Mangelware Personal: Soldatinnen und Soldaten werden in fast allen NATO-Staaten dringend benötigt. Foto: DBwV/Yann Bombeke

Mangelware Personal: Soldatinnen und Soldaten werden in fast allen NATO-Staaten dringend benötigt. Foto: DBwV/Yann Bombeke

08.07.2024
Von Phlipp Kohlhöfer

NATO: Mehr Soldaten nötig

Wenn die Staatenlenker der NATO sich ab Dienstag in Washington zur Jubiläumsfeier treffen, hat die Allianz viele Probleme zu besprechen. Das vermutlich wichtigste: Wo bekommt man Soldaten her?

Die Deutschen, die Briten, die Franzosen, die Italiener: die Armeen des europäischen Arms der NATO haben zu wenig Soldaten. Die Briten verfügen mit knapp 138.000 Soldaten über die kleinste Armee ihrer Geschichte und schaffen es schon seit über zehn Jahren nicht mehr, ihre Rekrutierungsziele zu erfüllen. Das französische Heer hat in den letzten zehn Jahren ein Zehntel seiner Truppenstärke eingebüßt und ein Trendumkehr ist nicht in Sicht. Für die Italiener gilt das in ähnlichem Maße: von 200.000 Soldaten ging es seit 2014 auf 160.000 Uniformierte.

Und was die Bundeswehr betrifft: Demnächst wird die Zahl der Soldaten vermutlich unter die 180.000 sinken. Das ist dann nicht mehr weit entfernt vom historischen Tief 2016, damals hatte die Truppe rund 166.000 Soldaten. Umso weiter entfernt ist es allerdings von der Zielgröße von 203.300 Männern und Frauen. Und das ist für die Aufgaben, die die Bundeswehr in Zukunft schultern muss, ohnehin schon zu klein.

Der Personalbedarf nimmt zu

Denn der Bedarf wird NATO-weit wachsen, dass betrifft vor allem die europäischen Verbündeten. In ihrer „Vision 2025“ plant das Joint Warfare Centre der NATO inzwischen mit mehr als hundert Brigaden zur Verteidigung des Bündnisgebiets. Deutschland stellt davon, seiner Bevölkerung und Wirtschaftskraft entsprechend, etwa zehn Prozent. Das wären 20.000 bis 30.000 Soldaten mehr als bisher, eine weitere Division. Zudem wird die Heeresflugabwehr als Fähigkeit aufgebaut, Arrow 3 und IRIS-T kommt und auch die Anforderungen der NATO werden, Russland-bedingt, vermutlich wachsen. Es gibt Schätzungen, nachdem zur Landesverteidigung etwa 340.000 Soldaten plus 100.000 regelmäßig übende Reservisten nötig seien.

Auf große Truppenverbände waren die Einsatzpläne der NATO jahrzehntelang nicht ausgerichtet. Eher ging es darum, wenige Spezialtruppen schnell in Einsatzgebiete rund um die Welt zu schicken. Aber die Umstände haben sich verändert, spätestens im Februar 2022. Trotz der russischen Aufrüstung scheint das Zeitalter der Bürgerarmeen aber zu Ende zu sein, denn selbst in Schweden und Finnland, den neuen NATO-Mitgliedern, ist der Dienst an der Waffe zwar gesellschaftlich hoch angesehen, aber dennoch wird auch dort nur ein kleiner Teil der Bürger eingezogen. Allerdings braucht selbst die modernste Armee der Welt Menschen, um die Systeme zu bedienen – selbst dann, wenn es Drohnenpiloten sind. Das Problem: Eine kleinere Armee ist schlechter ausgestattet und weniger flexibel, wenn es in Einstätze geht, kann dadurch weniger rotieren, was die Zeit verkürzt in der trainiert werden kann.  Das führt zur Frustration unter den Soldaten - die das Militär dann verlassen. Es ist eine sich selbst verstärkende Abwärtsspirale. Dass das die Missionen und die Einsatzfähigkeit gefährdet, liegt auf der Hand.

Royal-Navy-Schiffe liegen im Hafen fest

Dennoch bekräftigte erst im Juli 2023 das britische Verteidigungsministerium, dass man an der Verkleinerung des Heeres festhalte. Ob sich das unter einer neuen Labour-Regierung ändert, bleibt abzuwarten. Das Ziel der Reduktion: Fünf Milliarden Pfund einsparen. Dabei ist das britische Militär bereits jetzt massiv unterfinanziert. Die beiden Flugzeugträger der Briten, die HMS Queen Elizabeth und die HMS Prince of Wales, liegen meist im Hafen der Royal Navy in Portsmouth, weil ihnen Begleitboote wie etwa Fregatten fehlen. Großbritannien, sagte erst im Mai Generalmajor James Martin, „may not be fully prepared to fight a full-scale war”. Der Fokus der Franzosen liegt laut Streitkräfte-Planungsgesetz bis 2030 in Ostasien, Ziel ist nicht die Aufstellung durchhaltefähiger Großverbände, sondern ein „umfassendes Armeemodell“. „Es geht darum“, sagte Verteidigungsminister Sebastien Lecornu erst im Januar 2024 vor dem Verteidigungsausschuss, „die überseeischen Gebiete in taktischer und logistischer Hinsicht näher an Frankreich heranzuführen.“ Daran hat auch Putin nichts geändert. Und als EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton am 9. Januar einen 100-Milliarden-Euro-Fonds zur Förderung der europäischen Verteidigungsindustrie vorschlägt, – nicht nur, um der Ukraine zu helfen, sondern auch, um sich gegen einen amerikanischen Rückzug aus der NATO abzusichern, falls Trump Präsident wird –, passierte: Gar nichts.

Zwar haben die europäischen Alliierten auf dem Papier rund 1,9 Millionen Männer und Frauen unter Waffen, aber Köpfe zählen hilft nur bedingt – zumal das einerseits nicht alles Kampftruppen sind und es anderseits auch keine einheitliche europäische Kommandostruktur gibt, die jenseits der USA funktionieren kann.

Mit dem New Force Model sollen bis zu 500.000 Soldaten mobilisert werden

In ihrem aktuellen strategischen Konzept von 2022 hat die NATO Russland erstmals seit dem Kalten Krieg wieder als „direkte Bedrohung“ bezeichnet. Als Reaktion darauf und als Teil des neuen Strategischen Konzepts ist das „New Force Model“ beschlossen. Das Modell sieht eine Truppenstärke von 100.000 Mann zu Beginn und 500.000 Mann in der letzten Mobilisierungsstufe vor. Der deutsche Beitrag dazu: knapp 30.000 Soldatinnen und Soldaten und 85 Schiffe und Flugzeuge - in den ersten dreißig Tagen. Wenn überhaupt funktioniert das bisher in der ersten Stufe nur mit Einschränkungen. Das ist allerdings kein alleiniges deutsches Problem. So wird der Beitrag Großbritanniens wohl frühestens 2035 kommen. Und auch die Kommandostruktur ist noch nicht so weit.

Jahrelang war die NATO nur für Stabilisierungseinsätze außerhalb des Bündnisgebietes aufgestellt. Die Tiefe der Truppe ist da nicht entscheidend, in der Regel reichen für solche Missionen wenige tausend Soldaten. Eine andere Frage ist es, wenn in einem großen Krieg Infanterie wieder eine entscheidende Rolle spielt und man davon ausgehen muss, dass Teile der Truppe fallen oder verwundet werden. Der Vergleich mit dem Kalten Krieg zeigt: Ihre Zielstärke von knapp 500.000 Soldaten hatte die Bundeswehr ab Mitte der 1970er Jahre erreicht. Im Verteidigungsfall, von Krieg sprach damals niemand, wäre die Armee auf mehr als 1,3 Millionen Soldaten angewachsen. Reservisten hätten die Verbände auf ihre volle Stärke gebracht, Ausrüstung für sie lagerte in den Kasernen. Zwei Drittel der deutschen Heeresstärke wären dann Reservisten gewesen, darunter unter anderem zwölf Heimatschutzbrigaden und 15 Heimatschutzregimenter, die sich um den Schutz des Rückraums kümmern sollten, die Rear Combat Zone. Dazu existierten knapp 150 Sicherungskompanien und 300 selbstständige Sicherungszüge zum Objektschutz. Alleine zehn Sicherungskompanie waren an den Gewässerübergängen über die Weser eingeplant, für Brücken und Fährstellen. In der Hochphase des Kalten Krieges wurden jährlich zwischen 200.000 und 250.000 Wehrpflichtige ausgebildet: Das Rückgrat der Reserve. Das ist alles weg - weil die Wehrpflicht weg ist.

Vor allem aber, weil die Idee verschwunden ist, dass es wieder nötig sein könnte, eine große Armee zu haben. Und mit der Vorstellung ist eine Kultur verschwunden, in der das Militär Prestige und Ansehen denjenigen verspricht, die dienen.

Exkulsivität macht Streitkräfte in Skandinavien konkurrenzfähig

Die einzigen Ausnahmen in der NATO sind, mit Abstrichen, die USA, vor allem aber die Skandinavier. Obwohl dort, im Verhältnis zur Musterung, nur wenige Männer und Frauen dienen, in Schweden etwa nur vier Prozent aller Rekruten, die gemustert werden, macht gerade die Exklusivität das Militär konkurrenzfähig auf dem Arbeitsmarkt – entsteht dadurch doch eine Verbindung, die auch im späteren Arbeitsleben hilfreich ist, weil das Engagement gesellschaftlich gerne gesehen wird. Dazu kommt, dass die skandinavischen Armeen weder unterfinanziert noch schlecht ausgestattet sind. Die Motivation der Soldaten ist dadurch hoch. Regionale Unterschiede wie etwa die Erfahrungen der Finnen mit Russland helfen zusätzlich.

Kann das besser werden? Es muss. Schließlich ist die Stärkung des europäischen Arms der NATO Teil des neuen strategischen Konzepts. Und eine Negativspirale kann sich auch umkehren: Je größer die Sichtbarkeit der Armee in der Gesellschaft wird, desto normaler wird eine Laufbahn in den Streitkräften. Je normaler eine Laufbahn wird, desto häufiger wird sie gewählt. Je häufiger sie gewählt wird, desto grösser wird die Armee.

Dazu braucht es allerdings unter anderem die Vereinbarkeit von Armee und anschließendem Zivilberuf, eine finanzielle und materiell voll ausgestattete Truppe und Zeit - damit auch endlich alle verstehen, dass die NATO sich wieder in einem langen Konflikt mit Russland befindet.

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