Vance zweifelt Meinungsfreiheit in Europa an – Pistorius kontert
München. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands in Europa? Das aggressive Vorgehen Chinas gegenüber Taiwan oder den Anrainerstaaten im Südchinesischen Meer? Die explosive Lage im Nahen Osten? Für J.D. Vance waren diese außenpolitischen Herausforderungen zumindest bei seinem mit Spannung erwarteten Auftritt bei der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) kein Thema. Stattdessen überzog Vance Europa mit beispielloser Schelte. Nicht China oder Russland seien Bedrohungen für die europäischen Demokratien, sondern irreguläre Einwanderung und Einschränkungen der Meinungsfreiheit.
Vance warf den europäischen Verbündeten Einschränkungen der Meinungsfreiheit und gemeinsamer demokratischer Grundwerte vor. Er kritisierte, dass Meinungsäußerungen als Desinformation verfolgt würden. Vance sagte, sicherlich sei ein Aufbau der Verteidigungsfähigkeit wichtig, aber er sei nicht so sehr besorgt wegen äußerer Akteure. „Ich bin wegen der Gefahr von innen besorgt, dass sich Europa von einigen der grundlegenden Werte zurückziehen könnte, von Werten, die mit den USA geteilt werden“, sagte er: Und: „Wir müssen mehr tun, als über demokratische Werte zu reden, wir müssen sie leben.“
Kein Wort verlor Vance über die Absichten der US-Administration mit Blick auf Friedensverhandlungen zur Beendigung des russischen Angriffskrieges in der Ukraine. Im Vorfeld der MSC hatte US-Präsident Donald Trump für viel Wirbel gesorgt, als er den sofortigen Beginn von Friedensverhandlungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin angekündigt hatte. Welche Rolle die europäischen Verbündeten und die Ukraine selbst bei diesem Friedensprozess spielen sollen – wenn sie denn überhaupt eingebunden werden sollen – bleibt nach widersprüchlichen Aussagen aus den USA weiterhin völlig unklar.
Pistorius reagiert mit scharfen Worten
Verteidigungsminister Boris Pistorius wies die Kritik des US-Vizepräsidenten mit scharfen Worten zurück – die Äußerungen von Vance seien „inakzeptabel“. Pistorius wich dabei von seinem geplanten Rede-Text ab, bei dem es „um die Sicherheit in Europa gehen sollte“. Als überzeugter Transatlantiker könne er jedoch die Rede des US-Vizepräsidenten nicht unkommentiert lassen.
„Wir kämpfen auch dafür, dass du gegen uns sein kannst – das ist das Selbstverständnis der Bundeswehr und steht dafür auch für unsere Demokratie“, sagte Pistorius. Diese Demokratie sei von Vance für ganz Europa infrage gestellt worden. Der Minister weiter: „In dieser Demokratie hat jede Meinung eine Stimme. Sie ermöglicht es in Teilen extremistischen Parteien wie der AfD, ganz normal Wahlkampf zu machen. Genau wie jede andere Partei. Das ist Demokratie.“ In hiesigen Pressekonferenzen würden auch Medien zugelassen, die russische Propaganda verbreiteten, und die Vertreter der Bundesregierung müssten ihnen Rede und Antwort stehen. „Ausgeschlossen wird niemand, nur weil er unser Wording nicht teilt“, betonte Pistorius und ging damit auch auf der Vorgehen der Trump-Administration gegen unliebsame Medienvertreter ein.
Trump hatte nach Angaben der Associated Press (AP) zuletzt einen Reporter der US-Nachrichtenagentur von der Berichterstattung über ein Event im Weißen Haus ausgeschlossen. Grund dafür sei die Weigerung von AP gewesen, der Wortwahl des Weißen Hauses zu folgen, welches den Golf von Mexiko in „Golf von Amerika“ umbenannt hatte.
Pistorius betonte: „Demokratie bedeutet aber nicht, dass die laute Minderheit automatisch recht hat und die Wahrheit bestimmt. Und Demokratie muss sich wehren können gegen die Extremisten, die sie zerstören wollen.“ Er trete dem Eindruck, den Vance erweckt habe, „energisch entgegen, dass in unserer Demokratie Minderheiten unterdrückt oder zum Schweigen gebracht werden“. Und: „Wir wissen nicht nur, gegen wen wir unser Land verteidigen, sondern auch wofür: für die Demokratie, für die Meinungsfreiheit, für den Rechtsstaat und für die Würde jedes Einzelnen“, betonte der SPD-Politiker.
Fahrplan für eine neuen Aufgabenverteilung in der NATO
Zuvor hatte der Verteidigungsminister am Rande der MSC gesagt, dass er mit den USA und anderen Verbündeten einen Fahrplan für eine neue Aufgabenverteilung der NATO in Europa vereinbaren wolle. Über die Notwendigkeit einer solchen „Roadmap“ sei bereits mündlich grundsätzliche Einigung erzielt worden, sagte der SPD-Politiker.
Es sei lange bekannt, dass die USA ihr militärisches Engagement im Indopazifik und dem arktischen Raum verstärken wollten und die Europäer sie deshalb in Europa entlasten müssten. Bei einer Veränderung der Lastenverteilung dürfe es aber keine gefährlichen Fähigkeitslücken geben. Klar sei, dass Deutschland und die Europäer deutlich mehr in Verteidigung investieren müssten.
Wenn die USA „mehr machen im Indopazifik, dann wird niemand in Europa von ihnen verlangen können, dass sie dann gleichzeitig genauso viel machen in Europa, was konventionelle Abschreckung angeht, wie in der Vergangenheit“, sagte Pistorius. „Also zu glauben, wir könnten innerhalb von einem Jahr kompensieren, was die Amerikaner in wenigen Monaten weniger machen, ist illusorisch, das wird nicht funktionieren.“
Zur Frage, ob sich Deutschland an einer möglichen Friedenstruppe in der Ukraine militärisch beteiligen könne, sagte er, ohne Kenntnis einer Friedenslösung verböten sich Spekulationen. Klar sei: Ohne US-Unterstützung seien die Europäer nicht in der Lage „zusätzlich zu unseren NATO-Aufgaben in Europa – in den nächsten Jahren jedenfalls nicht –, eine wirksame Abschreckung in der Ukraine zu gewährleisten“.
Steinmeier: „Weckruf gehört“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte in seiner Eröffnungsrede zur 61. MSC die USA aufgerufen, Änderungen ihrer Militärpräsenz mit den europäischen NATO-Partner abzusprechen. Zugleich betonte er: „Wir haben den Weckruf gehört.“
Die bisher erzielten Steigerungen bei den Sicherheitsausgaben seien notwendig gewesen, aber kein Anlass zur Selbstzufriedenheit. „Konkreter: Der Aufwuchs muss weitergehen. Unsere Bundeswehr muss stärker werden. Nicht um Krieg zu führen, sondern um Krieg zu verhindern“, sagte Steinmeier.
Er sprach sich für eine Steigerung der Verteidigungsausgaben deutlich über das bisherige Zwei-Prozent-Ziel der NATO hinaus aus. Das 2014 in Wales vereinbarte Ziel „stammt aus einer anderen Zeit, einer anderen Bedrohungslage.“ Nun sei mehr nötig. „Jede neue Bundesregierung wird dafür die notwendigen finanziellen Spielräume schaffen müssen“, sagte er.
„Wir brauchen eine ausgeglichene Lastenteilung zwischen Europa und den USA. Die NATO muss auf zwei gleich starken Beinen stehen, damit sie für beide Seiten ihren Wert behält“, sagte Steinmeier. Er sei sicher, dass Deutschland dazu seinen Beitrag leisten werde.
Der Bundespräsident sagte an die US-Regierung gerichtet: „Wir teilen das Ziel, also lasst uns den Weg dorthin koordinieren. Jedenfalls kann keiner von uns ein Interesse haben, Fähigkeiten der NATO kurzfristig zu schwächen oder die NATO gar langfristig infrage zu stellen.“
Aktualisiert am 15. Februar 2025, 10:55 Uhr