Fehlstart in Andernach
Ob schlechte Unterkünfte oder unzureichende Ausrüstung: Als 1956 die ersten Freiwilligen der Bundeswehr zum Dienst antreten, ist der Mangel überall zu spüren.
Die Übergabe der Ernennungsurkunden an die ersten 101 Freiwilligen der Bundeswehr in der Bonner Ermekeilkaserne am 12. November 1955 öffnete ein neues Kapitel der Militärgeschichte. Nach diesem symbolischen Akt am Tag des 200. Geburtstags Scharnhorsts kann der 2. Januar 1956 als eigentlicher Geburtstag der neuen deutschen Streitkräfte, die erst ab April 1956 offiziell als Bundeswehr bezeichnet wurden, gelten. An diesem Tag rückten 550 Freiwillige in das „Barackenlager“ des rheinischen Andernach ein. Einige von ihnen hatten zuvor als ehemalige Kriegsgefangene in der „German Civil Labour Organization“ (GSO) für die britische Besatzungsmacht gearbeitet.
In Andernach erlebten sie eine böse Überraschung. Statt der versprochenen „Fürsorge wie bei Muttern“, umfangreichen Wohnungsbaumaßnahmen in den Standorten, hervorragender Krankenversorgung und einer „nach modernen ernährungs-wissenschaftlichen Erkenntnissen“ zusammengestellten Verpflegung trafen sie hier auf miserable Unterbringung in Baracken, fehlendes Ausbildungsgerät, muffige Truppenverwaltungsbeamte und einen Kommandeur, dessen Eingaben im Ministerium keine Beachtung fanden. Hinzu kam, dass die Freiwilligen in eine materielle Notlage gerieten, da die Gehaltsabrechnungen monatelang auf sich warten ließen. Die während dieser Zeit gezahlten Abschläge reichten für einen Familienunterhalt nicht aus. Die materielle Notlage brachte nach Darstellungen der Presse den „Mythos vom militärischen Organisationstalent der Deutschen bedrohlich ins Wanken“, mit entsprechendem Widerhall im Ausland, wo man nach dem „Wirtschaftswunder“ auch ein militärisches Wunder erwartet habe.
Der Idealismus der Kameraden in der Lehrgruppe Andernach ging einher mit der Enttäuschung „über manche organisatorischen, sozialen und materiellen Unzulänglichkeiten dieses Beginnens in Andernach“. Nach einem Ortstermin am 25. Januar 1956 riet der Hauptgeschäftsführer der Betreuungsgemeinschaft der GSO, Friedrich Wilhelm Horz, seinen Kameraden: „Wer in die Streitkräfte eintreten will, möge als Hauptgepäck Idealismus und Beharrlichkeit mitbringen, GSO-Bequemlichkeiten jedoch zu Hause lassen!“
Die ohnehin desolate Situation bei der Unterbringung und Ausrüstung der Soldaten spitzte sich durch eine extreme Wetterlage zu Beginn des Jahres 1956 dramatisch zu. Nach einem bis dahin milden Winter erfasste am 29. Januar 1956 eine von Nordwestrussland kommende Kältewelle weite Teile Europas. Die Quecksilbersäule sackte in Teilen unter minus 20, lokal sogar bis auf unter minus 30 Grad ab. Auf dem Rhein gefror das Eis zur festen Decke. Zeitweilig versank Andernach in Massen von Schnee. Kriegsgeprüfte Soldaten fühlten sich an die Zeit an der Ostfront des Zweiten Weltkriegs erinnert.
Der Kälte getrotzt
Henning von Ondarza, der am 2. Januar 1956 als Offizieranwärter der Panzertruppe in die Bundeswehr eingetreten war und es als Generalleutnant 1987 bis 1991 bis zum Inspekteur des Heeres und anschließend zum Oberbefehlshaber der Allied Forces Central Europe brachte, erinnerte sich an den Winter 1955/56. „Verdammt kalt“ sei es gewesen. „Aber das störte uns nicht! Wir waren stolz auf und auch – nach Temperament unterschiedlich – begeistert von unserem neuen Beruf, Soldat in einer sicherheitspolitisch schwierigen Zeit werden zu dürfen.“
Nüchterner und wohl näher an der Realität waren die Eindrücke des damaligen Majors Gerd Schmückle. Ihn reizte ebenso die Möglichkeit, am Aufbau einer neuen Streitmacht mitzuwirken. In Andernach wurde er mit chaotischen Bedingungen konfrontiert, die angesichts der langen Vorbereitungszeit kaum vorstellbar waren. „Wir besaßen keine Winterkleidung. Wie im Krieg vor Moskau. Allein an einem Tag hatten wir 18 Erfrierungen. Die Stimmung im Lager sackte ab. Insbesondere bei älteren Unteroffizieren. Sie kannten das zivile Berufsleben und konnten vergleichen. Hier in Andernach war alles schlechter: Viele erhielten nicht einmal so viel Geld, dass ihre Frauen daheim ihre Miete bezahlen konnten … Im Lager ging das Wort um: ‚Bei Blank wirst Du blank!‘ Das war nicht witzig, wirkte aber auf die Stimmung wie zersetzende Säure.“
Empörender Wunsch nach Bohnenkaffee
In seinen Erinnerungen an den Beginn in Andernach berichtete das DBwV-Gründungsmitglied Siegfried Schiller (1923 – 2020), dass allein der im Küchenausschuss geäußerte Wunsch nach Bohnenkaffee – schließlich sei die Nachkriegszeit vorbei – „höheren Orts“ für Empörung sorgte. Als ein Beamter des Verteidigungsministeriums in Andernach die Beschwerden der Soldaten prüfen wollte, eskalierte die gereizte Stimmung. Unteroffiziere planten einen Protestmarsch.
Um die aufgeheizte Stimmung in Andernach zu beruhigen und die Regierung in Bonn zum Handeln zu zwingen, gründete Gerd Schmückle an einem Sonntag – der genaue Termin ließ sich bisher nicht ermitteln – den „Schutzverband deutscher Soldaten als eine Art Soldatengewerkschaft“. In einem Fernschreiben übermittelten die Gründer Minister Blank fünf Forderungen: „Erstens sofortige und pünktliche Gehaltsauszahlung, zweitens Schluss mit den überhöhten Preisen für die Unterkunft, drittens geregelte Krankenversorgung, viertens truppennahe Verpflegungsausgabe, fünftens Aufklärung über die Rechtsstellung des Soldaten.“ Der auf diese Weise etwas überstürzt gegründete Verband gab sich unpolitisch. Die Forderungen waren nicht sehr ambitioniert und wiesen nicht wesentlich über die aktuellen Beschwernisse hinaus. Über die Zukunft der Organisation und eine Ausdehnung auf die gesamte Bundeswehr sollte in Abhängigkeit von der Reaktion des Ministeriums später entschieden werden. Die Akteure erwogen eine Auflösung des Verbands für den Fall, dass die Forderungen erfüllt werden.
Soldaten nehmen ihr Koalitionsrecht wahr
Man glaubte sich der Unterstützung oder zumindest der Sympathie des Ministers sicher, der als Gewerkschaftsfunktionär zu den Mitgründern des DGB gehörte. Anders als erwartet, erblickte Theodor Blank in der Existenz einer wie auch immer gearteten gewerkschaftsähnlichen Organisationen von Soldaten einen Affront und geradezu eine persönliche Kränkung. Bei der Konfrontation mit den Akteuren der Andernacher Verbandsgründung verwahrte er sich gegen jede Art einer Berufsvertretung, die nur gegen ihn als Dienstherrn gerichtet sein könne. Die Verbandsgründer bezeichnete er als Hetzer und Querulanten, die ferngelenkt seien und denen es darum gehe, die Autorität des Ministers zu untergraben.
Graf von Baudissin notierte in seinen Tagebüchen, wie Theodor Blank „als ehemaliger Gewerkschaftler geradezu prinzipienvergessen ‚gegen alle Koalitionsbestrebungen [der Soldaten] gewettert‘“ habe. Für seine trotz der Gewährung des Koalitionsrechtes unverhohlen ablehnende Haltung gegenüber der Bildung von Interessenvertretungen innerhalb der Truppe hoffte Blank sogar auf Zustimmung durch die sozialdemokratische Opposition für eine Einschränkung der Koalitionsfreiheit in den Streitkräften.
Die durch Blank eingeleitete Entlassung Schmückles aus der Bundeswehr konnte erst im letzten Moment durch die Intervention des Generalmajors Hellmuth Laegeler und einen Hinweis auf die zu erwartende kritische Presseberichterstattung verhindert werden. Die Befürchtung seines damaligen Vorgesetzten, dass er die Bundeswehr im besten Fall als Major verlassen werde, erfüllte sich nicht. Bereits im Dezember 1957 berief ihn der Nachfolger des glücklosen Ministers Blank, Franz Josef Strauß, zu seinem Pressesprecher. Seinen Dienst beendete Schmückle immerhin als Vier-Sterne-General und stellvertretender Supreme Allied Commander Europe (DSACEUR) der Nato.
Dennoch blieb das Aufbegehren der Soldaten in Andernach im Februar / März 1956 nicht ohne Widerhall. Aus dem Scheitern zogen die Akteure Schlussfolgerungen für einen erneuten und erfolgreichen Anlauf. Major Rolf Acker, zu dieser Zeit Referatsleiter im Bundesministerium für Verteidigung, benannte im internen Kreis am 21. Juni 1956 Fehler, die keineswegs wiederholt werden dürften: a) Schmückle habe versäumt, die Soldaten in die Gründung einzubinden, b) eine vorhergehende Verbindungsaufnahme mit dem Minister und Abteilungsleiter Heer gab es nicht, c) schließlich habe er für den Verband ohne Mitwirkung der Einheitsführer geworben.
Mit Unterstützung des Unterabteilungsleiters in der Abteilung Streitkräfte des Bundesministeriums für Verteidigung, Oberst i.G. Werner Drews, bewirkte Major Acker schließlich bei Minister Blank einen Sinneswandel. Nachdem es gelungen war, dem Minister die ausdrückliche – wenngleich unwillig abgegebene – Erklärung abzuringen, „nunmehr der Gründung eines Berufsverbandes nicht mehr drohend im Wege stehen“, konnte am 14. Juli 1956 in Munster durch den Kommandeur des Panzerlehrbataillon 93, Oberstleutnant Karl-Theodor Molinari, der Deutsche BundeswehrVerband geschaffen werden. Zu den 55 Gründern gehörten unter anderem die „Andernacher“, Hauptmann Friedrich Sacha und Stabsunteroffizier Siegfried Schiller. Friedrich Wilhelm Horz sorgte mit seiner Organisationserfahrung aus der Betreuungsgemeinschaft der GSO als erster Hauptgeschäftsführer des DBwV für die rasche wirtschaftliche Konsolidierung des Verbands.
Der Verfasser dankt Oberstleutnant d.R. Lothar Schuster, Oberstleutnant a.D. Dieter U. Schmidt vom Freundeskreis „Wiege der Bundeswehr Andernach e.V.“, Prof. Dr. Dieter Krüger und Oberstleutnant a.D. Karl-Heinz Thönissen, stv. Vorsitzender des Freundeskreises Panzerlehrbataillon 93 e.V., für die Bereitstellung der Fotos und wichtige Hinweise.