Justiz macht nach gefährlichem Pfusch aus dem Tod zweier Piloten eine Lappalie
Fünf Jahre nach dem Absturz eines Kampfhubschraubers „Tiger“ erfährt die Witwe Daniela Müller zufällig, dass das Verfahren gegen drei Airbus-Techniker gegen Geldauflage eingestellt worden ist. Für Daniela Müller ist diese Entscheidung unbegreiflich.
Wie viel ist ein Menschenleben wert? Daniela Müller steht vor dem Ehrenmal auf dem Gelände des Bundesverteidigungsministeriums in Berlin. „Den Toten unserer Bundeswehr für Frieden, Recht und Freiheit.“ Sie muss an so vieles denken, wenn sie das liest. Daniela Müller ist 53 Jahre alt. Viel zu jung, um schon Witwe zu sein. Sie hatten sich gefreut auf die Zeit ohne Dienstplan und Auslandseinsatz. Thomas Müller war leidenschaftlich Soldat. Überzeugt, das Richtige zu tun, zufrieden, dass sein Traum, fliegen zu können, irgendwann wahr geworden ist.
Und dann kommt der 26. Juli 2017: Ein Mittwoch. Der Tag, der alles veränderte. Der Tag, nach dem nichts mehr so war wie zuvor im Leben der Familie Müller aus dem Sauerland. Einsatzland Mali. Vor 20 Minuten sind zwei Kampfhubschrauber der Bundeswehr des Typs Tiger vom Bundeswehr-Lager Camp Castor aufgestiegen. Sie starten im Auftrag der Vereinten Nationen, die mit einer internationalen Armee mit der Mission MINUSMA für Stabilität im Bürgerkriegsland Mali sorgen wollen. Der Einsatzort der beiden Tiger ist die Ortschaft Tabankort rund 150 Kilometer nördlich von Gao. Von dort sind Gefechte gemeldet. Die beiden Bundeswehr-Tiger sind mit Luft-Boden-Raketen für den scharfen Schuss ausgerüstet. In einem fliegen die Kameraden Thomas Müller und Jan Färber. Der Stabshauptmann und der Major sind ein eingespieltes Team. Müller, damals 47, gilt seinen Kameraden als Vorbild, als Profi, der den Tiger wie kein zweiter Pilot beherrscht.
Es ist 12:20 Uhr, 70 Kilometer noch bis zum Einsatzort, und die Kameraden, die im Tiger hinter der Maschine von Stabshauptmann Thomas Müller und Major Jan Färber fliegen, sehen mit an, dass mit der Maschine von Müller und Färber etwas nicht stimmt. Der Tiger kippt nach vorn, die Piloten verlieren die Kontrolle, er stürzt zu Boden wie ein Stein. Die Maschine schlägt auf, explodiert, alles steht in Flammen. Stabshauptmann Thomas Müller und Major Jan Färber sind sofort tot.
Daniela Müller ist an diesem 26. Juli 2017 zu Hause mit der Familie in Gudensberg, Nordhessen. 15 Kilometer entfernt, in Fritzlar, ist das Kampfhubschrauberregiment 36 „Kurhessen“ stationiert. Es ist das einzige Regiment, in dem Tiger-Hubschrauber fliegen. Das Waffensystem ist eines der modernsten, entwickelt und gebaut wird es von Airbus Helicopters in Marignane in Frankreich. Die Nachricht verbreitet sich übers Radio, die Frauen anderer Piloten und Waffensystemoffiziere des Regimentes „Kurhessen“ erfahren so vom Unglück in Mali. Daniela Müller wird die Todesnachricht von drei Kameraden ihres Mannes überbracht. Die Hinweise, dass es keine Überlebenden gegeben hat, verdichten sich. Irgendwann an diesem Tag hat Daniela Müller die furchtbare Gewissheit: Ihr Mann Thomas ist tot. Sie wird ihn nie mehr wieder sehen, ihr Sohn und ihre Tochter werden ohne den Vater aufwachsen müssen.
Daniela und Thomas Müller kennen sich an diesem Tag, der alles verändert, fast 30 Jahre. Eine Jugendliebe, die erwachsen geworden ist. Die beiden stammen aus dem Sauerland. Die Menschen, die dort groß werden, gelten als bodenständig und heimattreu. Mit 18 meldet sich Thomas Müller zur Bundeswehr. Er wird bei den Fallschirmjägern vom Fallschirmjägerbataillon 273 in der Winkelmannkaserne ausgebildet. „Aber sein Kindheitstraum, der ließ ihn nicht los“, sagt Daniela Müller. Wir treffen uns in Berlin, vis-a-vis, vom Bundesverteidigungsministerium. Es ist ein heißer Tag im Juli. Sie ist Gast beim „Marsch zum Gedenken“, an dem auch Mitglieder und Mandatsträger des Deutschen BundeswehrVerbandes teilnehmen, wie der stellvertretende Bundesvorsitzende Oberstleutnant i.G. Marcel Bohnert. Beim Marsch erinnern Soldatinnen und Soldaten, die in diesem Jahr 119 Kilometer durch Brandenburg und Berlin unterwegs waren, an die 116 Gefallenen und mehr als 3300 im Dienst zu Tode gekommenen Kameradinnen und Kameraden der Bundeswehr.
Die Verbindung zu halten, die Kameradschaft, die den Beruf ihres Mannes und auch ihr Leben drei Jahrzehnte geprägt hat, das ist Daniela Müller wichtig. „Das gibt Kraft und Halt in schweren Zeiten und schwierigen Momenten“, sagt sie. Diese schweren Zeiten und schwierigen Momente gibt es immer wieder, seit ihr Mann, der Vater ihrer Kinder, am 26. Juli 2017 in der Wüste Malis den Tod fand. „Ich vermisse ihn jeden Tag, seine positive Energie fehlt mir so sehr“, schreibt Daniela Müller in einem Brief, den sie für sich und alle anderen geschrieben hat. Sie hat diese Zeilen zu Papier gebracht, als sie erst von ihrem Anwalt und dann in einem lapidaren Schreiben der Staatsanwaltschaft Kassel erfahren hat, dass das Ermittlungsverfahren gegen die vier Verantwortlichen eingestellt worden ist.
Die Mechaniker von Airbus Helicopters, das geht aus dem Unfallbericht zweifelsfrei hervor, haben den Tod von Stabshauptmann Thomas Müller und Major Jan Färber zu verantworten. Eine Fehleinstellung bei der Wartung hat den Absturz verursacht. Der Autopilot hat, vereinfacht gesagt, Signale empfangen, die er falsch gedeutet hat. Müller und Färber konnten die Tragödie nicht verhindern. Der Hubschrauber stürzte sie in den Tod.
Wie viel ist ein Menschenleben wert? „In obiger Sache wird mitgeteilt, dass das Verfahren gegen die Beschuldigten, M., M, und A. mit Zustimmung des Amtsgerichts Kassel am 14.03.2022 gemäß § 153a StPO eingestellt worden ist. Es wird nun gemäß §153a Abs. 1 StPO von der Erhebung der öffentlichen Klage abgesehen, sofern die Beschuldigten nachfolgende genannte Geldbeträge an folgende gemeinnützige Einrichtungen zahlen.“ 2000, 1000 und 500 Euro zahlen die drei Angeklagten, dann ist für sie das Thema abgeschlossen. Für Daniela Müller fängt alles wieder an. „Ist es nicht wichtig, dass die vorgegebene Toleranz zum Nivellieren des Hubschraubers vor den Einstellarbeiten um das 300-fache überschritten wurde? Warum hat man sich auch bei nachfolgenden Gesprächen, Beratungen auf das Computerprotokoll verlassen? Warum hat man nicht den Gesamtprozess der Hauptrotoreinstellung beginnend mit dem Ausrichten des Hubschraubers betrachtet?“, fragt die Witwe Daniela Müller.
Das Versprechen, das auch die Hinterbliebenen bei einem Erörterungstermin angehört würden, ist von der ermittelnden Staatsanwaltschaft Kassel nie eingelöst worden. Die Einstellung des Verfahrens gegen Geldauflage hat die Hinterbliebenen verstört. Hat es hier eine Einflussnahme gegeben? Auf der einen Seite der milliardenschwere Konzern Airbus, auf der anderen Seite Daniela Müller und ihre Kinder als Nebenkläger? Wollte man verhindern, dass Fehler und Pannen von Mitarbeitern des Konzerns an die Öffentlichkeit gelangen? Fakt ist: Es geht um viel Geld. Offenbar aber nicht genug, damit man die Hinterbliebenen der Opfer angemessen entschädigen kann.
„Ich halte das fast für einen Skandal“, sagt der Rechtsanwalt Steffen Hörning aus Göttingen. Er und seine Kanzlei vertreten Daniela Müller und ihre Kinder als Nebenkläger. Airbus hat bis heute keine Entschädigung gezahlt. Die zivilrechtlichen Ansprüche werden noch verhandelt. „Es geht hier nicht um Millionen, sondern vielleicht um fünfstellige Beträge.“ Wie viel ist ein Menschenleben wert? Diese Beträge, diese Entschädigungszahlen sind in Deutschland lächerlich niedrig. Die Witwen der Starfighter-Piloten, die in den 1960er Jahren zu Dutzenden bei Abstürzen ums Leben kamen, klagten damals in USA. Der Hersteller Lockheed Martin ist dort beheimatet. Die Frauen und ihre oft kleinen Kinder wurden großzügig entschädigt. Airbus Helicopter hat bis heute kein Angebot gemacht. Die unwürdige Auseinandersetzung vor Gericht geht also weiter.
Die Kasseler Staatsanwältin Dr. Alena Hartwig-Asteroth hat in einem Schreiben vom 24. März 2022 an Daniela Müller „verfügt“, dass ihre Entscheidung nun unumkehrbar sei. „Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Kempten, bei der das Verfahren zunächst geführt wurde, haben – in Abstimmung mit dem General Flugsicherheit der Bundeswehr und unter Einschaltung auch ziviler Sachverständiger – als (mitunter!) unfallursächlich eine fehlerhafte, am 11.05.2016 am Hubschrauberstandort in 34560 Fritzlar durch Mitarbeiter der Firma Airbus Helikopter Deutschland (AHD) vorgenommene Justierung der Hauptrotorsteuerung ergeben.“
Das Gespräch, das sich Daniela Müller so sehr gewünscht hat, um vielleicht endlich mit dem Tag, als ihr Mann im Wrack eines Tiger-Kampfhubschraubers starb, abschließen zu können, wird ihr versagt. In, man kann sagen schnoddrigem Ton, schreibt Dr. Alena Hartwig-Asteroth: „Auch wenn ich Ihr aufgrund des erlittenen Verlustes bestehendes Bedürfnis nach einem persönlichen Gespräch nachvollziehen kann, bitte ich weiter um Verständnis dafür, dass ich hierfür nicht zur Verfügung stehe. Zum einen ist die staatsanwaltliche Entscheidung ausführlich begründet und mit dieser E-Mail nochmals erläutert. Zum anderen wäre ein solches Gespräch nicht zielführend in Ihrem Sinne, da diese hiesige Entscheidung – die ich weiterhin für richtig halte – aufgrund der zwischenzeitlichen Zahlung der Auflagen nicht mehr revidierbar ist.“ Anwälte und Angehörige werden also erst informiert, als die Fristen für eventuelle Rechtsmittel verstrichen sind?
Der Jurist Steffen Hörning, der von sich sagt, er sei ein Opferanwalt, war selbst 14 Jahre lang Staatsanwalt. Er engagiert sich in der Opferschutzorganisation „Weißer Ring“, deren Landesvorsitzender in Niedersachsen er ist. „Stabshauptmann Thomas Müller und sein Kamerad haben sich für die Bundesrepublik geopfert. Das ganze Verfahren wird mit einem Federstrich beendet“, sagt er. Das sei ein Schlag für die Witwe von Thomas Müller und die anderen Hinterbliebenen. „Es gibt in der Sache dieses Unfalls definitiv Versäumnisse des Herstellers und seiner Techniker. Wer die Hauptschuld trägt, bleibt nun offen, da das Verfahren ohne Hauptverhandlung beendet worden ist.“ Staatsanwälte wie Dr. Alena Hartwig-Asteroth sind weisungsgebunden, wie es so schön heißt. Das heißt konkret: Hat ein übergeordneter Staatsanwalt oder gar ein Justizminister kein ¬Interesse an einem langwierigen Verfahren, an der Strafverfolgung überhaupt, kann es zu solchen erklärungsbedürftigen Entscheidungen wie im Fall der beiden toten Piloten kommen.
Daniela Müller hat ihre Gefühle aufgeschrieben. Nach der Mitteilung der Staatsanwaltschaft war sie wieder aufgewühlt. „Mein Mann hatte Vertrauen in seinen Tiger, zu seinen Kameraden, zu allen, die Verantwortung für die Ausrüstung und ihre Funktionalität tragen. Und natürlich hatte er Vertrauen in sich selbst, in seine Fähigkeiten und Fertigkeiten. Es ist lebensnotwendig für unsere Soldatinnen und Soldaten, dass alles getan wird, um sie zu schützen, damit sie aus dem Einsatz sicher wieder nach Hause zurückkehren können. Wir alle brauchen tapfere Menschen, wie uns der Krieg in der Ukraine zeigt.“
Zwei Tage nach dem Todestag ihres Mannes hat Daniela Müller die Kraft gefunden, Gleichgesinnte und Betroffene beim Marsch zum Gedenken zu treffen. Es ist das Band, das sie nicht zerschnitten sehen will. Das Band der Kameradschaft, der Gemeinschaft Bundeswehr, das so viel zusammenhält. Das hat ihr Leben 30 Jahre lang ausgemacht. Es ist ein Eckpfeiler ihres Lebens.
In Mali wird auch im September 2022 weiter geschossen und gestorben. Am 26. Juli 2017 sind zwei deutsche Opfer dazugekommen. „Der Tod der Männer trifft uns alle tief“, sagte Ursula von der Leyen am Abend dieses schicksalhaften Tages, „ich verneige mich vor dem Leid und dem Opfer der beiden Soldaten.“ Die Tiger fliegen nicht mehr im Bürgerkriegsland Mali. Andere Mächte schützen die mehr als 1000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die im Einsatz MINUSMA sind.