NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg (l.) und Bundeskanzler Olaf Scholz (r.) trafen sich heute zum Gespräch über die Lage in der Ukraine. Der Generalsekretär trifft sich darüber hinaus mit Außenministerin Baerbock und Finanzminister Linder. Foto: NATO

17.03.2022
ffs

Selenskyjs Appell an westliche Staaten: Wie reagieren Deutschland, USA und NATO-Staaten?

Berlin/Washington. Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, hat heute in einer elfminütigen Videoansprache vor dem Deutschen Bundestag umfangreichere Sanktionen gegen Russland und wirkungsvollere politische Hilfen für sein Land angemahnt.

„In Europa wird ein Volk vernichtet. Es wird versucht, alles zu vernichten, was uns teuer ist, wofür wir leben", sagte Selenskyj. Trotz frühzeitiger Warnungen vor russischer Expansion seien mögliche politische Entscheidungen gegen Russland systematisch aus wirtschaftlichem Kalkül verzögert worden, kritisierte der ukrainische Präsident. „Wir haben gesehen, dass es auf die lange Bank geschoben wurde, dass Sie weiterhin wirtschaftlich tätig sein wollen, dass es um Wirtschaft geht.“

Selenskyj wurde – ohne die vorherige Bundesregierung aus Union und SPD beim Namen zu nennen – konkret: „Wir haben uns an Euch gewendet. Wir haben gesagt, Nord Stream ist eine Art Vorbereitung auf den Krieg. Dann haben wir die Antwort bekommen: Es ist rein wirtschaftlich. Es ist Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft. Wir haben Euch gefragt, was soll die Ukraine tun, um in die NATO zu kommen, um die Garantien für ihre Sicherheit zu erhalten. Als Antwort haben wir bekommen: Die Entscheidung ist noch nicht auf dem Tisch.“

In Anspielung auf die von US-Präsident Joe Biden tags zuvor in Washington zugesagte Militärhilfe für die Ukraine in Höhe von 800 Millionen Dollar stellte Selenskyj im Bundestag die – offenbar rhetorische – Frage in den Raum: „Warum ist ein Land, das über dem Ozean liegt, etwas näher an uns, was Hilfe angeht?“ Selenskyj gab selbst die Antwort: „Weil da eine Mauer ist, die wir anscheinend noch nicht sehen.“

Diese von Russland errichtete Mauer trenne nun seit mindestens drei Wochen die Ukraine von Europa. „Es ist eine Mauer inmitten Europas zwischen Freiheit und Unfreiheit“, sagte Selenskyj. „Und diese Mauer wird größer mit jeder Bombe, die auf die Ukraine fällt, mit jeder nicht getroffenen Entscheidung für den Frieden, die uns helfen könnte. Sie können das alles sehen, wenn Sie hinter die Mauer schauen“, sagte Selenskyj. Aber: „Sie wollen nicht über die Mauer gucken.“

Am Ende seiner Rede richtete Selenskyj einen persönlich formulierten Appell an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). „Lieber Herr Bundeskanzler Scholz, zerstören Sie diese Mauer. Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die Deutschland verdient. Damit Ihre Nachfahren stolz sind auf Sie, unterstützen Sie den Frieden. Unterstützen Sie die Ukrainer! Stoppen Sie diesen Krieg! Helfen Sie uns, diesen Krieg zu stoppen. Es lebe die Ukraine.“

Die im Plenarsaal anwesenden Politiker – Mitglieder der Bundesregierung ebenso wie Abgeordnete – erhoben sich nun, mit ein wenig verzögerter Spontanität, von ihren Plätzen und applaudierten längere Zeit stehend.

Nachdem die vielen Hände zur Ruhe gekommen waren, wollte Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) zur geschäftsmäßigen Tagesordnung der Plenarsitzung übergehen – mit folgenden Themen: Impflicht gegen SARS-CoV-2, Sichere Energieversorgung, 30 Jahre Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Meinungsfreiheit im Internet, Lage der ukrainischen Flüchtlinge, Heizkostenzuschuss, Inklusive Arbeitswelt, Medien- und Kommunikationsbericht 2021, Finanzierung des Politischen Islamismus, Absenkung der Kostenbelastung durch die EEG-Umlage, Folgen der Ukraine-Krise für die Ernährungssicherheit, Einführung von Füllstandsvorgaben für Gasspeicheranlagen, Fristenballung bei steuerberatenden Berufen, Griechenland: Vorzeitige Rückzahlung eines Kredites des IWF, Mahnmal für die Opfer des Kommunismus, Rekommunalisierung der Wasserversorgung. Geplantes Sitzungsende: kurz vor Mitternacht.

Der vorgesehene Ablauf wurde jedoch durch den CDU-Abgeordneten Sepp Müller (CDU) gestört. „Bomben fallen auf Theater, in denen Kinder Schutz suchen und wir führen eine Debatte um die Impfpflicht – ohne Anstand, ohne Respekt ohne Würde“, sagte der aus der Lutherstadt Wittenberg in Sachsen-Anhalt stammende Müller. Er plädierte stattdessen dafür, „dem ukrainischen Präsidenten eine Antwort zu geben“.

Nach einigen Wortwechseln lehnten die Abgeordneten der Regierungsfraktionen SPD, Grüne und FDP den Antrag der Opposition auf eine Aussprache des Parlaments über den Ukraine-Krieg und die heutige Rede des ukrainischen Präsidenten vor dem Deutschen Bundestag ab.

Bundeskanzler Scholz ergriff später dennoch das Wort: „Ich danke Selenskyj für seine eindringlichen Worte im Bundestag. Wir sehen: Russland treibt seinen grausamen Krieg jeden Tag weiter, mit schrecklichen Verlusten. Wir fühlen uns verpflichtet, alles zu tun, damit die Diplomatie eine Chance hat und der Krieg beendet wird“, resümierte Scholz via Twitter.

Einen Tag zuvor hatte der ukrainische Präsident andere Erfahrungen gesammelt. Am Mittwoch hatte er – von Kiew aus und ebenfalls via Video – vor beiden Häusern des US-Kongresses geredet. Selenskyj sprach dabei vom „schlimmsten Krieg“ seit dem Zweiten Weltkrieg und erneuerte seine – von den USA zuvor bereits einmal abgelehnte – Forderung nach der Einrichtung einer Flugverbotszone in der Ukraine.

Es dauerte nicht lange, da kündigte US-Präsident Joe Biden weitere Waffenlieferungen und Sicherheitshilfen für die Ukraine im Wert von 800 Millionen Dollar (etwa 730 Millionen Euro) an. „Wir werden Ihnen weiterhin den Rücken stärken, wenn Sie für Ihre Freiheit, Ihre Demokratie und Ihr Überleben kämpfen“, sagte Biden am Mittwoch in Washington.

Bis zu 800 hochmoderne Stinger-Flugabwehrraketen und etwa 2600 Panzerabwehr-Lenkwaffen vom Typ Javelin würden an die Ukraine geliefert, präzisierte anschließend – nach Angaben der New York Times – ein hochrangiger White-House-Beamter die Ankündigung seines Präsidenten. Biden sagte zudem die Lieferung von 100 taktischen Drohnen zu, dem Vernehmen nach – so Recherchen des Politik-Portals Politico – sogenannte Kamikaze-Drohnen vom Typ Switchblade.
Die USA würden der Ukraine außerdem dabei helfen, Flugabwehrsysteme mit noch größerer Reichweite zu bekommen, um Ziele in größeren Höhen zu treffen.

Nach Auskunft des White-House-Beamten stellen die USA zudem fünf Mi-17-Hubschrauber, drei Patrouillenboote und 70 andere Fahrzeuge sowie Kleinwaffen und taktische Ausrüstung bereit.
Laut Bild-Zeitung handelt es sich dabei um 6000 AT-4 Panzerabwehrsysteme, 100 Granatwerfer, 5000 Gewehre, 1000 Pistolen, 400 Maschinengewehre, 400 Schrotflinten, 20 Millionen Schuss Munition, 25.000 Schutzwesten und 25.000 Helme.

Die Waffen stammten aus bestehenden US-Militärbeständen in Europa und würden in Nachbarländer wie Polen und Rumänien geflogen, wo sie über Land in die Westukraine verschifft werden, teilte – laut New York Times – der Beamte des Weißen Hauses mit.

„Russland hat den ukrainischen Himmel zur Quelle des Todes für Tausende Menschen gemacht“, sagte Selenskyj in seiner viertelstündigen Rede vor dem US-Kongress, die auch vom US-Publikum mitverfolgt werden konnte. Selenskyj appellierte an den Westen: „Wir brauchen Sie jetzt“.

Die NATO reagiert ambivalent. Truppen des Verteidigungsbündnisses in den östlichen Bündnisländern sollen deutlich aufgestockt werden, hieß es nach einem Sondertreffen der NATO-Verteidigungsminister gestern in Brüssel. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, nötig seien „erheblich mehr Truppen im östlichen Teil der Allianz mit höherer Bereitschaft“. Die NATO-Staaten hätten die Militärführung bereits mit der Ausarbeitung konkreter Pläne beauftragt.

Zugleich wurden Grenzen der Unterstützung für die Ukraine markiert. Die NATO-Staaten seien sich darin einig, dass das Bündnis keine Flugverbotszone in der Ukraine einrichten werde, teilte Stoltenberg nach dem Treffen in einer Pressekonferenz mit. Den polnischen Vorstoß für eine „Friedensmission“ der NATO in der Ukraine lehnten die Mitgliedsländer laut Stoltenbergs ab. Es werde „keine Stationierung von Luft- oder Bodenkapazitäten in der Ukraine geben, und das ist die einheitliche Position unserer Verbündeten“, sagte Stoltenberg.

Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) warnte in Brüssel vor einem „Flächenbrand“, sollte die NATO direkt militärisch in den Konflikt mit Russland eingreifen. Die Niederlande und Großbritannien äußerten sich ebenfalls skeptisch.

Für einen härteren Konfrontationskurs gegenüber Russland sprach sich hingegen die Ministerpräsidentin des NATO-Mitgliedsstaates Estland, Kaja Kallas, aus. Nach Ansicht der estnischen Regierungschefin sollte sich die NATO im Ukraine-Krieg alle Optionen offenhalten. „Rote Linien wurden nicht vereinbart. Ich mag es nicht, wenn öffentlich gesagt wird, dass wir unter keinen Umständen eingreifen werden", sagte Kaja Kallas im estnischen Radio. Kreml-Chef Putin sollte nicht das Gefühl erhalten, ungestraft handeln zu können.

Der beste Weg zum Frieden besteht nach Auffassung von Kallas darin, ein klares Signal zu geben, dass der Westen notfalls eingreifen werde, um Schlimmeres zu verhindern. „Aber die Wahrnehmungen sind anders, besonders in Ländern, die weiter vom Krieg entfernt sind“, sagte die Ministerpräsidentin Kallas. Estland grenzt im Osten des Landes an Russland.

Die Wahrnehmungen der Menschen in dem Land, das am wenigsten weit vom Krieg entfernt ist, der Menschen in der Ukraine, könnten von folgenden Umständen und Entwicklungen mitgeprägt sein:

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat seit Jahresbeginn weltweit 89 Angriffe auf das Gesundheitswesen registriert, davon 43 Angriffe auf Krankenhäuser und andere Gesundheitseinrichtungen in der Ukraine seit dem 24. Februar 2022. Mindestens zwölf Menschen wurden bei diesen Angriffen getötet und mindestens 34 verletzt.

Allein gestern, am Mittwoch, dem 16. März 2022, flohen – nach Angaben des UN-Flüchtlingswerks UNHCR – 93.495 Menschen aus der Ukraine. Seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 sind insgesamt 3.063.095 Menschen aus ihrer Heimat geflüchtet. Zu Beginn des Krieges ging das UNHCR von maximal vier Millionen Flüchtlingen aus; inzwischen rechnet man mit deutlich mehr Kriegsflüchtlingen. Vor dem Krieg lebten in der Ukraine etwa 44 Millionen Menschen.

Mit Rat und Hilfe stets an Ihrer Seite!

Nehmen Sie Kontakt zu uns auf.

Alle Ansprechpartner im Überblick