Vorsorge für den Ernstfall: Deutschland braucht ein Gesundheitsvorsorge- und Sicherstellungsgesetz
Die letzten Jahre haben gezeigt, wie schnell Krisen jedweder Art die staatliche Grundversorgung in Bedrängnis bringen können und das Gesundheitssystem unter Druck geraten kann. In diesen Situationen haben die Bundeswehr und besonders der Sanitätsdienst der Bundeswehr Beiträge zur Unterstützung der Bevölkerung geleistet, weil in besonderen Bedarfsfällen klare Kommunikations- und Kommandostrukturen sowie medizinisch-fachliche Expertise sehr hilfreich waren. Es ist also angebracht, darüber nachzudenken, wie die sanitätsdienstlichen Einrichtungen für den Krisen- und Katastrophenfall genutzt werden können. All dies kann nur unter Abwägung der zur Verfügung stehenden Kräfte und Mittel, dem notwendigen gesellschaftlichen Diskurs über Gesundheits- und Daseinsvorsorge und dem Zusammenwirken aller hieran beteiligten Institutionen und Akteure im Sinne eines gesamtstaatlichen Ansatzes gelingen.
Der große Stellenwert der sanitätsdienstlichen Versorgung
Die Qualität und Verfügbarkeit der sanitätsdienstlichen Versorgung hat im Hinblick auf die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr sowie beim Kampf- und Durchhaltewillen eine hohe Priorität. Der Krieg in der Ukraine zeigt uns heute deutlich auf, wie entscheidend eine effektive und gute sanitätsdienstliche Versorgung für die Kampfkraft und die Durchhaltefähigkeit einer Armee ist. Für die Akzeptanz von Streitkräften in der Gesellschaft ist das Wissen um eine herausragende medizinische Versorgung der Soldatinnen und Soldaten auf Spitzenniveau entscheidend. Nur unter diesen Annahmen und mit dieser Gewissheit lässt sich die Entsendung von Töchtern und Söhnen, Brüdern und Schwestern, Müttern und Vätern rechtfertigen. Soldatinnen und Soldaten sind, als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Uniform, untrennbar mit der Gesellschaft verbunden.
Ein Gesundheitsvorsorge- und Sicherstellungsgesetz (GVSG) ist nicht nur die zwingend notwendige Voraussetzung für die Bewältigung dieser Herausforderung, sondern vielmehr auch ein aufrechtes Bekenntnis zu dieser hohen moralischen Verantwortung. Konkret bedeutet ein GVSG die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für die gesamtstaatlichen gesundheitlichen Aufgaben im Fall der Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV), aber durchaus auch für andere Katastrophenlagen. Dabei geht es auch um die Unterstützung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr bei der ambulanten und klinischen Versorgung sowie der Rehabilitation durch zivile Partner.
Die Transformation der Sanität ist notwendig
Die angesprochene politische „Zeitenwende“ bedingt eine Transformation der Gesundheitsversorgung, die sowohl das militärische wie auch das zivile Gesundheitssystem betreffen wird. Sie ist nunmehr Auslöser für eine Schwerpunktverlagerung der Einsatzmedizin hin zur medizinischen Versorgung im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung. Auch wenn die Aufgabe der LV/BV historisch bekannt scheint, erfordern die Rahmenbedingungen der heute gegebenen sicherheitspolitischen und militärischen, aber auch der medizinischen und gesundheitspolitischen Gegebenheiten doch deutlich andere Strukturen und Prozesse. Als zentrales Element sichert die Rettungskette mit spezifischen, einsatzbezogenen Besonderheiten die umfassende Behandlung der Soldatinnen und Soldaten vom Einsatzgebiet bis zur klinischen Versorgung und Rehabilitation im Heimatland. Zu den Aufgaben Deutschlands in der LV/BV als Drehscheibe für alliierte Bündnispartner gehört unweigerlich auch die gesundheitliche Versorgung von Kräften verbündeter Nationen. In diesem Sinne müssen (haftungs-)rechtliche Einschränkungen bei der Versorgung alliierter Patientinnen und Patienten, aber auch Möglichkeiten für alliiertes medizinisches Fachpersonal zur Behandlung verbündeter Staatsangehöriger in Deutschland geregelt werden. Ferner ist die Vergütung ziviler Leistungen für die Behandlung und Rehabilitation deutscher und alliierter Staatsangehöriger im Rahmen der „Drehscheibenfunktion“ Deutschlands zu regeln.
Infolgedessen muss der Daten- und Informationsaustausch zwischen dem Sanitätsdienst der Bundeswehr und den zivilen Stellen geregelt und technisch ermöglicht werden.
Abseits der Verabschiedung eines GVSG ist eine umfassende Realisierung der Digitalisierung in den Streitkräften, insbesondere im Sanitätsdienst der Bundeswehr, dringend erforderlich, zum Beispiel um die digitale Anschlussfähigkeit der Bundeswehrkrankenhäuser (BwKrhs) und ihre Verzahnung mit dem zivilen Gesundheitssystem zu erhalten. Im Falle der LV/BV ist mit einer größeren Anzahl verwundeter, verletzter und erkrankter Soldatinnen und Soldaten pro Tag zu rechnen, die nach Deutschland transportiert und versorgt werden müssen. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr kann diese Aufgabe mit seinen verfügbaren Ressourcen nicht allein stemmen. Im Ernstfall wird beispielsweise das militärische Fachpersonal der Bundeswehrkrankenhäuser weitgehend in den Feldsanitätseinrichtungen gebunden sein und die Zahl der zur Verfügung stehenden Betten ist mit 1800 viel zu gering. Viele der bislang zur Unterstützung vorgesehenen Reservistendienst Leistende werden in anderen Rollen – etwa primär beruflich im zivilen Gesundheitssystem, dem Technischen Hilfswerk oder anderen ehrenamtlichen Aufgaben – eingesetzt sein. Dies muss bei allen Planungen berücksichtigt werden. Eine Verstärkung muss durch das zivile Gesundheitssystem, das Deutsche Rote Kreuz oder andere Hilfsorganisationen erfolgen.
Ein weiteres wichtiges Thema ist der strategische Langstreckentransport von Verwundeten. Gleiches gilt für ihren Weitertransport und ihre Verteilung in Deutschland, um die Folgeversorgung zu sichern. Auch hier ist die Bundeswehr auf die Unterstützung insbesondere der Hilfsorganisationen angewiesen. Ein weiteres Augenmerk liegt auch auf der resilienten, durchhaltefähigen Versorgung mit Sanitätsmaterial oder mit Blut und Blutprodukten.
Eine durchhaltefähige Bereitstellung von Personal und Material in Szenarien von LV/BV ist eine Herausforderung, für die gesamtstaatliche Lösungen gefunden werden müssen.
Vor diesem Hintergrund wird die Gesundheitsversorgung zu einer Aufgabe, die nur in einem gesamtstaatlichen Ansatz zu lösen ist. Eine enge Zusammenarbeit zwischen den zivilen und militärischen Gesundheitssystemen ist daher unabdingbar. Bisherige Vorgaben und Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung sind veraltet. Im Ernstfall bleibt keine Zeit für Ausschreibungen und langfristige Planungen. Zuständigkeiten, Prozesse und Zusammenarbeitsbeziehungen müssen vorab festgelegt, ausgestaltet und geübt werden.
Beispiel: Bundeswehrkrankenhäuser
Ein zentraler hoheitlicher Auftrag der BwKrhs ist es, medizinisches Fachpersonal für die Rettungskette in den Einsätzen der Bundeswehr bereitzustellen. Dieses Personal braucht spezifische Fachkenntnisse und erweiterte Fähigkeiten, um komplexe Kriegsverletzungen unter den besonderen Bedingungen eines Gefechts erfolgreich behandeln zu können.
Dies schließt neben Verwundungen auch Verletzungen und Erkrankungen aller Art ein, darunter auch solche, die durch den Einsatz atomarer, biologischer oder chemischer Mittel/Waffen entstehen. Die BwKrhs sind somit die zentralen Einrichtungen, die diese spezifische, einsatzorientierte Aus- und Weiterbildung im klinischen Alltag anbieten. Dies ist allerdings nur möglich, wenn in den BwKrhs Patientinnen und Patienten mit entsprechend komplexen und im Schweregrad vergleichbaren Krankheitsbildern behandelt werden. Gerade deshalb ist der Zugang von zivilen Patientinnen und Patienten zu den BwKrhs unabdingbar. Um diesen Zugang nachhaltig zu sichern, müssen die BwKrhs in der Gesetzgebung zur Zukunft der Krankenhausversorgung spezielle Berücksichtigung finden.
Status als Spezialversorger
Zudem sind die BwKrhs die einzige Ressource des Bundes zur Sicherstellung der Gesundheitsversorgung in Krisen und Konfliktsituationen. Vor diesem Hintergrund befindet sich der Sanitätsdienst der Bundeswehr aktuell im Austausch mit dem Bundesministerium für Gesundheit sowie den Berufsgenossenschaftlichen Kliniken (BG-Kliniken). Ziel dabei ist es, für die BwKrhs und die BG-Kliniken einen Status als Spezialversorger zu erreichen, um so ihrer besonderen Stellung in der Gesundheitsfürsorge und ihrem spezifischen Ausbildungsauftrag Rechnung zu tragen. Die BwKrhs müssen ein fester Bestandteil im Gesundheitssystem bleiben. Gleichzeitig müssen spezifische Regelungen für die aufgezeigten Kooperationspartner geschaffen werden, damit der hoheitliche Auftrag der BwKrhs weiter erfüllt werden kann. Nur so können im Falle der LV/BV die Herausforderungen der medizinischen Versorgung der Soldatinnen und Soldaten und gleichzeitig die gesicherte Versorgung der Zivilbevölkerung bewältigt werden. Aus militärischer Sicht gilt es, die notwendigen und militärmedizinisch spezifischen Fähigkeiten aufzubauen sowie aufrecht zu erhalten, die das Fachpersonal in die Lage versetzen, im Einsatz unter den dort gegebenen Bedingungen zu bestehen.
Zur Sicherstellung des hoheitlichen Auftrags der BwKrhs müssen jedoch der Zugang zur stationären Behandlung von gesetzlich Versicherten nachhaltig gewährleistet und die BwKrhs hierzu als Plankrankenhäuser im erforderlichen Umfang in den jeweiligen Krankenhausplänen der Länder aufgenommen sein. Im Rahmen der Notfallversorgung nehmen die BwKrhs präklinisch bereits am zivilen Rettungsdienst teil und leisten mittels ihrer Zentralen Interdisziplinären Notfallaufnahmen einen Beitrag zur Behandlung ziviler Notfallpatientinnen und -patienten. Bereits heute tragen die fünf BwKrhs maßgeblich zur Akut- und Notfallbehandlung der Zivilbevölkerung in ihren Regionen bei. Die umfassende Einbindung in die zivile Versorgung ist eine essenzielle Voraussetzung, um eine breite und hochwertige Ausbildung sowohl des ärztlichen Personals als auch der Angehörigen der Gesundheitsfachberufe zu erreichen und das medizinische Fachpersonal damit in großem Umfang zur Versorgung komplexer, schwerer Erkrankungs-, Verletzungs- und Verwundungsmuster in der LV/BV, in internationalen Krisenmissionen sowie besonderen Gesundheitslagen zu befähigen.
Beispiel: physische und psychische Rehabilitation
Neben der Akut- und Notfallversorgung spielt die physische und psychische Rehabilitation eine entscheidende Rolle für den Erhalt der Einsatzbereitschaft der Streitkräfte.
Vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen aus den Einsätzen im Rahmen des internationalen Krisenmanagements wissen wir heute um die Notwendigkeit der Etablierung von starken Netzwerken der Hilfe und notwendiger Behandlungskapazitäten für unsere seelisch verwundeten Kameradinnen und Kameraden. Nicht nur traumatische Erlebnisse aus Einsätzen und Missionen, sondern auch die seelischen Belastungen der Pandemie prägen das heutige Behandlungsspektrum psychischer Erkrankungen. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr trägt diesem Umstand mit dem Psychotraumazentrum der Bundeswehr im besonderen Maße Rechnung. Neben der kurativen Versorgung und Behandlung bilden die wissenschaftliche Forschung und die Vernetzung multiprofessioneller Teams weitere Säulen des Zentrums. Es wird von entscheidender Bedeutung für uns werden, aus den Erkenntnissen zur Prävention, Behandlung und Rehabilitation von seelisch verwundeten Kameradinnen und Kameraden die notwendigen Ableitungen für zukünftige Versorgungskapazitäten zu treffen. Neben der psychischen Rehabilitation müssen Streitkräfte auch über die Kapazitäten und Fähigkeiten für eine multiprofessionelle Rehabilitation verfügen. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr verfügt mit dem Zentrum für Sportmedizin in Warendorf über eine fachlich ausgezeichnete Einrichtung für die medizinisch-dienstlich orientierte Rehabilitation (MDOR). Ergänzt wird diese durch Reha-Stützpunkte an fünf Standorten. Aktuell noch als eine Anfangsbefähigung zu verstehen, sollen diese in Zukunft auf 13 Standorte ausgeweitet werden. Diese Kapazitäten werden jedoch für den zu erwartenden Versorgungsumfang in einem Szenar der LV/BV nicht ausreichen. Hier kommt es darauf an, mit geeigneten zivilen Partnern Netzwerke aufzubauen und klare Regelungen seitens der Gesetzgebung zu formulieren.
Beispiel: Resilienz für Katastrophenlagen
Der Sanitätsdienst der Bundeswehr leistet mit seinen Forschungseinrichtungen bereits heute einen weltweit respektierten und nachgefragten Beitrag. Gerade diese Spezialfähigkeiten für außergewöhnliche gesundheitliche Gefahrenlagen und weitere spezialisierte „Hochwertfähigkeiten“ für NATO und EU können und sollen als strategische Notreserve des Bundes dienen. Dem Stellenwert und der Notwendigkeit für die Weiterentwicklung und den Erhalt von Fähigkeiten der gesundheitlichen Gefahrenabwehr trägt die verabschiedete Nationale Sicherheitsstrategie bereits Rechnung. Neben der unmittelbaren Gefahrenabwehr wird es zukünftig wichtig sein, im Rahmen der Prävention die engen Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen der Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt in den Fokus zu rücken. Unter dem Stichwort „One-Health“ werden diese Interaktionen zusammengefasst und als Rahmen für die Bewältigung zukünftiger nationaler, wie auch internationaler, Gesundheitslagen vereint. Hier wurde also schon ein Anfang gemacht.
Ausblick auf die Zukunft
Neben den Aufgaben im Grundbetrieb und der damit zwingend einhergehenden Einbindung in das zivile Gesundheitswesen, bringt sich der Sanitätsdienst der Bundeswehr als wesentlicher „Enabler“ in die Kräftedisposition der Bundeswehr im Rahmen der NATO-Verpflichtungen an der Ostflanke ein. Hierzu werden in einem ersten Schritt die Fähigkeiten des Sanitätsdienstes in der Fläche zur Unterstützung der Truppe für Aufträge im Rahmen LV/BV an den Standorten der „Division 2025“ deutlich gestärkt und damit die Möglichkeit der Kohäsionsbildung zwischen Truppe und Sanitätsdienst grundlegend verbessert.
Aktuell laufen die Planungen für die seitens des Bundesministers der Verteidigung zugesagte Stationierung einer deutschen Brigade in Litauen. Der Sanitätsdienst leistet hier einen wesentlichen Beitrag in dem Spannungsfeld einer regionalen sanitätsdienstlichen Versorgung der Brigade auf der einen Seite und einem reaktionsschnellen Übergang in eine Kampfunterstützung im Bündnisfall auf der anderen Seite. Das Momentum muss genutzt werden, da die wichtigen und richtigen Überlegungen aktuell gedacht wurden und werden. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr setzt sich aktiv dafür ein, die Chance für eine gesetzlich fundierte und krisenstabile Vorsorge sowohl für die Sicherheit der Zivilbevölkerung als auch der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Uniform zu nutzen.