Krieg im Kalten
Die NATO will ihre militärische Präsenz in der Arktis verstärken. Dies macht deutlich, dass die Polarregion für das Verteidigungsbündnis eine neue Qualität erhält. In den strategischen Konzepten von 1991, 1999 und 2010 der Allianz fand die Arktis bislang keine Erwähnung.
China bezeichnet sich als „Fast-Arktis-Staat“. In Wahrheit muss ein Schiff, wenn es aus dem nördlichsten Hafen des Riesenreiches ausläuft, mehr als 10.000 Kilometer bis zum Nordpol fahren – das ist ein Viertel des Umfangs der Erde.
Doch Chinas Selbstverständnis als „polare Großmacht“ und sein 2018 verkündeter Plan, eine „polare Seidenstraße“ zu bauen, beweisen eines: die zunehmende geostrategische und militärische Bedeutung der Arktis. Und diese Bedeutung wird wachsen, je mehr das Eis am Nordpol schmilzt. Es geht um große Gas- und Erdölvorkommen, die jetzt noch nicht erschließbar sind. Es geht um Bodenschätze wie Gold und Seltene Erden.
Immer geht es um nationale Besitzansprüche. Im Extremfall, wie bei der russischen „Mir 1“ Nordpol-Expedition im August 2007, zeigen sie sich in einer Flagge aus Titan, die in 4260 Meter Tiefe in den Meeresgrund gestemmt wird – und so Russlands Anspruch auf 1,2 Millionen Quadratkilometer Tiefseeboden deutlich macht. „Für jeden ist seit langem vollkommen klar, dass dies unser Territorium ist, das ist unser Land“, meinte Russlands Außenminister Sergej Lawrow kürzlich.
Und nun – mit wachsendem Spannungspotenzial – geht es um die militärisch-strategische Bedeutung der Arktis.
Erstmals hat NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg dies jetzt öffentlich erklärt. „Die NATO muss ihre Präsenz in der Arktis erhöhen. Wir sind bereits dabei, in Seeaufklärer zu investieren, um ein klares Lagebild erhalten zu können, was im hohen Norden vor sich geht. Aber wir werden unsere Anstrengungen weiter verstärken“, sagte Stoltenberg der WELT am Sonntag. Die Kritik aus Moskau kam postwendend.
Stoltenberg hat damit zum ersten Mal die künftige strategische Bedeutung der Arktis für die Sicherheit des gesamten Verteidigungsbündnisses betont. In den drei strategischen Konzepten der NATO von 1991, 1999 und 2010 fand die Arktis keine Erwähnung. Auch der 2020 vorgelegte Abschlussbericht der von Stoltenberg 2019 eingesetzten Reflexionsgruppe „thematisiert nicht die militärischen Aktivitäten in der Arktis“, schreibt der frühere deutsche Vertreter im Arktischen Rat und heutige Politikberater Michael Däumer in der Fachzeitschrift „SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen“.
Die Reflexionsgruppe empfiehlt in ihrer Analyse „NATO 2030: Geeint in ein neues Zeitalter“ vom 25. November 2020, „die Arktis bzw. den Hohen Norden als spannungsarme Region zu erhalten“. Damit, so Däumer, „rät (sie) dem Bündnis deutlich von einer Militarisierung der Arktis ab“. Eine Militarisierung der Arktis durch die NATO sei „laut Aussage der Reflexionsgruppe zum gegenwärtigen Zeitpunkt kontraproduktiv“, schreibt Däumer. NATO-Übungen in der Region seien „beizubehalten, um strategische Entschlossenheit zu signalisieren, ohne eine arktische Sicherheitskrise auszulösen“, gibt Däumer die Position der Reflexionsgruppe wieder.
Die Einschätzung der Reflexionsgruppe liegt auf einer Linie mit Äußerungen von Vizeadmiral Clive Johnstone bei der Kiel Conference 2016. Wie es in einem Bericht über die Fachtagung heißt, unterstrich NATO Maritime Command Johnstone in seiner Festrede, „dass die Region von keiner erhöhten strategischen Bedeutung sei und im NATO-Bündnis keiner auf die Idee komme, dort militärisch zu intervenieren. Entgegen manch alarmistischem Wortführer sei die Arktis vielmehr ein Areal verhältnismäßiger Stabilität.“
Dies erscheint nun überholt.
Nicht nur China, auch der Arktis-Anrainer Russland hat große Ambitionen in der nördlichsten Region. „Wir sehen eine deutliche Verstärkung der militärischen Präsenz Russlands in der Arktis. Moskau ist dabei, Stützpunkte aus Sowjetzeiten wieder zu eröffnen und neue hochmoderne Waffen wie Hyperschallraketen dort zu stationieren und auszuprobieren“, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
Von dort können russische Mittelstreckenraketen vom Typ S-400 Grönland und Alaska treffen. Hinzu kommt, dass Russland seinen Machtanspruch mit der Präsenz zahlreicher Atom-U-Boote untermauert. Als zehn Atom-U-Boote im Oktober 2019 gleichzeitig in die Nordnorwegensee und in den Nordatlantik fuhren, war dies für westliche Strategen eine große Überraschung.
In demselben Jahr stellte Russland auch das größte Atom-U-Boot der Welt in Dienst. Die 184 Meter lange Belgorod (fast 24.000 Tonnen Wasserverdrängung) kann bis zu sechs 200 km/h schnelle Poseidon-Torpedos abfeuern, die angeblich eine Reichweite von 10.000 Kilometern haben und mit einem Nuklearsprengkopf von 100 Megatonnen – das ist das 8000fache der Hiroshima-Bombe – eine 500 Meter hohe Flutwelle auslösen können. Manche Militärexperten halten derartige, von Russland verbreitete Angaben allerdings teilweise für Propaganda.
„Insider gehen davon aus, dass ,Belgorod' beim Ausbau eines russischen Unterwasser-Sensornetzes in der Arktis (Shelf/Harmony) mitwirken soll“, berichtete die WELT kürzlich über das russische Super-U-Boot. „Dazu sollen auf dem Meeresboden kleine Atomreaktoren zur Stromversorgung der Sensornetze zum Einsatz kommen. Sowohl Russland als auch die USA wollen rechtzeitig wissen, ob sich U-Boote über die Nordpolroute ihrem Territorium nähern.“
Zudem können von der Belgorod als „Mutterschiff“ kleine Tiefsee-U-Boote die Seekabel auf dem Meeresboden ansteuern, manipulieren oder kappen.
Die Sicherheit des Westens ist durch diese maritimen Fähigkeiten des russischen Militärs erheblich bedroht. Denn durch diese Kabel, die „zu den Lebensadern der westlichen Welt im digitalen Zeitalter geworden“ sind, werden „etwa 99 Prozent der weltweiten Datenmengen übertragen“, schreibt Johannes Peters in der Zeitschrift SIRIUS. „Im Frühstadium eines Konfliktes hätte ihre Störung oder Unterbrechung hohe Priorität. Einen weiteren Angriffsvektor stellt das Anzapfen zur Informationsgewinnung dar.“ Peters ist Leiter der Abteilung Maritime Strategie und Sicherheit am Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel.
Welches Bedrohungspotenzial auch im arktischen Raum für die NATO entstehen kann, macht ein Blick auf die Lage im Ostseeraum deutlich. „Im Konfliktfall würde der See- und Luftraum der Ostsee durch elektromagnetische Maßnahmen und Gegenmaßnahmen sofort zu einer Sperrzone, nicht nur für Überwasser-Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge, sondern auch für die Kommunikation“, schreibt Johannes Peters in SIRIUS.
Die Folge, so Peters: „Damit verbleibt als einziger möglicher Navigations-, Kommunikations- und Operationsraum die Wassersäule – sie wird zum Operationsgebiet. Die Partei, welche in einem Konfliktszenario diesen Raum zuerst und am besten nutzen kann, wird obsiegen. (…) Russland ist derzeit sehr aktiv dabei, dieses potenzielle zukünftige Schlachtfeld in der Ostsee zu seinen Gunsten zu gestalten.“
Eine besondere Rolle kann dabei die fertiggestellte, bisher nicht genutzte Gaspipeline Nord Stream 2 spielen, so Peters. Die Messsensoren und Glasfaserkabel, die mit der Pipeline verlegt worden sind, um beispielsweise die Gasdurchflussmenge zu kontrollieren, seien ein „Senso-Transmitter-System“ mit einem „enormen Dual-Use-Potenzial“. Nord Stream 2, so Peters, habe „das Potenzial, im Konfliktfall zu einer gigantischen Sensorkette unter russischer Kontrolle zu werden“.
Die Arktis als militär-strategische Konfliktzone erfährt eine zusätzliche Dynamik durch die neue russische Arktis-Strategie, die 2020 beschlossen wurde und die Entwicklung in der Region bis 2035 umreißt. Neben einer wirtschaftspolitischen enthält diese Strategie eine militär-strategische Komponente, die sich daraus ableitet, dass mit zunehmender Polareis-Schmelze der natürliche Schutzschild vor Russlands Nordgrenze entfällt. Dies hat eine Aufrüstung Russlands dort – und damit in der Arktis-Region – zur Folge.
Die globale Erwärmung – 40 Prozent Meereis-Schwund in der Arktis seit 1979! – kann zudem die (Militär-)Technik vor neue Herausforderungen stellen. Ein veränderter Salzgehalt des Meerwassers kann sich negativ auf Schiffsantriebe auswirken. Im Golf von Aden hat dieses Phänomen die Leistung der Turbinen britischer Fregatten verringert. Und das ist nur eine Folge der Polkappenschmelze. „Außerdem gefährdet der ansteigende Meeresspiegel küstennahe Militärbasen“, schreiben die NATO-Mitarbeiter René Heise und Michael Rühle in SIRIUS. „Dutzende amerikanischer Marinestützpunkte sind weltweit akut davon betroffen.“