Kuriosität des Kalten Krieges: Die Geschichte der Bier-Order 61
In den 60er Jahren ist Berlin die Frontstadt des Kalten Krieges. Mit dem Mauerbau 1961 wird die Stadt endgültig geteilt, die Berlin-Krise eskaliert in der sogenannten Panzerkonfrontation am Checkpoint Charlie und viele Berliner fürchten, dass im Zuge der Kuba-Krise ein amerikanisches Eingreifen die Sowjetunion zu einem Vorgehen gegen West-Berlin provoziert. Zusätzlich zu diesen politischen Großwetterlagen ereigneten sich immer wieder Zwischenfälle, die auch im Rückblick verdeutlichen, wie fragil der Frieden, in dem die Deutschen vor allem im Westen lebten, tatsächlich war. Die Geschichte eines dieser Zwischenfälle, der sich heute vor 60 Jahren ereignet hat, möchten wir heute erzählen.
Dass sich am 14. September 1961 auf seinen Notruf der Tower vom Berliner Flughafen Tempelhof meldet, dürfte dem F-84 Pilot, Feldwebel Peter Pfefferkorn, einen gehörigen Schreck einjagen. Er und sein Rottenkamerad, der Stabsunteroffizier Hans Eberl, wissen: Hier sollen sie nicht sein, hier dürfen sie nicht sein. Die beiden jungen Männer haben ein Tabu des Kalten Krieges gebrochen. Denn im Alliierten Kontrollrat war 1945 vereinbart worden, dass es nur den Alliierten erlaubt war, in drei Luftkorridoren Berlin anzufliegen. Zwei Jagdbomber-Piloten der Bundeswehr haben hier nichts zu suchen. Ihnen droht der Abschuss durch sowjetische MiGs, sobald sie den Luftraum der DDR durchfliegen. Und tatsächlich schützt die beiden Piloten an diesem Tag wohl nur ein dichtes Wolkenfeld vor dem Abschuss durch eine der zahlreiche MiGs, die bereits die Verfolgung aufgenommen hatten.
Pfefferkorn und Eberl vom Jagdbomber-Geschwader 32 starten an diesem Donnerstag in Lechfeld bei Augsburg als Teil des multinationalen Luftwaffen-Manövers CHECKMATE. Angesetzt ist ein Dreieckskurs: Würzburg – Laon – Memmingen. Aber wie konnten die beiden Männer sich derart verfranzen, dass sie in den südlichen der drei Luftkorridore über Berlin abdrifteten? Die Antwort ist komplexer, als es ostdeutsche Propagandaorgane in den Tagen darauf kolportieren. Das Neue Deutschland behauptet, die Flugzeuge müssten „fehlkonstruierte Vehikel“ und die beiden Piloten „bejammernswerte Schwachköpfe“ sein. Die Realität sah anders aus: Das Peilgerät eines der Bomber war defekt, zusätzlich störten atmosphärische Effekte eines Gewitters den Kompass und der Westwind war doppelt so stark wie vor dem Flug angenommen. Dichte Bewölkung macht es den beiden jungen Piloten zusätzlich schwer, den verlorenen Kurs wiederzufinden.
Der Tower des Flughafens Tempelhof, der von der US Airforce betrieben wird, nimmt den Notruf von Pfefferkorn auf. Zur Landung werden die beiden Piloten aber an den französischen Flughafen Tegel weitergeleitet. Die offizielle Erklärung für die Umleitung lautet: Die Landebahn in Tegel ist länger, der Flughafen nicht so stark frequentiert. Das dürfte nur ein Teil der Wahrheit gewesen sein. Spekuliert wurde, damals wie heute, dass die Amerikaner den drohenden Ärger abschieben wollten und man aufgrund der Lage des Tegeler Flughafens annahm, die Landung zweier westdeutscher Jagdbomber würde weniger Aufmerksamkeit erzeugen.
Nach der Landung werden die Flugzeuge sofort in einem Hangar versteckt, das Innere ausgebaut und in alliierten Frachtflugzeugen zurück nach Westdeutschland verbracht. Die Überreste der Flugzeuge werden außerhalb der Landebahnen des Flughafens vergraben. Die beiden Piloten kehren nach mehreren Wochen Arrest in die Bundesrepublik zurück. Mit der Fliegerei ist es für sie vorbei, sie werden zur Bodencrew versetzt.
Die sowjetische Seite wertet den Vorfall als „Provokation“ und „Angriffsakt“. In Moskau nimmt man an, dass es sich eigentlich um einen Aufklärungsflug gehandelt habe. Beide Seiten führten im Kalten Krieg wohl derlei Aufklärungsflüge durch. Die Alliierten, indem sie ihre regulären Routen nutzten, um von Wiesbaden und später Frankfurt C-97 auf den Weg zu schicken: Die Berlin Lunch Bunch. Und die Sowjets hatten auffällig häufig Probleme mit Aeroflot Maschinen, die erstaunlich oft ausgerechnet um Berlin vom Kurs abkamen.
Franz Josef Strauß, 1961 Verteidigungsminister und im Wahlkampfmodus, verfällt nach dem Ereignis in Aktionismus. Nachdem er im Löwenbräu-Zelt auf dem Oktoberfest die Abschlusskundgebung für die CSU absolviert hat, bestellt er den Inspekteur der Luftwaffe, General Josef Kammhuber, ins Hotel Ambassador. Er gibt ihm auf: Der Lechfelder Kommodore, Oberstleutnant Siegfried Barth, sei sofort zu versetzen. Auch bei künftigen Irrflügen sei so zu verfahren. Den Befehl muss er 1962 auf Anweisung des Wehrdienstsenats zurücknehmen. Erhalten bleibt in Luftwaffenkreisen der Name, der sich aus den alkoholgeschwängerten Umständen ergeben hatte: Bier-Order 61.
Dieser Text basiert unter anderem auf den Forschungsergebnissen aus:
Möllers, Heiner: Total verfranzt. Düsenjäger der Luftwaffe in West-Berlin 1961. In: Militärgeschichte - Zeitschrift für historische Bildung, Ausgabe 2/2017, herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, S. 10–13.