Der Grünen-Politiker Tobias Lindner spricht in Bezug auf die vom BMVg kommunizierten Werte zur materiellen Einsatzbereitschaft von "trügerisch schönen Zahlen". Foto: DBwV/Mika Schmidt

Der Grünen-Politiker Tobias Lindner spricht in Bezug auf die vom BMVg kommunizierten Werte zur materiellen Einsatzbereitschaft von "trügerisch schönen Zahlen". Foto: DBwV/Mika Schmidt

31.12.2020
DBwV

Tobias Lindner im DBwV-Interview: „Das sind wir den Menschen in Afghanistan, aber auch unseren gefallenen Soldaten schuldig“

Dr. Tobias Lindner (38) ist seit 2011 Bundestagsabgeordneter in der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Der Volkswirt ist Sprecher für Sicherheitspolitik und Obmann der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen im Verteidigungsausschuss. Er fordert eine Evaluation des seit fast 20 Jahren währenden Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan. „Es ist absolut klar, dass die Bundeswehr für die Aufträge, die ihr die Politik gibt, angemessen ausgestattet sein muss“, macht er im Gespräch mit dem DBwV deutlich.

Sie verfolgen jetzt seit Jahren die Meldungen zur materiellen Einsatzbereitschaftslage der Bundeswehr und haben sich im Parlament immer wieder sehr kritisch dazu eingelassen. Was stört Sie?

Tobias Lindner: Bei der materiellen Einsatzbereitschaft wird seit Jahren eine Berechnungsmethodik angewandt, die trügerisch schöne Zahlen erzeugt. Die Prozentzahlen, die teilweise in der Öffentlichkeit kursieren, setzen einsatzbereite Systeme ins Verhältnis zu einem sogenannten „Verfügungsbestand“ (einer Anzahl von Einheiten eines Waffensystems, der nicht an die Industrie bspw. zur Instandsetzung abgesteuert wurde). Machen wir uns das an einem sehr einfachen Beispiel klar: Wenn von 10 Fregatten im Schnitt drei bis vier einsatzbereit sind, würden viele von einer Einsatzbereitschaft von 30 bis 40 Prozent sprechen.  Da aber gleichzeitig sechs Fregatten sich in der Werftinstandsetzung befinden, beträgt der „Verfügungsbestand“ vier Fregatten. Das BmVg gibt deshalb die Einsatzbereitschaft mit 75 bis 100 Prozent (drei bis vier Fregatten von vier Fregatten) an. Damit wird seit Jahren ein völlig unrealistisches Bild der Einsatzbereitschaft gezeichnet. Ein Problem kann man aber nur dann angehen, wenn man sich überhaupt eingesteht, dass man ein Problem hat!

Hinzukommt, dass die genauen Zahlen seit drei Jahren nun der Geheimhaltung unterliegen; eine parlamentarische Debatte ist also nur noch in einer geheimen Sitzung des Verteidigungsausschusses möglich. Während das Verteidigungsministerium dann dennoch teilweise Prozentzahlen derjenigen Waffensysteme, die halbwegs gut dastehen, öffentlich macht, dürfen wir als Abgeordnete dem keine Negativbeispiele entgegensetzen, da wir uns sonst strafbar machen würden. Eine faire und transparente Debatte über den Zustand der Bundeswehr wird so unmöglich gemacht.

Sie haben nicht erst seit ihrer Wehrübung am Ausbildungszentrum in Munster eine Vielzahl von Kontakten in die Truppe. Verstehen Sie, dass die medial gesetzte Erfolgsmeldung von 74 Prozent materieller Einsatzbereitschaft in der Truppe für Unverständnis und teilweise Frust sorgt?

Lindner: Die Truppe fragt mich oft, woher diese Zahlen stammen. Mit dem realen Zustand der Bundeswehr haben sie für viele Kameradinnen und Kameraden nichts zu tun. Die 74 Prozent sind ja ein Durchschnitt, der aus allen untersuchten Waffensystemen gebildet wird. Beispielsweise ziehen neue LKW diesen Durchschnitt nach oben. Die Soldatinnen und Soldaten geben mir zwar als Rückmeldung, dass man sich durchaus über neue LKW sehr freut, aber ein kaputter Schützenpanzer Puma wird deshalb ja noch nicht einsatzbereit. Die „Sorgenkinder“ beim Material, die seit Jahren eine völlig unzureichende Einsatzbereitschaft haben, bleiben Sorgenkinder – und das, obwohl wir massiv mehr Geld für Verteidigung ausgeben.

Der Unmut in der Truppe ist deshalb so groß, weil die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr der zentrale Parameter ist, wenn es um Erfüllung der Aufträge geht, die das Grundgesetz, das Weißbuch und schließlich die Mandate des Bundestages vorgeben.

Vereinzelt hatten Sie auch immer wieder die strukturelle Aufstellung der Bundeswehr kritisiert. Was sollte nach all ihren Erfahrungen vordergründig untersucht und angepasst werden?

Lindner: Aus meiner Sicht muss man nach der Bundestagswahl vor allem drei Dinge schnell anpacken:

Erstens: Die Ambitionen, die im Weißbuch und nicht zuletzt auch im Fähigkeitsprofil angelegt sind, und die finanziellen und personellen Mittel der Bundeswehr werden in den kommenden Jahren immer weiter auseinanderklaffen. Der Verteidigungsetat wird sicherlich weiter steigen, aber – allein schon wegen der Schuldenbremse des Grundgesetzes – nicht im Verhältnis der Vorjahre. Wenn wir nichts tun, werden wir 2025 eine Truppe haben, die unter einem völlig überdehnten Auftrag leiden wird. Fähigkeitszusagen – auch auf der internationalen Bühne – nützen niemanden etwas, wenn sie nur auf dem Papier existieren. Das, was die Bundeswehr können soll, muss sie auch können – und auch nur dies sollten wir zusagen.

Zweitens: Wir müssen der Truppe dort wieder mehr Verantwortung geben, wo Verantwortung auch wahrgenommen werden kann. Das betrifft für mich vor allem die Nutzungsverantwortung beim Material! Wir haben 2012 diese in Koblenz zentralisiert. Der Erfolg ist bisher ausgeblieben. Alles Gerede über Reformen wird keinen Rückhalt in der Truppe haben, wenn wir nicht die materielle Einsatzbereitschaft verbessern.

Drittens: Gerade, weil wir nach der Corona-Krise uns auf unsichere Zeiten im Bundeshaushalt einstellen müssen, brauchen wir Planungssicherheit und Prioritäten. Ich finde die Idee eines Verteidigungsplanungsgesetzes gar nicht so schlecht, wenn man sie richtig angeht. Wenn der Bundestag die Top 10 oder Top 15 Beschaffungsvorhaben für einen Zeitraum von zehn Jahren festlegen würde und gleichzeitig hierfür auch einen mehrjährigen Finanzrahmen schafft (Ein Rahmen ist natürlich unerlässlich, damit die Industrie keinen Freibrief erhält, jeden Preis verlangen zu können.), wäre vielen geholfen. Das heißt aber dann natürlich auch zu entscheiden, welche Beschaffungsvorhaben gegebenenfalls geringere Priorität haben oder nicht umgesetzt werden.

Frau Baerbock positionierte sich zuletzt auch zu sicherheitspolitischen Fragen klarer, als viele dachten. Sehen Sie Ihre Partei mittlerweile in sicherheitspolitischen Fragestellungen gut aufgestellt oder fremdelt man nach wie vor mit diesem Politikfeld, damit auch mit dem Militärischen?

Lindner: Wir dürfen nicht vergessen, dass Bündnis 90/Die Grünen ihre Wurzeln auch in der Friedensbewegung haben. Militär bleibt für uns immer das äußerste Mittel. Wenn wir die Bundeswehr einsetzen müssen – sei es zur Landes- und Bündnisverteidigung oder im Auslandseinsatz – haben diplomatische Mittel zuvor meistens versagt. Die Geschichte lehrt uns, dass dies leider immer wieder vorkommt und vorkommen wird.

Meine Partei hat einen langen Weg und eine sehr intensive Auseinandersetzung mit den militärischen Mitteln hinter sich – vielleicht intensiver als manch konservative Partei. Auch wenn man als Opposition bei den eigenen Vorstellungen naturgegeben nie die Planungstiefe einer Bundesregierung erreichen kann, haben wir dennoch versucht, es uns in den letzten Jahren nicht bequem auf den Oppositionsbänken zu machen.

Es ist absolut klar, dass die Bundeswehr für die Aufträge, die ihr die Politik gibt, angemessen ausgestattet sein muss. Das muss Richtschnur für die kommenden Jahre sein.

Sicherheitsvorsorge kostet Geld. Die Regierung hat sich den Nato-Planungszielen bis 2031 verpflichtet, was bekanntlich bedeutet, dass die Bundeswehr nicht vergrößert wird, aber die Lücken gefüllt werden müssen, die man mit der letzten Reform in Kauf genommen hat. Dieses Lückenfüllen inklusive einer Modernisierung, wo nötig, kostet Geld. Kann man sich in Ihrer Partei auch weiterhin steigende Verteidigungsausgaben vorstellen?

Lindner: Ja. Es ist illusorisch zu glauben, der Wehretat wäre die Sparbüchse des Bundeshaushalts. Allein Tarifsteigerungen und Inflationsausgleich führen dazu, dass der Verteidigungshaushalt jährlich um knapp eine Milliarde anwachsen wird. Die Frage ist also gar nicht, ob der Verteidigungsetat wächst, sondern vielmehr, ob mehr Geld quasi automatisch den Zustand der Bundeswehr verbessert. Dies war vielfach der Irrglaube in den vergangenen Jahren.

Wir müssen Finanzmittel besser ausgeben und auch Prioritäten setzen. Sonst nützt auch mehr Geld nichts. Klar ist aber auch, dass alte, museumsreife Systeme ersetzt werden müssen und sich die Einsatzbereitschaft dringend verbessern muss. Das wird Geld kosten; darüber müssen wir politisch diskutieren, und nicht über fiktive Messgrößen wie das Zwei-Prozent-Ziel.

Sie diskutierten seit Jahren mit ihren Kollegen im Auswärtigen Ausschuss ebenso die Zunahme von Risiken und Bedrohungen für Deutschland und Europa. Die Nato hat darauf reagiert. Stehen Sie zu einem Festhalten an den Nato-Planungszielen eher wollen sie eher eine Reduzierung der Zusagen?

Lindner: Die Nato und auch die Bundesregierung sind gut beraten, Planungsziele nicht statisch zu betrachten, sondern auch zu sehen, wo und wie sich die Welt ändert. Wenn ich beispielsweise sehe, dass Künstliche Intelligenz im Weißbuch 2016 noch eine sehr kleine Rolle spielte, dann zeigt dies, dass man regelmäßig Planungsziele auch überarbeiten muss.

Hinzukommen die völlig anderen finanziellen Rahmenbedingungen – nicht nur für uns, sondern auch für unsere Verbündeten – nach der Corona-Krise. Europas Sicherheit und Wohlstand hängen sowohl von einer glaubhaften Bündnisverteidigung ab als eben auch von einer stabilen Währung, geringer Inflation und einer robusten Volkswirtschaft.

Nach dem kurzfristigen Nein der SPD mit Verweis auf eine bisher fehlende Tiefe der Debatte über die Bewaffnung von Drohnen herrscht in der Bundeswehr enormes Kopfschütteln. Wie sehen Sie das nach all dem, was Sie dazu im Parlament erlebt haben? Was zählt für Sie das Schutzargument?

Lindner: Wir haben eine sehr intensive und breite Debatte über das Für und Wider der Bewaffnung von Drohnen geführt. Aus meiner Sicht sind die Argumente erschöpfend ausgetauscht. Wer jetzt eine weitere Debatte fordert, nutzt dies als Schutzargument, um sich selbst nicht positionieren zu müssen.

Was mich persönlich stört, dass wir zwar debattiert haben, aber am Ende für viele eine starre „Schwarz-Weiß-Sicht“ – also Pro oder Contra der Bewaffnung – bleibt. Das ist mir persönlich viel zu simpel. Gerade als jemand, der aufgrund der Contra-Argumente jetzt Drohnen nicht bewaffnen würde, hätte ich mir gewünscht, dass die Befürworter einer Bewaffnung die kritischen Argumente ernster nehmen und diesen Rechnung tragen. Wieso wurde beispielsweise nicht über Einsatzregeln, die der Verteidigungsausschuss erstmal für verbindlich erklärt, und Berichtspflichten an die Obleute breiter diskutiert?  Das würde den Schutz der Truppe nicht verhindern, aber kritische Argumente ernst nehmen und vielleicht auch manchen eine Brücke bauen.

Wir dürfen uns nichts vormachen: Natürlich sind Drohnen in der Bundeswehr ein knappes Gut, Schutz ist nie absolut und auch heute ist die Truppe im Einsatz nicht schutzlos, aber: Ich persönlich sehe durchaus auch die Szenarien, in denen eine bewaffnete Drohne Soldatinnen und Soldaten besser schützen kann. Gerade deshalb sollte sich niemand diese Entscheidung einfach machen.

Auch ihre Partei war bezüglich mancher Themen nicht immer klar positioniert. Nehmen wir mal das Thema Jugendoffiziere an Schulen? Wo steht man da?

Lindner: Das hat meine Partei zum Glück mehrfach – erst jüngst beim Beschluss des Grundsatzprogramms – geklärt. Die Bundeswehr ist ja nicht irgendein Lobbyverein, sondern eine staatliche Organisation mit einem Auftrag, der Verfassungsrang hat. Jugendoffiziere leisten an Schulen einen wichtigen Beitrag zur Diskussion über Sicherheitspolitik. Natürlich sind Schulen gut beraten, auch Vertreterinnen und Vertreter ziviler Organisationen – beispielsweise der Entwicklungszusammenarbeit oder Konfliktprävention – oder auch von Friedensbewegungen einzuladen, gerade damit eine offene und kritische Diskussion entsteht. Was wir als Grüne nicht wollen (aber eben auch gerade nicht Auftrag von Jugendoffizieren in Schulen ist), ist Personalwerbung durch die Hintertür. Diskussion und Information müssen von Personalwerbung auch weiterhin klar abgegrenzt sein.

Das Afghanistan-Engagement läuft zumindest militärisch aus. Wäre es nicht im 20. Jahr von 9/11 an der Zeit, diesen Einsatz ressortübergreifend zu evaluieren und ein Lessons-Learned zu formulieren?

Lindner: Auf jeden Fall! Das ist eine Forderung, die meine Partei schon lange hat. Afghanistan ist der längste und auch blutigste Einsatz der Bundeswehr. Wir sind in diesen Einsatz gegangen unter anderen Vorstellungen und Erwartungen als jetzt. Es geht nicht darum, Schuldige für Fehler der Vergangenheit zu benennen, sondern Lehren für die Zukunft zu ziehen. Was lief gut, was lief schlecht? Wo hatten wir falsche Erwartungen? Welche Verpflichtungen haben wir für die Zukunft – in Afghanistan aber auch gegenüber Veteranen des Einsatzes, Einsatzgeschädigten und Hinterbliebenen? Wo braucht es mehr Prävention, wo mehr Ressortzusammenarbeit? Zumindest Antwortversuche sind wir den Menschen in Afghanistan aber auch unseren gefallenen Soldaten schuldig.

Die Bundeswehr leistet gerade Amtshilfe mit Blick auf die Pandemie und ist gleichzeitig in den Einsätzen in Verantwortung. Wie ist Ihr diesbezüglicher Eindruck?

Lindner: Wir dürfen uns nichts vormachen: Die Bundeswehr leistet viel und gute Arbeit. Aber die Truppe ist durchaus am Anschlag. Einfach weitere Aufgaben jetzt auf den Auftrag der Bundeswehr draufzusatteln, wird nicht gehen.

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