MSC: US-Vizepräsidentin wirft Russland Desinformation, Lügen und Propaganda vor, Kanzler Scholz mahnt Unverletzbarkeit der Grenzen an
München. Auch am zweiten Tag der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) gab es ein beherrschendes Thema – die Krise um die Ukraine, die eigentlich, wie es Außenministerin Annalena Baerbock es am Vortag formuliert hatte, eine Russland-Krise sei. Wie konnte es auch anders sein, angesichts der beunruhigenden Nachrichten von neu aufgeflammten Kämpfen im Osten der Ukraine und der düsteren Worte von US-Präsident Joe Biden. Der hatte in Washington so klar wie nie zuvor erklärt, dass Russland in der kommenden Woche die Ukraine angreifen wolle, großflächig, ohne die Hauptstadt Kiew verschonen zu wollen.
Auf der MSC bekräftigte Kamala Harris die Befürchtungen ihres Präsidenten. Die Vize-Präsidentin sagte, die russische Aggression folge einem Drehbuch, das bekannt sei. Harris sagte, dass ein russischer Angriff unter einem falschen Vorwand erfolgen werde. Schon jetzt seien „Desinformation, Lügen und Propaganda“ zu sehen, sagte die 57-Jährige und machte deutlich: „Die Grundlage der europäischen Sicherheit wird direkt bedroht.“ In zwei Weltkriegen sei ein Konsens entstanden, wonach Ordnung statt Chaos und Sicherheit statt Konflikt zu suchen seien, sagte Harris. Völker und Nationen hätten das Recht, ihre Regierungsform und Bündnisse zu wählen. Nationale Grenzen dürften nicht mit Gewalt verändert werden.
Die Unverletzbarkeit der Grenzen in Europa hatte zuvor auch Bundeskanzler Olaf Scholz hervorgehoben. „Die Sicherheit in Europa kann nur gewährleistet werden, wenn die Grenzen nicht verletzt werden“, sagte Scholz. Die Gefahr eines Krieges sei keineswegs gebannt, sagte der SPD-Politiker und warnte: „Eine Aggression gegen die Ukraine wäre ein schwerer Fehler.“ Geostrategisch, wirtschaftlich und finanzpolitisch würde Russland im Falle eines Angriffs einen hohen Preis bezahlen, betonte der Kanzler. Scholz rief erneut zu Verhandlungen auf: „So viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein – das ist der Anspruch.“
Der Regierungschef bekräftigte, dass Deutschland fest im transatlantischen Bündnis an der Seite seiner Partner stehe: „Deutschland steht zu Artikel 5 der NATO-Charta – ohne Wenn und Aber.“ Für Scholz muss dafür auch die Bundeswehr angemessen ausgerüstet sein. „Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die zur See fahren – das muss ein Land unserer Größe sich leisten können.“
“Diplomacy will not fail because of us. As much diplomacy as necessary without being naive — that is the ambition.” @Bundeskanzler Olaf #Scholz on #Ukraine#MSC2022pic.twitter.com/OLUaFzQ4Yz
— Munich Security Conference (@MunSecConf) February 19, 2022
Klare Worte auch vom britischen Premier: Boris Johnson forderte die Verbündeten zu einer entschlossenen und gemeinsamen Unterstützung der Ukraine gegen einen möglichen russischen Angriff auf. Bei einem russischen Einmarsch in die Ukraine werde man Zeuge der Zerstörung eines demokratischen Staates sein, dem diese Unterstützung immer zugesichert worden sei. „Wie hohl, wie bedeutungslos, wie beleidigend würden diese Worte wirken“, warnte Johnson. Er drohte Russland entschiedene Sanktionen als Reaktion auf eine Aggression an. Johnson: „Was immer in den nächsten Wochen passiert, wir können nicht erlauben, dass europäische Staaten von Russland erpresst werden.“
So wie zum Auftakt der MSC Annalena Baerbock und ihr US-Amtskollege Antony Blinken am Vortag die Geschlossenheit von Deutschland und den USA betont hatten, wurde in der ersten Panel-Diskussion des Tages von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg die Verbundenheit der Europäischen Union und des transatlantischen Bündnisses bekräftigt.
Von der Leyen warf Russland die Missachtung der UN-Charta vor und sagte, dass die Welt nun ungläubig zuschaue, „wie auf europäischem Boden die größten Truppenverbände seit den dunkelsten Tagen des Kalten Krieges zusammengezogen werden“. Die Politik des Kremls bedeute in der Praxis, „Angst zu schüren und das Ganze als Sicherheitsbedenken zu tarnen“ sowie „44 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern zu verwehren, frei über ihre eigene Zukunft zu entscheiden“. Die Ukrainerinnen und Ukrainer seien „Tag für Tag mit Aggression und Einmischung von außen konfrontiert“.
“The #EU and the transatlantic community are fully aligned since the Kremlin-made crisis. We have responded with one voice and one message.” @vonderleyen on #Russia and #Ukraine at #MSC2022pic.twitter.com/YZiRYP9wlK
— Munich Security Conference (@MunSecConf) February 19, 2022
Für den Fall eines Einmarsches in die Ukraine drohte von der Leyen der russischen Führung erneut Vergeltung an. „Wenn der Kreml einen Krieg anzettelt, wird das hohe Kosten und schwerwiegende Konsequenzen für Moskaus Wirtschaftsinteressen haben“, warnte die Kommissionspräsidentin. „Das riskante Denken des Kreml, das aus einem dunklen Gestern stammt, könnte Russland seine blühende Zukunft kosten.“
Die NATO hat weiter keine glaubwürdigen Hinweise auf einen Rückzug russischer Streitkräfte aus dem Grenzgebiet zur Ukraine. „Trotz Moskaus Behauptungen haben wir bisher keine Anzeichen von Rückzug und Deeskalation gesehen. Im Gegenteil: Russlands Aufmarsch geht weiter“, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg. Man beobachte die Lage weiterhin sehr genau. Der NATO-Generalsekretär wurde für seine langjährige Arbeit an der Spitze des transatlantischen Bündnisses mit dem Ewald-von-Kleist-Preis der MSC ausgezeichnet – als zweiter Generalsekretär des Bündnisses nach Javier Solana.
Honoured to receive the prestigious @MunSecConf Ewald von Kleist Award. A strong transatlantic bond is even more important for European security at a time when we cannot take our peace, freedom and democracy for granted. pic.twitter.com/6tDl81Wmqf
— Jens Stoltenberg (@jensstoltenberg) February 19, 2022
Mit Spannung erwartet wurde der Auftritt des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Er rief zu mehr internationaler Unterstützung für sein Land auf und gab sich kämpferisch: „Wir werden unser Land schützen, mit oder ohne Unterstützung unserer Partner“, sagte Selenskyj laut der offiziellen Übersetzung des Treffens. Er beklagte, dass die internationale Sicherheitsarchitektur brüchig geworden sei und Regeln nicht mehr funktionierten. Selenskyj warnte davor, die Fehler des 20. Jahrhunderts komplett zu vergessen. „Die Welt muss jetzt handeln. Wir werden kämpfen – mit oder ohne Unterstützung unserer Partner“, sagte er. Aber: „Wir möchten eine diplomatische Lösung statt eines militärischen Konflikts.“