Nicht nur mehr, sondern genug
Deutschland muss endlich der Lage entsprechend handeln. Verteidigung und wirtschaftliche Stärke müssen Priorität bekommen.
Vom Washingtoner NATO-Gipfel sollte ein großes Signal der Stärke und Geschlossenheit ausgehen. Europas Sicherheit hängt maßgeblich von den USA ab. Daran hat sich in den rund zweieinhalb Jahren seit der großangelegten russischen Invasion der Ukraine nichts geändert. Insofern fand der Gipfel auch vor dem Hintergrund des US-Präsidentschaftswahlkampfes statt.
Denn die allermeisten Regierungen Europas dürften sich eine Wiederwahl von US-Präsident Joe Biden gewünscht haben, dessen Bekenntnis zur NATO, aber auch zur Unterstützung der Ukraine, nie zur Disposition stand. Umgekehrt werden Biden und sein Team auf Bilder gehofft haben, die ihn als starken Anführer der freien Welt zeigen und (innenpolitische) Zweifel an seiner Handlungsfähigkeit zerstreuen.
Nach seinem schwachen Auftritt im ersten TV-Duell am 27. Juni stand er unter enormem Druck. Dass er prompt den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj als „President Putin“ ankündigte, bestätigte einmal mehr viele in der Ansicht, er sei zu alt, gesundheitlich angeschlagen und der Aufgabe des Amtes nicht mehr gewachsen.
Relativierung mit wahrem Kern
In der Abschlusspressekonferenz am 12. Juli wurde Bundeskanzler Olaf Scholz mehrfach auf die Situation angesprochen und war sichtlich bemüht auszuführen, dass der Präsident die richtigen Entscheidungen treffe, dass es darauf ankomme und Versprecher jedem mal passieren. Es war eine alternativlose Relativierung mit einem wahren Kern. Denn in der Tat hat Biden Enormes für die Sicherheit Europas getan und war darüber hinaus bereit, sich zusätzlich zu engagieren, ohne die Europäer aus der Pflicht zu nehmen, mehr für ihre Sicherheit zu tun.
Die bilateral vereinbarte Stationierung von Abwehrraketen vom Typ SM-6, dem Marschflugkörper „Tomahawk“ und den noch in der Entwicklung befindlichen, hypersonischen Waffen ab 2026 in Deutschland ist ein gutes Beispiel dafür. Es ist eine defensive Reaktion auf die seit Jahren akute russische Bedrohung unter anderem durch die atomar bestückbare Iskander-M-Raketen in Kaliningrad. Zugleich verschafft die Stationierung den Europäern Zeit, eigene Systeme zu entwickeln.
Auch aus einer streng amerikanischen Sicht hat Biden objektiv vieles richtig gemacht. Die Inflationsrate ist von über neun Prozent im Juni 2022 nach einem Jahr auf circa drei Prozent gesunken, der Jobmarkt boomt, die Löhne steigen und die Kriminalitätsrate ist deutlich gesunken. Doch das alles zählte immer weniger angesichts der massiven Zweifel, ob er fit für eine zweite Amtszeit ist.
Der Kontrast zum Herausforderer Trump hätte dann auch nicht mehr größer werden können, als dieser am 13. Juli bei einer Wahlkampfveranstaltung in Pennsylvania vor laufenden Kameras einen Attentatsversuch überlebte und dabei eine ziemlich beeindruckende Figur machte. Er verlor nicht die Nerven, sondern nutzte die Situation geschickt, indem er seine Faust kämpferisch in den Himmel reckte, während ihn seine Personenschützer von der Bühne brachten, die Wange blutverschmiert. Es entstanden Bilder für die Geschichtsbücher. Der republikanische Nominierungsparteitag, zwei Tage später am 15. Juli in Milwaukee, geriet zum Triumphzug.
Mit der Ernennung des 41-jährigen Senators James David „J. D.“ Vance zu seinem Vizepräsidentschaftskandidaten gelang ihm der nächste Coup. Vance, Veteran des Marine Corps, Yale-Alumnus und Bestsellerautor (Hillbilly-Elegie), hat schon als Senator Deutschlands Energie-, Industrie- und Wirtschaftspolitik zielsicher kritisiert. Auf der letzten Münchner Sicherheitskonferenz warf er Grünen-Chefin Ricarda Lang vor: „Wenn Putin um jeden Preis besiegt werden muss, dann, liebe deutsche Freunde, hört auf, euer eigenes Land im Namen einer lächerlichen grünen Energiepolitik zu deindustrialisieren.“ Diese Verbindung war nicht neu. Im März 2023 hatte er auf X, vormals Twitter, geschrieben: „Warum subventionieren amerikanische Steuerzahler die idiotische deutsche Energiepolitik und die schwache Verteidigungspolitik? Ein Rätsel.“
Damit bemühte er eine nachvollziehbare Sichtweise. Fast die Hälfte der Amerikaner hat weniger als 500 Dollar auf dem Konto. Die Bereitschaft, Geld für die Verteidigung Europas auszugeben, ist also verständlicherweise überschaubar. Während der Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Mehrheit der Deutschen den Rettungspaketen für Griechenland auch nur widerwillig zugestimmt.
Erwartungshorizont in Washington
Es genügt also offenkundig nicht, wenn die Europäer darauf verweisen, dass zwischenzeitlich 23 Staaten der NATO mehr als zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgeben und damit die 2014 beschlossene Zielvorgabe einhalten. Es geht um militärische Fähigkeiten. Dass Deutschland im nächsten Jahr 35.000 Soldaten in der höchsten Bereitschaftsstufe bereithält, ist ohne Frage eine starke Leistung der Truppe. In den USA verweist man dann allerdings darauf, dass die alte Bundesrepublik zur Zeit des Kalten Krieges allein zwölf Heeresdivisionen unterhielt. Der Vergleich ist angesichts von Friedensdividende, Aussetzung der Wehrpflicht und demografischer Entwicklung nicht ganz fair, er illustriert aber den Erwartungshorizont in Washington. Dass es auch anders geht, zeigt zudem das vielzitierte Beispiel Finnland. Obwohl nur rund 5,5 Millionen Einwohner, schafft es das Land, im Ernstfall über 200.000 Soldaten auszurüsten. Und auch dort gibt es einen Sozialstaat.
Es reicht bei weitem nicht
Nun kann man nicht erwarten, dass 30 Jahre Spar- und Schrumpfkurs in zwei Jahren aufgeholt werden können. Aber man kann erwarten, dass die Bundesregierung das Notwendige tut. Und damit sind wir beim deutschen Verteidigungshaushalt. Es ist erschütternd, dass der Einzelplan 14 trotz der massiven russischen Aufrüstung – in Kriegszeiten – nur um magere 1,25 Milliarden Euro anwachsen soll. Ja, Deutschland gibt viel mehr für Verteidigung aus als noch vor ein paar Jahren. Aber es ist eben noch nicht genug. Das immer noch deutlich ärmere Polen setzt klare Prioritäten: Mehr als drei Prozent für Verteidigung auszugeben, ist für unseren östlichen Nachbar völlig selbstverständlich. Und Wirtschaftswachstum kommt vor Umweltschutz.
Das ist alles kein Selbstzweck. Russland produziere jedes Jahr zwischen 1.000 und 1.500 Panzer. „Die fünf größten europäischen NATO-Mitgliedstaaten haben gerade mal die Hälfte davon im Bestand“, erklärte General Carsten Breuer im Tagesspiegel. Es produziert über drei Millionen Granaten und Raketen pro Jahr, mehr als alle 32 NATO-Staaten zusammen, führte US-General Christopher Cavoli, Supreme Allied Commander Europe (SACEUR), im April vor dem Repräsentantenhaus aus.
Es geht vor allem auch um China
Nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus sicherheitspolitischen Gründen forcieren die USA eine Reindustrialisierung. Darin unterscheiden sich Trump und Biden nicht maßgeblich voneinander. Das hat auch mit Russland, vor allem aber mit China zu tun.
Der Widerstand der Republikaner gegen das Ukraine-Hilfspaket geschah nicht aus Böswilligkeit. Die Grand Old Party legte vielmehr größten Wert darauf, dass die Streitkräfte durch die Materialabgaben an die Ukraine nicht ausbluten und für einen möglichen Konflikt mit China vorbereitet sind. Der Großteil des Hilfspakets fließt sodann auch zurück ins Land und in die Nachbeschaffung. Die chinesische Marine hat schon seit zehn Jahren mehr Schiffe als die US Navy. Tendenz steigend, was eine Folge des Niedergangs der Werftindustrie ist. Richtigerweise ist Quantität nicht Qualität, aber irgendwann ist Quantität eine Qualität für sich. Angesichts dieses, den USA aufgezwungenen Rüstungswettlaufs, werden sie gar nicht anders können, als ihren Schwerpunkt weiter in den Pazifik zu verlagern.
Insofern müssen die Europäer und besonders Deutschland als das wirtschaftlich stärkste und bevölkerungsreichste Land schleunigst das Hinreichende für die Verteidigung tun und ihre/seine industrielle Basis stärken. Oberstes Ziel muss es sein, Stück für Stück mehr und neue Fähigkeiten aufzubauen und den Großteil der NATO-Fähigkeiten selbst zu stellen. Das wird nur mit einer klaren Prioritätensetzung und einer überfälligen, staatlichen Aufgabenkritik gelingen.