Sönke Neitzel stellte Anfang April sein neues Buch in der Bundesgeschäftsstelle des DBwV vor. Links im Bild Moderatorin Anna Engelke, Leiterin der Radio Gemeinschaftsredaktion im ARD-Hauptstadtstudio, und Oberstleutnant i.G. Marcel Bohnert, stellvertretenden Vorsitzenden des DBwV. Foto: DBwV/Sarina Flachsmeier

Sönke Neitzel stellte Anfang April sein neues Buch in der Bundesgeschäftsstelle des DBwV vor. Links im Bild Moderatorin Anna Engelke, Leiterin der Radio Gemeinschaftsredaktion im ARD-Hauptstadtstudio, und Oberstleutnant i.G. Marcel Bohnert, stellvertretender Bundesvorsitzender des DBwV. Foto: DBwV/Sarina Flachsmeier

07.04.2025
Roland von Kintzel

„Sonst ist die Party vorbei" – Buchbesprechung mit Sönke Neitzel

Der Potsdamer Geschichtsprofessor Sönke Neitzel hat in der prall gefüllten Bundesgeschäftsstelle des DBwV sein neues Buch vorgestellt. Unter der Moderation von Anna Engelke, Leiterin der Radio Gemeinschaftsredaktion im ARD-Hauptstadtstudio, diskutierte er mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des DBwV, Oberstleutnant i. G. Marcel Bohnert und Generalleutnant a. D. Frank Leidenberger, der heute die BWI GmbH leitet.

Einen nachdenklichen Auftakt zur Veranstaltung wählte Marcel Bohnert, als er an den 15. Jahrestag des Karfreitags-Gefechts in Kundus erinnerte. Die Veteranenkultur in Deutschland sei zwar inzwischen auf einem guten Weg, die Aufarbeitung und Erinnerung an das Gefecht musste damals aber noch völlig von Veteranen geleistet werden. Im Anschluss übernahm Frank Leidenberger den Part der Laudatio auf das frisch erschienene Buch „Die Bundeswehr. Von der Wiederbewaffnung bis zur Zeitenwende.“ Er lobte Neitzel als den „Generalstäbler unter den Historikern“, er sei ein „Kämpfer für die Kämpfer“, der „Warfighting“ als ontologischen Bestandteil des Soldatentums verinnerlicht habe. Das mit 128 Seiten kompakte Taschenbuch aus der Reihe C. H. Beck Wissen sei ein „Buch für die Beintasche“ für all jene, die täglich mit Militärpolitik konfrontiert seien. Mit einem Augenzwinkern schlug er, analog zum „großen Reibert“, den „kleinen Neitzel“ vor.

Prof. Dr. Sönke Neitzel stellte das Thema Reformfähigkeit in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Jede Reformphase in der Bundeswehr dauere in etwa 20 Jahre. Den Anfang machte der Weg vom Beginn der Wiederbewaffnung bis zur Vollausstattung Mitte der 1970er Jahre. Frank Leidenberger, der in den 1980er Jahren selbst Kompaniechef beim Gebirgsaufklärungsbataillon 8 in Freyung gewesen ist, konnte aus erster Hand berichten. „Es war einfach alles da“, führte er aus. „Wenn ein Panzer Probleme gemacht hat, konnten wir den innerhalb von drei Stunden wieder instand setzen.“ Nach Ende des Kalten Krieges und dem Einsammeln der „Friedensdividende“ durch die Regierungen in Europa modellierte sich die Bundeswehr um zur professionellen Armee für Out-of-Area-Einsätze. Auch dieser Vorgang dauerte von den späten 1990er Jahren bis in die späten 2010er Jahre hinein: von KFOR über ISAF bis MINUSMA. Jetzt gehe es darum, schneller und nicht erst im Jahr 2045 wieder bereit für ein Szenario in der Landes- und Bündnisverteidigung zu sein.

Den optimalen Zeitpunkt für diese Veränderungen habe es ohnehin nie gegeben. Neitzel warnte vor zu viel Zaghaftigkeit: „Wenn man auf hoher See den Kapitän nicht wechseln darf, dann kann man es nie.“ In der Politik könne man ohnehin nie einen sicheren Hafen anlaufen, um durchzuatmen. Er warnte: „Jeden Schritt, den wir jetzt nicht tun, werden wir mit dem Blut unserer Soldaten teuer erkaufen müssen.“ Neitzel erinnerte an die Heeresreform 1859. Die Maßnahmen seien unbeliebt gewesen, hätten aber mittelfristig das preußische Heer zum schlagkräftigsten in Europa gemacht.

Auch Marcel Bohnert ermahnte Politik und Zivilgesellschaft, „Gesellschaft nicht in Watte zu packen.“  Das schüre falsche Hoffnungen. Zivilschutz und Logistik seien in einem gesamtgesellschaftlichen Wandel ebenso gefordert wie die Gestaltung des öffentlichen Diskurses.

Angesprochen auf seine Aussage zum „letzten Friedenssommer in Europa“ in einem Interview mit der BILD am Sonntag, sagte Neitzel: „Ich glaubte auch nicht an den Angriff vor dem 24. Februar 2022.“ Es gehe nicht darum, einen dritten Weltkrieg an die Wand zu malen, sondern die realen Gefahren für die NATO und die EU aufzuzeigen. Es sei denkbar, dass die Brigade 45, die in Litauen stationiert ist, kämpfen müsse, um etwa Spitzbergen zu verteidigen. Insgesamt gehe es um die Kohärenz der Allianz, also die Bindungskraft des Bündnisses unter Beweis zu stellen, um glaubhaft ein Zusammenbrechen der NATO verhindern zu können.

Frank Leidenberger warnte davor, das Problem der Verteidigungsfähigkeit auf die budgetäre Dimension zu reduzieren. „Vergoldete Panzer bringen nichts!“, lautet sein Credo. „Wir warfen Geld gegen ein Problem“, dabei sei allerdings nichts an innovativen Ideen oder Anpassungen an Bedrohungslage und Schlachtfeld der Zukunft umgesetzt worden. Einige wenige Verträge mit sehr großen Umsatzvolumina, insbesondere bei Legacy-Großsystemen, erweckten den Anschein von großen Beschaffungsmaßnahmen. In Wahrheit werde diese Taktik jedoch nur genutzt, um Mitteln abfließen zu lassen, frei nach dem Motto: „Schaut her, wir tun doch etwas.“

Ins selbe Horn stieß Sönke Neitzel bei der Frage, warum die deutsche Politik die aktuellen Entwicklungen geradezu apathisch begleite. Zwar könne er als Historiker mangels Akteneinsicht in das aktuelle Geschehen nur „educated guesses“ treffen, aber historisch habe Kampfkraft bei der Bundeswehr nie im Vordergrund gestanden.

Viel eher sei die Truppe als Trumpf zur Wiederherstellung der bundesrepublikanischen Souveränität betrachtet worden. In der Zeit der Auslandseinsätze habe man in erster Linie die US-Amerikaner aus strategischen Gründen unterstützt, um langfristig weniger für die NATO investieren zu müssen.

Unisono lobte das Panel den Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, für seinen kritischen Beitrag bei LinkedIn zu Beginn der russischen Vollinvasion auf die Ukraine. Sönke Neitzel stellte die These auf, dass es ohne den Post, der hohe Wellen schlug, keinen politischen Willen für das erste Sondervermögen von 100 Mrd. Euro gegeben hätte. Seinerzeit hatte Mais sein Heer als „mehr oder weniger blank dastehend“ bezeichnet. Aber auch hier sei ohne Einsicht in die Akten und den Dienstweg keine seriöse Einschätzung zu treffen.

Die Problemstellung sei ohnehin eine gesamtgesellschaftliche. Anna Engelke stellte fest: „Nach der Annexion der Krim 2014 haben wir uns alle wieder hingelegt.“ Sönke Neitzel ergänzte: Das 2016 erschienene Weißbuch erwähnte das Wort „kämpfen“ nur ein einziges Mal. In der Gedankenwelt der Deutschen kam das einfach nicht vor. Und so brachte es auch Frank Leidenberger auf den Punkt: „Wir müssen uns im Frieden und in Freiheit verändern. Sonst ist die Party vorbei.“

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