Diskutieren über die Zeitenwende: Oberst André Wüstner, Bundesvorsitzender des DBwV, Thorsten Jungholt, Journalist bei Welt und Welt am Sonntag, Dr. Ringo Wagner, Leiter des Landesbüros Sachsen-Anhalt der Friedrich-Ebert-Stiftung, Dr. Michael Thöne, Geschäftsführender Direktor, Finanzwissenschaftliches Forschungsinstitut an der Universität zu Köln (FiFo) und Dr. Hans-Peter Bartels, Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik, Wehrbeauftragter a.D. Foto: DBwV/Oliver Krause

Diskutieren über die Zeitenwende: Oberst André Wüstner, Bundesvorsitzender des DBwV, Thorsten Jungholt, Journalist bei Welt und Welt am Sonntag, Dr. Ringo Wagner, Leiter des Landesbüros Sachsen-Anhalt der Friedrich-Ebert-Stiftung, Dr. Michael Thöne, Geschäftsführender Direktor, Finanzwissenschaftliches Forschungsinstitut an der Universität zu Köln (FiFo) und Dr. Hans-Peter Bartels, Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik, Wehrbeauftragter a.D. Foto: DBwV/Oliver Krause

02.10.2024
Oliver Krause

Zeitenwende auf der Kippe? – Petersberger Gespräche

Die Zeitenwende stand bei den 19. Petersberger Gesprächen Ende September im Mittelpunkt. Der Bundesvorsitzende Oberst André Wüstner vertrat bei der Veranstaltung die Position des DBwV.

Königswinter. Welche Themen der Politik wirklich wichtig sind, lässt sich zuverlässig daran erkennen, wofür der Staat Geld ausgibt. Für Verteidigung will die Ampel-Koalition 2025 im Kernhaushalt 53,2 Milliarden Euro aufwenden, sollte der Bundestag dem Haushaltsentwurf zustimmen. Das entsprächen rund 10 Prozent des Gesamthaushalts, der 488,6 Milliarden Euro umfassen soll. Der Zuschlag aus dem Sondervermögen ist darin noch nicht mitberechnet.

Trotz Sondervermögen seien die Verteidigungsausgaben zu gering und der Bedrohungslage nicht angemessen, findet Verteidigungsminister Boris Pistorius. „Der Betrag reicht mir nicht“, hatte er schon im Juli nach dem Kabinettsbeschluss gesagt. Wenn Deutschland in seinem aktuellen Tempo weiter rüste, hätte es in 100 Jahren den Materialbestand, den es vor 20 Jahren einmal hatte, fand das Kieler Institut für Weltwirtschaft kürzlich heraus.

„Wir leben in einem Zeitalter strategischer Überraschungen.“

Viel getan hat sich trotz alledem nicht. Seit dem Ende der parlamentarischen Sommerpause diskutieren SPD, Grünen und FDP über den Haushalt 2025 – sogar der Bruch der Koalition steht offenbar im Raum. Wie soll da die Zeitenwende gelingen, die der Bundeskanzler nach dem großangelegten russischen Angriff am 27. Februar 2022 beschwor? Darum ging es auf den 19. Petersberger Gesprächen, die am 28. September stattfanden.

Dr. Hans-Peter Bartels, Präsident der Gesellschaft für Gesellschaft (GSP), eröffnete die Veranstaltung und vertrat dabei Schirmherr Wolfgang Hellmich, der kurzfristig verhindert war. Der ehemalige Wehrbeauftragte analysierte in seinen Grundgedanken treffsicher: „Wir leben in einem Zeitalter strategischer Überraschungen.“ Weder mit dem Ukraine-Krieg noch mit der Eskalation im Nahen Osten habe man gerechnet. Daher brauchten Deutschland und Europa eine Ausweitung der industriellen Produktionskapazitäten. Dafür hat Bartels einen kreativen Vorschlag: Deutschlands Automobil und -zulieferindustrie könnte einen Beitrag leisten, den sie in der Vergangenheit bereits hatte. „Porsche, Daimler, ZF hatten früher auch eine Rüstungssparte“, so Bartels. Er kritisierte in diesem Zusammenhang, dass der Verteidigungshaushalt nicht weiter steige. „Der Verteidigungshaushalt sollte bis 2028 jedes Jahr um sieben Milliarden Euro anwachsen.“ Bartels warb dabei für die Einhaltung der Schuldenbremse. „Es geht um Priorisierung“, so Bartels. Die Koalitionäre hätten ihren Koalitionsvertrag nach dem großangelegten russischen Überfall neu verhandeln und sich an den neuen Herausforderungen orientieren müssen. Für Bartels sind das Verteidigung, Wirtschaft und Migration.

Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität dürften nicht weiter gefährdet werden

Dr. Michael Thöne, Geschäftsführender Direktor des Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstitut an der Universität zu Köln (FiFo) warb für eine großangelegte Reform des Staates und seiner Verwaltung, die insbesondere den demografischen Wandel berücksichtige. Der Status quo der sozialen Sicherungssysteme sei nicht mehr lange zu halten. Er kritisierte ein System der „Einzelfallgerechtigkeit“, das personalaufwändig und schwerfällig sei. Pauschalen Steuererhöhungen und der Aussetzung der Schuldenbremse erteilte er aber eine Absage. Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität dürften nicht weiter gefährdet werden.

„Die Soldaten erleben die Zeitenwende nicht oder nur selten“, kritisierte Thorsten Jungholt, der bei Welt und Welt am Sonntag unter anderem zuständig vor Verteidigungspolitik ist. Die Bundesregierung, die deutsche Politik sei mit wenigen Ausnahmen nach wenigen Wochen nach dem 24. Februar 2022 zurückgefallen in ihren Vorkriegsmodus. Zwar gäbe es kleine Fortschritte, wie die Stationierung von weitreichenden US-Raketen in Deutschland, aber insgesamt gehe es zu langsam, zu spät und zu wenig voran. Das ist für Jungholt ein grundsätzlicheres Problem: „SPD, Grünen und FDP sind nicht mehr regierungsfähig, jetzt wo das Geld fehlt, um politische Differenzen auszugleichen.“ Hätten aber Militärs und Nachrichtendienste Recht, könne Russland schon 2029 in der Lage, sein NATO-Territorium anzugreifen. Die Frage sei also nicht, ob die Zeitenwende auf der Kippe stehe, sondern, ob wir bereit sind und das notwendige tun, um unser Land verteidigungsfähig zu machen. „Ich bin hier skeptisch“, resümierte Jungholt.

Oberst André Wüstner, Bundesvorsitzender des Deutschen BundeswehrVerbands führte in seinem Vortrag aus, dass seit dem großangelegten Angriff durchaus viel passiert sei. Die Frage sei aber in der Tat, ob das, was sich bei der Bundeswehr getan habe, ausreiche angesichts der realen russischen Bedrohung. „Und hier sind sich nationale wie internationale Experten einig: Es reicht nicht“, so Wüstner. Die Gesellschaft sei oftmals weiter als die Politik. „Auch die Medien berichten heute mehr und sachlich über Verteidigung, Rüstung und Beschaffung. Rüstungsindustrie ist nicht mehr Igitt.“ Die Lage sei also besser als noch vor der Zeitenwende. „Allerdings hat Deutschland nicht nur militärische Fähigkeit kaputtgespart und seine Industrie Produktionskapazitäten abgebaut, auch der verteidigungspolitische Sachverstand in den Parteien ist verlorenen gegangen.“ Der sei aber elementar, wenn Mehrheiten organisiert und Populisten widerlegt werden müssten.

Doch nicht nur im Bereich Verteidigung, auch im Bereich der Inneren Sicherheit steht das Land vor enormen Herausforderungen. Auch dort bedarf es einer „Zeitenwende“, müssen sich die Behörden auf eine neue Lage einstellen, obwohl Geld, Material und Personal knapp sind.

Mehr Optimismus bei der Zeitenwende

 „Die Zeitenwende ist vor allem eine Anerkennung einer Lage, die vorher schon da war“, sagte Sebastian Hartmann, Innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, zum Umstand, dass Russland seinen Krieg gegen die Ukraine bereits 2014 begonnen hatte. „Die Friedensdividende ist nicht nur im Verteidigungsbereich aufgebraucht“, so Hartmann. Deutschland werde auf vielfältige Weise hybride bedroht, weshalb es zum Beispiel auch seine Spionageabwehr wieder stärken müssen. Auch der „Verächtlichmachung unserer überlegenen Staatsform, der Demokratie“ müssten sich Staat und Gesellschaft entschieden entgegenstellen.  „Wir befinden uns nicht mehr im Frieden, aber noch nicht im Krieg. Mit dieser Lage müssen wir uns auseinandersetzen.“ Dabei rief er zu mehr Optimismus auf. Die Zeitenwende sei „schaffbar“, Russland besitze ungefähr das Bruttoinlandsprodukt von Italien.

Generalleutnant Gert Friedrich Nultsch, Abteilungsleiter Planung im Bundesministerium der Verteidigung (BMVg), widersprach – auch als vorheriger Vizepräsident BAIINBw, wie er selbst sagte – der Darstellung, dass Deutschland seinen militärischen Zusagen nicht nachkomme. „Was Deutschland zusagt, hält es auch“, so der General. Die NATO habe sich nach 2014 sehr wohl auf die neue Lage eingestellt. National habe man das allerdings vielleicht nicht immer ganz nachvollzogen. Für die Zukunft erwartete der Dreisternegeneral zusätzliche Aufgaben auf Deutschland zukommen. Die NATO aktualisiere ihre Planungsziele aktuell, die Zuteilung erfolge dann nach Wirtschaftskraft. Auf Deutschland gemünzt heiße das, dass die Bundesrepublik mit der Bundeswehr zehn bis elf Prozent der Fähigkeiten stellen müsse.

Groß ist der Handlungsbedarf, wenn es um Schutz der Bevölkerung geht

Die Herausforderungen, vor denen Hilfsorganisationen stehen, skizzierte Generalleutnant a.D. Martin Schelleis, heute Bundesbeauftragter für Krisenresilienz, Sicherheitspolitik und Zivil-Militärische Zusammenarbeit bei den Maltesern. Laut Gesetz müssten Deutsches Rotes Kreuz, Johanniter-Unfall-Hilfe und der Malteser Hilfsdienst die Sanität der Bundeswehr im Ernstfall unterstützen. Die Malteser hätten sich daher die richtige Frage gestellt: „Wenn die Bundeswehr jetzt kriegstüchtig werden soll, was bedeutet das für uns?“  Man brauche konkrete Vorgaben der Bedarfsträger. Das sei nicht nur das Militär, sondern auch die Innenbehörden.

„Noch größer ist aber der Handlungsbedarf, wenn es um den Schutz der Bevölkerung selbst geht“, sagte Schelleis. Die Lage ist durch die föderale Struktur Deutschland zusätzlich kompliziert. „Für Bevölkerungsschutz sind im Frieden die Länder und zum Teil die Landkreise zuständig.“

Schlussendlich hat die Veranstaltung einmal mehr zum Ausdruck gebracht, dass Deutschland mehr für seine Sicherheit tun muss und kann. Die Lage ist mitnichten ausweglos, wenn die Politik entschlossen handelt. Aber genau daran hapert es. Das hohe Maß Unzufriedenheit in der Bevölkerung kann also niemanden ernsthaft überraschen. 

Die Petersberger Gespräche zur Sicherheit 2024 wurden unter der Schirmherrschaft von Wolfgang Hellmich MdB von der Gesellschaft für Sicherheitspolitik (GSP), der Friedrich-Ebert-Stiftung (Landesbüro NRW und Sachsen-Anhalt) sowie dem Bildungswerk des Deutschen BundeswehrVerbandes organisiert.

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