung zur Landes- und Bündnisverteidigung der Bundeswehr, ganz konkret zur Verteidigung der NATO-Ostflanke. Während wir hier früher ein sehr ambivalentes Meinungsbild hatten, parallel zum ambivalenten Russlandbild, stimmt nun eine absolute oder eine große relative Mehrheit der Befragten der Beteiligung der Bundeswehr an den anerkannten Missionen zur Sicherung der Ostflanke zu: 51 Prozent Zustimmung für eFP Litauen und die Luftraumüberachung über Polen, 48 Prozent für das Air Policing im Baltikum und 46 Prozent für die Luftverteidigung in der Slowakei.
Ein dritter Punkt: Hat sich in den Vorjahren bereits eine relative Mehrheit der Deutschen für die Erhöhung der Verteidigungsausgaben ausgesprochen, so plädieren aktuell sechs von zehn Deutschen für eine weitere Erhöhung der Verteidigungsausgaben – und das wohlgemerkt lange nach der Verkündigung des 100-Milliarden-Pakets für die Bundeswehr!
Viertens: Noch nie haben die Menschen in Deutschland der Bundeswehr mehr vertraut als jetzt. Wir haben hier einen Rekordwert von 88 Prozent registriert. In unserem Institutionen-Ranking liegt die Bundeswehr zum ersten Mal auf Platz zwei, direkt hinter dem absoluten Liebling der Deutschen, der Polizei.
Kurz zusammengefasst: Russland wird mehrheitlich als Bedrohung erkannt, woraus eine höhere Zustimmung zur Landes- und Bündnisverteidigung, eine nochmals größere Bereitschaft zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben sowie ein weiteres Image-Plus bei der Bundeswehr folgen. Die große Mehrheit der Deutschen reagiert also ganz realistisch auf die radikal veränderte Bedrohungslage. Kurzum: Wir werden bedroht, also brauchen wir mehr Verteidigung.
Auf Platz eins der von Ihnen ermittelten Bedrohungsfaktoren stehen „steigende Preise“. Für 78 Prozent der Menschen ist dies die größte Bedrohung. Es folgen die Spannungen zwischen dem Westen und Russland (60 Prozent), der globale Klimawandel (50 Prozent), Krieg in Europa (45 Prozent), weltweites militärisches Wettrüsten (44 Prozent), Krieg mit Atomwaffen (42 Prozent). Wie ist das zu deuten?
Nach „steigende Preise“ auf Platz eins folgt eine Reihe von sicherheits- und verteidigungspolitischen Bedrohungen, die alle einen Bezug zur Ukraine aufweisen – direkt oder indirekt. Interessant ist folgendes: Obwohl sich die Deutschen von steigenden Preisen massiv bedroht fühlen, plädiert eine absolute Mehrheit von 78 Prozent für eine Unabhängigkeit von russischen Gaslieferungen. Und trotz der immensen Furcht vor steigenden Preisen sprechen sich 67 Prozent dafür aus, die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland einzuschränken. Das heißt: Die Kriegsfolgekosten sind spürbar und schlagen sich als Bedrohungsfaktor auch deutlich nieder, und dennoch sind die Deutschen bereit, die eingefrorenen Wirtschaftsbeziehungen zu Russland eingefroren zu lassen. Es hat also erkennbar ein Umdenken dahingehend eingesetzt, dass man langfristig von russischen Gaslieferungen wegkommen muss. Allerdings könnte dies eine volatile Angelegenheit sein, wenn man an die drastisch gestiegenen Energiepreise und den bevorstehenden Winter denkt. Es könnte sein, dass angesichts dieser Entwicklungen demnächst wieder einige Menschen mehr dafür plädieren, auf Russland zuzugehen. Wir werden das auf jeden Fall im Blick behalten müssen.
Handelt es sich bei den Befunden Ihrer Studie insgesamt um nachhaltige Veränderungen, oder können die Bewertungen ganz schnell wieder kippen?
Das bleibt abzuwarten. Aufschlussreich ist hier eine Betrachtung der öffentlichen Meinung zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben und zur Zahl der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. Seit dem Jahr 2000 stellen wir diese Fragen in der gleichen Art und Weise, weshalb wir Veränderungen im öffentlichen Meinungsbild verlässlich abbilden können. Bei der letzten wirklichen Zeitenwende im Jahr 2001 war bei dieser Frage ein starker Anstieg von mehr als 20 Prozentpunkten zu erkennen. Aber danach nahm die hochgeschnellte Zustimmung rasch wieder ab. Es handelte sich also um keine nachhaltige Einstellungsveränderung der Bevölkerung, eher ein Strohfeuer. Blickt man hingegen auf das Jahr 2014, als Russland die Krim annektierte, sowie auf das Jahr 2015, in dem der Syrien-Konflikt begann und wir uns mit der Migrationskrise konfrontiert sahen, erkennt man erneut enorme Zuwächse in der Zustimmung der Bevölkerung zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben und der Zahl der Soldatinnen und Soldaten. Interessant ist hier: Nach 2014/2015 hat sich diese Zustimmung der Menschen zu höheren Verteidigungsausgaben auf einem höheren Niveau stabilisiert. Die Zustimmungswerte lagen – auch nach der akuten Krisenphase – bei 39 bis 51 Prozent. Ich führe diese Vergleiche an, um eines deutlich zu machen: Es ist nicht klar absehbar, wie stabil bzw. nachhaltig Einstellungsveränderungen in der Bevölkerung sind. Die Terroranschläge von 9/11 waren sicherheits- und verteidigungspolitisch ein riesiger Game-Changer – bei der Bevölkerung hat das aber nicht weiter verfangen. Und 2014, als man dachte, das sei vor allem eine Eliten-Diskussion rund um den „Münchener Konsens“, stellte sich folgendes heraus: Diese veränderte Sicherheitslage kam im Bewusstsein der Bevölkerung an, es ergab sich ein neues Niveau der Risikobewertung. Es bleibt also spannend. Wir müssen weiter beobachten, wie sich die Stimmung in der Bevölkerung entwickelt.
Ihre Daten bedeuten also, dass die deutsche Bevölkerung bereits ab 2014/2015 bereit gewesen wäre, höhere Verteidigungsausgaben für die Bundeswehr mitzutragen?
Ja, das bildet sich in den Zahlen ganz klar ab. Die Bevölkerung hat vor der Politik schon dafür plädiert, die Truppe besser auszustatten, finanziell und personell. Das heißt: Die Bevölkerung hat an dieser Stelle nicht gebremst.
Welche qualitativen Unterschiede haben Sie bei Ihrer aktuellen Befragung zwischen Jung und Alt, zwischen Frauen und Männern, zwischen alten und neuen Bundesländern, zwischen unterschiedlichen Bildungsniveaus und hinsichtlich der parteipolitischen Präferenzen festgestellt?
Wir untersuchen das sicherheits- und verteidigungspolitische Meinungsbild tatsächlich auch ganz differenziert nach soziodemografischen Teilgruppen. In der aktuellen Situation findet man je nach betrachteter Einstellung zwar durchaus signifikante statistische Unterschiede, aber konträre Meinungen der jeweiligen Bevölkerungsgruppen sind nicht feststellbar. Es geht vielmehr alles in dieselbe Richtung, unabhängig davon, ob man die Verteidigungsausgaben betrachtet oder die Zustimmung zur verstärkten Verteidigung der NATO-Ostflanke. Es ist also in diesem Fall nicht so, dass man bei einer Teilgruppe eine überwiegende Ablehnung feststellen würden, während bei den anderen Teilgruppen die Zustimmung überwiegt. In dieser Hinsicht gibt es keine Meinungslager, die sich unversöhnlich gegenüberstünden. Wir stellen allenfalls nuancierte Unterschiede fest.
Russland wird also eindeutig und mit absoluter Mehrheit als Bedrohung wahrgenommen. Und China, wie wird China betrachtet?
Früher hatten die Deutschen eine sehr ambivalente Meinung zu Russland. Im Zuge des Ukrainekrieges hat sich die Meinung der Deutschen zu Russland jedoch radikal verändert. Russland wird jetzt von einer absoluten Mehrheit als Bedrohung erkannt. Russlands Angriffskrieg ist der maßgebliche Treiber für die aktuell zu beobachtenden sicherheits- und verteidigungspolitischen Einstellungsveränderungen in der deutschen Bevölkerung. Zu China haben die Deutschen aber auch weiterhin eine ambivalente Meinung. Beim Thema China stehen die Leute, etwas salopp formuliert, noch auf dem Schlauch. China wird nur von einem Drittel als Sicherheitsbedrohung für Deutschland wahrgenommen. Für die meisten Deutschen ist China noch sehr weit weg, wie überhaupt das Thema Sicherheit und militärisches Engagement im Indopazifik sehr weit weg ist. Fakt ist: Die Mehrheit der Deutschen hat China noch nicht als sicherheitspolitisches Thema erkannt.
Ein Blick in die Glaskugel, vielleicht aber auch nicht: Liefern Ihre Daten – nicht direkt, aber vielleicht im Hintergrund und wenn man sie sozusagen gegen den Strich betrachten würde – Hinweise darauf, wie sich die Einstellungen der Deutschen zu Russland, zur NATO, zu den USA, zur Bundeswehr voraussichtlich ändern würden, wenn der nächste US-Präsident wieder Donald Trump hieße?
In die Glaskugel gucken, ist nicht unser Anspruch und Auftrag, aber die Veränderungen im Amerikabild der Deutschen in den vergangenen Jahren könnten durchaus einen Hinweis geben. Im Jahr 2021 haben wir, im Vergleich zu 2020, eine sehr starke Erholung des damals äußerst kritischen Amerikabildes in der deutschen Bevölkerung gesehen. Die Wahrnehmung und Bewertung der jeweiligen Administration hat einen großen Einfluss auf die Gesamtbewertung des Landes und seiner Politik. Während der Trump-Jahre ist das Amerikabild in Deutschland ein Stück weit kaputtgegangen. Unter Präsident Biden hat es sich weitgehend erholt. Und im Vergleich zum Vorjahr hat es sich nochmals leicht verbessert – vielleicht auch als Reaktion auf das sichtbare Engagement der Amerikaner für die Sicherheit der Europäer im Kontext des Ukrainekrieges. Bei einem Trump-2.0-Szenario wäre wohl zu erwarten, dass die öffentliche Meinung über die USA wieder in den Keller rauscht und, damit verbunden, wieder Zweifel an der Bündnistreue der Amerikaner aufkommen. Dies wiederum hätte Implikationen für die Bewertung der NATO. Diese würde als Verteidigungsbündnis ein Stück weit entwertet. Die Folge könnte sein, dass davon ein Impuls für eine europäische Souveränität in der Verteidigungspolitik ausginge. Sollte, wenn Trump erneut US-Präsident würde, der Ukrainekrieg noch andauern, ergäbe sich eine sehr schwierige Gemengelage. Ich möchte vorläufig folgendes Fazit ziehen: Wir haben zwar jetzt schöne Umfragewerte, aber mit Blick in Zukunft kann man sich durchaus auch Sorgen machen.