Leere Geschosshülsen liegen auf einem Feld in der Ukraine. Eine Million Artilleriegranaten hatte die EU Kiew für 2023 versprochen – und konnte nicht liefern. Foto: David Peinado

Leere Geschosshülsen liegen auf einem Feld in der Ukraine. Eine Million Artilleriegranaten hatte die EU Kiew für 2023 versprochen – und konnte nicht liefern. Foto: David Peinado

27.02.2024
Philipp Kohlhöfer

Warum dauert das eigentlich alles so lange?

Es zieht sich. Zwei Jahre liegt die Zeitenwende-Rede von Olaf Scholz heute zurück. „Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf“, sagte er da. Das ist noch nicht abschließend beantwortet, für die Ukraine sieht es auf dem Schlachtfeld gerade nicht gut aus, im Idealfall kann die Armee ihre Position halten, aber auch das wird schwer genug.

„Ohne Wenn und Aber stehen wir zu unser Beistandspflicht in der Nato“, sagte Scholz vor den Fraktionen des Bundestages, dafür benötige die Bundeswehr „neue, starke Fähigkeiten.“ Der 27. Februar 2022 war ein Sonntag, die Fraktionen waren extra in Berlin zusammengekommen und der Bundeskanzler sagte: „Wir müssen deutlich mehr in die Sicherheit unseres Landes investieren…Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen, und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind“, schließlich seien wir in einer neuen Zeit. Und das stimmt zweifellos.

Tatsächlich hat sich etwas getan in den letzten zwei Jahren, sowohl im öffentlichen Bewusstsein als auch in der Politik. Das kann man nicht leugnen und auch mal anerkennen - schließlich kommen wir von 5000 Helmen und einer Bundeswehr, die so chronisch unterfinanziert war, das die Mangelwirtschaft hinter modern klingenden Worten wie „dynamisches Verfügungsmanagment“, versteckt wurde. Aber: Insgesamt dauert die Beschaffung viel zu lange. Und die Herausforderung wird nicht kleiner.

Schließlich wird uns aus Moskau ständig Krieg und atomare Auslöschung angedroht. Und nach zwei Jahren Krieg hat auch jeder verstanden: Wunderwaffen gibt es nicht. Ein hochintensiver Krieg ist ein Krieg um Industriekapazitäten. Deutschland ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Die Rüstungsindustrie ist renommiert. Die Frage ist: Warum dauert trotzdem alles so lang?

Ohne schützende Hand des Staates

Man habe bereits viele Kapazitäten aufgebaut, sagt Dr. Hans Christoph Atzpodien, Hauptgeschäftsführer des BDSV, des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, teilweise „massiv“. Von den Unternehmen könne aber nicht erwartet werden, dass sie ohne langfristige Planbarkeit investieren, zumal bis heute niemand wisse, wie im Bundeshaushalt „und speziell im Budget des Bundesverteidigungsministeriums“ über 2027 hinaus die Zusage der zwei Prozent NATO-Quote abgebildet werden solle.

Für die deutsche Rüstungsindustrie ist das von entscheidender Bedeutung, da die allermeisten Unternehmen privatwirtschaftlich organisiert sind, viele kleinteilig. Dazu kommen Zulieferer, fast alle mittelständische Unternehmen. Sie müssen daher, anders als Unternehmen in den USA, Frankreich oder Italien, ohne die schützende Hand des Staates auskommen. Investitionen sind also immer eine Frage des Ertrages. Die Industrie argumentiert: Nur wenn eine Beschaffung vertraglich fixiert und langfristig gesichert ist, lohne es sich, in die entsprechenden Produktionskapazitäten zu investieren.

Nur ein Panzerstahl-Hersteller in Europa

Und es stimmt ja auch: Neue Kampfpanzer baut man nicht mal eben so, das ist teuer und logistisch kompliziert, zumal dafür Panzerstahl benötigt wird. Nur gibt es da gerade mal einen einzigen Hersteller in Europa. Einen. Den schwedischen Konzern SSAB. Resilienz ist was anderes. Zwar hat die Dillinger Hütte im Saarland vor nicht allzu langer Zeit die Zertifizierung der Bundeswehr bekommen und ist damit das einzige deutsche Werk, das Stahl von, laut Webseite „besonderem Widerstand gegen Beschuss, Blast-Beanspruchung und Splitterwirkung in Verbindung mit hoher Härte, Festigkeit und niedrigem Gewicht“ liefern kann, aber die Investitionen, die es für eine solche Produktion benötigt, sind für ein einzelnes Unternehmen schwer zu stemmen. Der Return of Investment kann da bei Jahrzehnten liegen.

Selbst bei vollen Auftragsbüchern kann sowas ein Minusgeschäft werden, zumal die Rüstungsbudgets selten strategisch langfristig angelegt sind. Das ist selbst in den USA so, wo es ebenfalls oft nur Jahresverträge gibt. „Wenn am Ende signalisiert wird, dass nur eine begrenzte Stückzahl eines Produkts abgenommen wird, dann kann nicht erwartet werden, dass das betroffene Unternehmen von sich aus eine Skalierung aufmacht“, sagt Atzpodien. Schließlich seien Mittel selbst im Rahmen von Einzelplan 14 und Sondervermögen geschoben worden, um kurzfristig – in den Jahren 2024 und 2025 – das Zwei-Prozent-Ziel der NATO zu erfüllen. Tatsächlich sollte das Sondervermögen ausschließlich der langfristigen Beschaffung dienen, wird jetzt aber auch für Material genutzt, das eigentlich aus dem Haushalt finanziert werden wollte.

Die mangelnde finanzielle Planbarkeit führt dann auch zu mangelhafter strategischer Planung, zwangsläufig. Manche Munitionsarten sind mittlerweile so stark nachgefragt, dass die Lieferzeiten von Monaten auf Jahre verlängert werden. Zumal ohne Komponenten nichts geht. Treibladungen, Nitroglyzerin, Nitrocellulose, Salpetersäure: alles knapp bis nicht vorhanden. Selbst die USA stellen kein TNT mehr her, im Inland zu teuer. Dass wir nicht genug Quantität haben, ist daher kein deutsches Alleinstellungsmerkmal. Im gesamten politischen Westen gibt es weder die Produktionskapazitäten, um schnell große Mengen an Munition herzustellen, noch gibt es andere Industriezweige, die schnell auf die Munitionsproduktion umgestellt werden könnten. Und jahrzehntelang hat das niemanden gestört.

Ukraine verschießt jeden tag 6.000 Geschosse

Die USA etwa bauen ihre Artilleriemunitionsbestände bis zur russischen Vollinvasion der Ukraine ab – weil man in einem potenziellen Krieg in Ostasien zwar mobile Marineinfanteristen benötigt, aber keine schweren Haubitzen. 2022 waren so nur 174 Millionen Dollar für Munition eingeplant, was der Produktion von etwa 75.000 Geschossen des standardmäßigen 155-mm-Hochexplosivprojektils entspricht. Die Russen verbrauchen am Tag etwa 20.000 Geschosse, die Ukraine wohl rund 6.000 – das ist in etwa die Menge, die ein kleiner europäischer Staat vor der Invasion im Jahr bestellt hat. Das wir umsteuern müssen, sollte keine Frage sein. Selbstverständlich ist das allerdings nicht.

Dr. Hans Christoph Atzpodien sagt: „Es hängt sehr viel davon ab, ob wir es als Gesellschaft schaffen, den von Minister Pistorius angemahnten Weg zur Kriegstüchtigkeit auch wirklich konsequent zu gehen.“ Zwar habe die Beschaffung unter Boris Pistorius Fortschritte gemacht, letztlich sei das Problem aber größer. Man müsse die Resilienz der Gesellschaft erhöhen. Und es stimmt ja auch: Selbst nach zwei Jahren russischer Vollinvasion ist die dadurch bedingte Gefährdung der deutschen Sicherheit erst bei einem Bruchteil der Bevölkerung angekommen.

„Wir brauchen“, sagt Atzpodien, „eine zwischen Bundesregierung und Industrie abgestimmte und konsequent umgesetzte Strategie zur Stärkung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie.“ Dabei stehen wir uns oft noch selbst im Weg. Die zentrale Behörde unserer Rüstungsagenda ist der Bundesrechnungshof – und das sagt schon alles.

Dabei geht es dann nicht darum, kampffähige Streitkräfte zu haben. Es geht darum, dass die Haushaltsmittel eingehalten werden. Dass Verteidigungsfähigkeit immer noch keine Nummer 1-Priorität hat, beweist der letzte Bundeshaushalt, weil auch dort die Steigerung nur der Höhe des Tarifabschlusses im Öffentlichen Dienst entsprach.

Schnelligkeit ist nicht das Ziel

Und das ist schon der Beste seit Jahrzehnten. Und dann gibt es da noch das deutsche Vergaberecht: Es zählt der maximal faire Wettbewerb. Schnelligkeit ist nicht das Ziel, Hauptsache, alles ist juristisch sauber. Das deutsche Vergaberecht ist dabei so fair, dass es das Vorbild für die EU war. Aber: Es gibt Ausnahmen, wenn es die nationale Sicherheit betrifft. Franzosen und Italiener nutzen diese ständig. Auch in Deutschland hatte man sich im Strategiepapier zur Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie aus dem Februar 2020 vorgenommen, die nationalen Schlüsseltechnologien durch nationale Vergaben zu stärken. „In der Praxis ist jedoch nur wenig davon tatsächlich umgesetzt worden.“

Dazu gehöre auch, sagt Atzpodien, eine Neujustierung der Maßstäbe beim Rüstungsexport. „Wir sollten uns an die Wertungen anderer europäischer Partner angleichen.“ Der deutsche Sonderweg mache Deutschland zum „No-Go“ für europäische Rüstungskooperationen, weil er die Chance auf den Export der Produkte schmälere. Eine Harmonisierung der verschiedenen Waffensysteme ist zudem dann auch nur schwer möglich.

Produktsicherheitsgesetz gilt auch für Kampfpanzer

Weil seit 2012 zusätzlich das Produktsicherheitsgesetz auch für die Bundeswehr gilt und damit an Kampfpanzer die gleichen Standards wie an U-Bahnen, Einbauherde und Wasserkocher angelegt werden, verzögert, verteuert, verkompliziert sich alles zusätzlich. Die Armee kämpft. Das ist ihre Kernkompetenz. Soldaten töten und können getötet werden. Einen Abgasfilter braucht man da eher nicht. Zeitenwende bedeutet nicht, dass wir einmal eine Handvoll Waffen in die Ukraine liefern. Es bedeutet, die Lieferung zu verstetigen, in dem wir sie auf eine industrielle Basis stellen.

Es bedeutet, die Nation abwehrbereit zu machen, kriegsfähig. Es bedeutet, dass man auf Gewalt mit Gewalt antworten kann – um sie zu verhindern. Das wird nur gehen, wenn wir einerseits endlich industriepolitisch führen und andererseits das Klein-Klein unserer eigenen Vorschriften beseitigen, die uns daran hindern.

Atzpodien sagt: „Nur wer über eigene schlagkräftige Ressourcen verfügt, kann ernstzunehmender Teil einer kooperativen Partnerschaft sein. Wer hierüber nicht verfügt, ist schlicht Käufer, Kunde und schlimmstenfalls Bittsteller.“

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