„Die Zeit in Eggesin und Neubrandenburg hat mein ganzes Leben geprägt”
Hans-Peter von Kirchbach feiert heute seinen 80. Geburtstag – der Deutsche BundeswehrVerband gratuliert dem früheren Generalinspekteur dazu ganz herzlich! Kirchbach, langjähriges Mitglied des DBwV, wurde als „Held von der Oder“ bekannt: Er hatte 1997 mit 30.000 ihm unterstellten Soldaten gegen die zweite Oderflutwelle im Oderbruch gekämpft.
Zu seinen Verdiensten zählt aber auch sein Wirken bei der Zusammenführung von Bundeswehr und Nationaler Volksarmee der Bundeswehr: General a.D. von Kirchbach übernahm am 4. Oktober 1991 in Eggesin in Mecklenburg-Vorpommern das Kommando über die 9. Panzerdivision der NVA. Aus den Resten der 9. Panzerdivision ist später die Panzergrenadierbrigade 41 „Vorpommern“ der Bundeswehr hervorgegangen. In einem Doppelinterview mit Mirko Hertrich und Frank Wilhelm vom „Nordkurier“ berichten der erste und der aktuelle Kommandeur der Brigade, General a.D. Hans-Peter von Kirchbach und Oberst Christian Nawrat, über die Gründung der Brigade einen Tag nach der Wiedervereinigung und die aktuellen Herausforderungen für die Truppe zwischen Helfen und Kämpfen.
Hertrich: Herr General a.D. von Kirchbach, was verbindet Sie nach so vielen Jahren noch mit der Region im Nordosten?
von Kirchbach: Es war eine der bewegendsten Phasen meines Lebens. Ich bin 1941 geboren und in den Nachkriegswirren aufgewachsen. Als junger Mann, ich war damals Fahnenjunker auf einem Offizierslehrgang in Hannover, habe ich 1961 den Bau der Mauer erlebt und später 1989 deren Fall. Und dann durfte ich als Kommandeur mitarbeiten, ich sage mal im weitesten Sinn, in der Bundeswehr an der „Armee der Einheit“. Ich bin dann von 1991 an, bis auf eine zweijährige Unterbrechung im Bundesverteidigungsministerium, in den neuen Ländern geblieben und bin mittlerweile Brandenburger. Meine Zeit damals in Eggesin und Neubrandenburg habe ich so erlebt, dass sie mein ganzes Leben geprägt hat.
Hertrich: Wann sind Sie in den Nordosten gekommen?
von Kirchbach: Meine erste Station war Eggesin. Sie müssen sich vorstellen, meine Kommandoübernahme erfolgte am 4. Oktober 1990, einen Tag nachdem Bundesverteidigungsminister Gerhard Stoltenberg vom letzten DDR-Verteidigungsminister Rainer Eppelmann die Kommandogewalt über die Truppenteile der aufgelösten Nationalen Volksarmee (NVA) in Strausberg übernommen hatte. Eggesin war zuvor der Standort der 9. Panzerdivision der NVA. Dort bin ich mit dem Auto hingefahren, was damals ein etwas gewagtes Unternehmen war. Man hatte mir geraten, nicht über Hammer an der Uecker zu fahren. Das habe ich zum Glück auch beherzigt (lacht).
Hertrich: Wie lief die Kommandoübergabe?
von Kirchbach: Ich stand dort als Divisionskommandeur vor den Abordnungen von Truppenteilen, repräsentiert mit 4000 bis 5000 Soldaten, welche damals noch in und um Eggesin stationiert waren. Die hatten alle einen Tag zuvor noch eine andere Uniform getragen. Vorher war ich Kommandeur der Westerwaldbrigade und hatte das Glück, dass ich aus meinem Koblenzer Stab etliche Schlüsselpositionen besetzen konnte. Das hat mir geholfen, den Übergang zu gestalten.
Wilhelm: Was hat man vorgefunden?
von Kirchbach: Eine Armee, die im Prinzip zerfallen und sehr kopflastig war. Der es an Mannschaftsdienstgraden hinten und vorne fehlte, weil praktisch das Einziehen der Wehrpflichtigen für ein Jahr lang nur unvollkommen umgesetzt wurde, während aber die Berufs- und Zeitsoldaten noch da waren. Meine Kernaufträge waren:
1. Setze die Befehlsgewalt des Bundesministers für Verteidigung in diesem Raum durch.
2. Übernimm die Soldaten der NVA in den vorhandenen Strukturen.
3. Mache daraus möglichst schnell eine Brigade der Bundeswehr.
Hertrich: Herr Oberst Nawrat: Wie haben Sie Mauerfall und Wiedervereinigung erlebt?
Nawrat: Als General von Kirchbach die Brigade übernommen hat, stand ich am Anfang meiner Bundeswehr-Laufbahn. Ich bin 1989 zu den Streitkräften gegangen. Den Mauerfall habe ich erlebt, als ich in Niederbayern meinen Panzerführerschein machte. Die Wiedervereinigung 1990 erlebte ich auf dem Offizierslehrgang in München. Und 30 Jahre später darf ich jetzt der 13. Kommandeur der Panzergrenadierbrigade 41 „Vorpommern“ sein.
Hertrich: Was haben Sie 30 Jahre später vorgefunden?
Nawrat: Ich finde heute eine Brigade vor, die tief in den Strukturen der Bundeswehr etabliert ist. Sie ist eine von fünf mechanisierten Brigaden der Bundeswehr und verfügt über eine sehr hohe Einsatzerfahrung. Die Soldatinnen und Soldaten haben sich bis hin zu hochintensiven Einsätzen bewährt. Und ich finde eine Brigade vor, die personell wie strukturell hier im Nordosten Deutschlands integriert ist – nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern, sondern auch in Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt. Von den damaligen Herausforderungen kann ich nur etwas erahnen. Wir kämpfen heute mit anderen Erschwernissen, aber die Brigade hat ihre Einsatzfähigkeit bewiesen und wird das auch zukünftig tun.
Wilhelm: Spielt das Thema Ost-West keine Rolle mehr?
Nawrat: Nein.
von Kirchbach: Das ging relativ schnell. Da muss man auch die Eigenheiten einer Armee kennen, da wird hin und her versetzt. Am Anfang war das schwierig. Aber einer der ersten Entschlüsse, die damals der Inspekteur des Heeres getroffen hat, war, dass beim Einziehen der Wehrpflichtigen auf die ehemaligen Grenzen keine Rücksicht genommen wird. Sondern es wurden junge Leute aus dem Osten nach Westen eingezogen und umgekehrt. Und nach zwei Jahren war klar, wer bleiben darf. Ich denke, dass die Bundeswehr damals vieles richtig gemacht hat. Wichtige Einrichtungen, die es nur einmal gab, wurden in die neuen Länder verlegt. Es war unter anderem eine sehr kluge Entscheidung, zu sagen: „Wir haben zwar eine Offiziersschule in Hannover, aber wir geben ein Signal an die neuen Länder und machen eine neue in Dresden auf.“ Oder bei den Unteroffiziersschulen: Hier gab es zwei im Westen und eine im Osten. Mit der Verkleinerung der Bundeswehr ist die in Delitzsch geblieben.
Hertrich: Wie schwierig ist es heute, Rekruten in den Nordosten zu bekommen?
Nawrat: Diese Herausforderung, die ich heute als Kommandeur in der Panzergrenadierbrigade 41 sehe, gibt es an allen Standorten, die eine Randlage haben. Egal ob in Torgelow, Viereck oder, als Beispiel, in Immendingen, im Bayerischen Wald oder an der Nordsee. Diese Besonderheiten sind nicht systemimmanent, weil es alte oder neue Bundesländer sind, sondern weil es sich um Randlagen handelt.
von Kirchbach: Die Armee der Einheit war keine Zusammenführung von Gleichberechtigten, das muss man jetzt mal klar sagen. Die Armee der Einheit ist die Bundeswehr, aber sie war von vornherein darauf eingestellt, Menschen aus der NVA in die Bundeswehr zu übernehmen. Am Ende waren das von den Unteroffizier-Bewerbern über 90 Prozent, bei den Offizieren weniger. Das lag aber auch daran, dass viele Aufgaben, die in der Bundeswehr damals von Unteroffizieren erledigt wurden, in der NVA von Leutnanten, Oberstleutnanten und Hauptleuten erledigt worden sind. Dieser große Bedarf war auf einmal weg, sodass es hier auch mit der Übernahme schwieriger war. Wir haben damals gesagt, wir müssen den Leuten eine faire Chance geben und das haben wir versucht, wo immer es ging. Ich habe aber auch Hunderte Soldaten zur Berufsberatung nach Koblenz geschickt, nicht immer zum Gefallen des Verteidigungsministeriums.
Hertrich: Herr von Kirchbach, vielen unserer Leser sind Sie als Held von der Oder bekannt. Welche Bedeutung hatte der inländische Einsatz der Bundeswehr während des Hochwassers 1997?
von Kirchbach: Das war ein Durchbruch im Ansehen der Bundeswehr in den neuen Bundesländern. Natürlich waren wir sehr früh etabliert in Eggesin und Neubrandenburg. Das lag aber auch viel an Offizieren, die sich als Teil der Bürgergesellschaft gesehen und auch darin eingebracht haben. In Neubrandenburg hatten wir beispielsweise die Wiekhausrunde. Zu diesen Treffen kamen unter anderem aus der Stadt die Fraktionsvorsitzenden, der Chefredakteur des Nordkuriers und auch Landessuperintendent Kurt Winkelmann. Was trotz dieser Etablierung bei vielen ein bisschen im Hinterkopf spukte, war die Fragestellung „Sind das überhaupt (noch) richtige Soldaten? Die können ja am Wochenende nach Hause fahren und den Stechschritt haben sie ja auch abgeschafft. Die sehen auch gar nicht so prächtig aus, wie wir das von den vielen Paraden gewohnt sind.“ Und dann kommt die Oderflut und das Land Brandenburg ist in Not. Und die Armee bietet eine Unterstützungsmacht auf, welche die Bevölkerung so noch nicht gesehen hat. Zur Gefahrenabwehr steht sie mit 30.000 Soldaten bereit, die damals aus der ganzen Bundesrepublik kamen. Und die Menschen haben gemerkt, wenn sie in Not sind, dann ist die Bundeswehr zur Stelle. Sie ist eigentlich nicht dazu da, Naturkatastrophen wie Hochwasser zu bekämpfen. Aber wenn es nicht geschafft wird mit den Mitteln, die ein Bundesland zur Verfügung hat, kann man die Armee mit allem, was sie hat, solchen Notlagen entgegenstellen. Das ist die Botschaft, die damals rübergekommen ist und die durchaus beabsichtigt war. Und gleichzeitig ist es auch die Botschaft, die wir heute in der Corona-Pandemie senden möchten.
Hertrich: Herr Oberst Nawrat, wie viele Soldaten hat Ihre Brigade aktuell im Corona-Einsatz?
Nawrat: Tagesaktuell sind wir mit 1009 Soldaten im Amtshilfeeinsatz. Das heißt, 25 Prozent der Brigade ist jeden Tag im Amtshilfeeinsatz gebunden, sieben Tage die Woche, und das seit vielen Monaten. Durch die Regeneration ist somit gut die Hälfte der Brigade in der Amtshilfe gebunden.
Meine Wahrnehmung ist, egal ob im Impfzentren, bei der Kontaktnachverfolgung, bei den „helfenden Händen“ oder in Alten- und Pflegeheimen: Der Amtshilfeeinsatz der Bundeswehr wird mit einer großen Dankbarkeit aufgenommen. Es ist beachtlich, was die Soldaten aus dem Stand heraus zu leisten in der Lage sind. Völlig unabhängig davon, ob sie das gelernt haben oder nicht. Der „Standardsoldat“ ist ja nicht ausgebildet worden, um Abstriche zu machen. Diese Aufgaben werden unmittelbar und mit einem hohen Wirkungsgrad übernommen. Das ist eine Frage nicht nur des Handwerklichen, sondern auch eine Frage der Prägung und Erziehung, welche wir als Soldatinnen und Soldaten erfahren haben. Wir sind es gewohnt, zur Not was zu tun, was wir vorher nicht beigebracht bekommen haben, und das dann eben auch in der Pandemie. Für mich ist es auch eine Wohltat zu sehen, dass diese Uniform, die ich mit Stolz trage, auch wieder mehr in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird.
Wilhelm: Sie hatten im Stab mit Corona zu tun, wie war das?
Nawrat: Hier kommt uns eines in der Bundeswehr zugute: die Disziplin. Wir sind nun mal erzogen, uns diszipliniert zu verhalten. Dennoch ist es nicht zu verhindern, dass der ein oder andere Soldat im Stab oder in den Verbänden sich genauso infiziert, wie es auch in der Bevölkerung der Fall ist. Es wird erkannt und es wird direkt nachverfolgt. Dann werden jene, die unmittelbar beteiligt sind oder waren, häuslich isoliert. Dankenswerterweise hatten wir bei den Fällen innerhalb der Brigade bisher keine schweren Verläufe. Alle Ausbildungsvorhaben führen wir zusätzlich unter entsprechenden Hygieneauflagen und mit gebilligten Hygienekonzepten durch. Da hat sich vieles getan bei den Streitkräften, sei es bei der Beschaffung von Masken oder Desinfektionsmitteln.
Wilhelm: Wie ist der Impfstand in der Brigade?
Nawrat: Wir haben zwei Stränge, über welche die Soldaten in den Impfschutz kommen. Der eine ist, dass wir auf der zivilen Seite und gemäß Impfverordnung älteres Personal oder Menschen mit Vorerkrankung impfen lassen. Klar ist aber auch, dass wir aus dem gesamten Bundeskontingent Soldaten impfen. Das sind vorrangig Soldaten, die wir in die Einsätze schicken. Wir bereiten jetzt die Kontingente mit dem entsprechenden Impfschutz vor, die wir nächstes Jahr in den Einsatz schicken. Wir haben auch eine erhebliche Anzahl an Soldaten, die in der Amtshilfe eingesetzt waren und aufgrund ihrer Tätigkeit in Impfzentren nachrückten. Dadurch haben wir in der Brigade einen guten Impfstand.
Hertrich: Herr von Kirchbach: „Bereit zu helfen“ ist ja ein Teil des heutigen Brigademottos. Wie haben Sie das damals mit Leben erfüllt?
von Kirchbach: Das Brigademotto gab es damals so nicht. Aber das Bestreben nach Verankerung, dort wo wir sind. Wir waren damals nur in Vorpommern und noch nicht in Mecklenburg. Wir haben für die Verbände, die in der Nähe von Eggesin, Torgelow und Pasewalk stationiert waren, Patenschaften zu den Gemeinden aufgebaut und diese auch mit Leben befüllt. Das heißt, Teilnahme an Veranstaltungen bis hin zu Engagement in den Gemeinden. Das ist uns damals ganz gut und verhältnismäßig schnell gelungen.
Hertrich: Wie wichtig sind die Patenschaften heute?
Nawrat: Diese Patenschaften sind wichtig, um der Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft auch ein Bild zu geben. Das Bild einer gelebten Patenschaft zeigt sich am Standort Neubrandenburg zum Beispiel an den Schildern an den Ortseingängen oder an unserem Adventskonzert des Heeresmusikkorps Neubrandenburg. Das sind Erlebnisse, die aus einer solchen Patenschaft entstehen. Die sind für mich eminent wichtig, weil sie ein verbindendes Zeichen sind. Sie sind übrigens nicht nur ein Zeichen der Bundeswehr in die Gesellschaft, sondern auch der Gesellschaft in die Bundeswehr. Eine Patenschaft ist ja keine Einbahnstraße. Daraus entsteht auch ein Stück weit Verpflichtung, dieser Notwendigkeit der Integration Rechnung zu tragen. Ich sehe das an allen Standorten der Brigade. Für mich ist das ein wesentlicher Bestandteil dieses dritten Pfeilers unseres Brigademottos „Fähig zu kämpfen – Bereit zu helfen – Wir im Nordosten“.
Hertrich: Sie haben ja das Motto etwas umgestellt und „Bereit zu helfen“ ist an die zweite Stelle gerückt. Wieso?
Nawrat: Ich habe die anspruchsvollste Aufgabe, die uns als Soldaten treffen kann, nach vorne gestellt. Nach Artikel 87a Grundgesetz stellt der Bund Streitkräfte zur Verteidigung auf. Ich trage Verantwortung für diesen mechanisierten Großverband und gemäß dieser Verpflichtung ist es für mich wichtig, das gesamte Fähigkeitsspektrum auszubilden. Und am anspruchsvollsten ist, was wir heute das hochintensive Gefecht nennen, der Kampf. Dies ist es für Mensch und Material, angefangen bei der Ausbildung über das richtige Mindset der Soldaten. Daher habe ich diese Aufgabe nach ganz vorn gestellt und will, dass wir uns als mechanisierter Großverband daran ausrichten. Und wenn es nach dem Grundgesetz erforderlich ist, müssen wir darauf vorbereitet sein.
von Kirchbach: Das ist ein guter Punkt und ich gehe mal ins Jahr 1990 zurück. Aus einer Brigade eine Division der Bundeswehr zu machen, ist nicht nur eine organisatorische Aufgabe. Sondern dahinter stand damals für uns eine Brigade der Bundeswehr, die im Rahmen der Nato eingesetzt werden kann und den Vergleich zu alten Nato-Brigaden nicht zu scheuen braucht. Das war eine Aufgabe, die in den ersten eineinhalb Jahren meiner Kommandeurszeit nicht zu lösen war. Da ging es darum, aus dem etwas chaotischen Zustand in eine geregelte Ausbildung zu kommen. Es hat mehrere Monate gedauert, bis alle Verbände entsprechend ausgerüstet waren. Aber 1990/91 war auch der erste Golfkrieg und im Zusammenhang mit dieser Auseinandersetzung ist ein Geschwader der Luftwaffe in die Türkei verlegt worden. Da sind ein paar Bilder über das Fernsehen gekommen, die man als Soldat nicht sehen möchte. Da waren sogar Leute, die sich sinngemäß beschwert haben, weil die Matratze im Hotel nicht weich genug war. Das waren Kameraden, die vergessen hatten, wozu wir eigentlich da sind. Und dass es Wesen unseres Berufs ist, im Zweifelsfall aktiv in die Gefahr hinein zu handeln – denn nichts anderes bedeutet Kampf. Ich fasse zusammen: Was Oberst Nawrat im Motto zum Ausdruck bringt, das war auch damals das Wesen der Armee. Vielleicht lag es in den Gedanken ein bisschen weiter weg, weil wir es viele Jahre nicht gebraucht hatten. Aber jeder damalige militärische Verantwortliche hat das so gesehen, wie ich es jetzt beschrieben habe.
Wilhelm: Wo sehen Sie die Gefahren, wenn Sie Europa anschauen?
Nawrat: Wir müssen ja nicht drum herumreden, dass für die Nato mit Russland ein militärisch gleichwertiger Gegner an der Grenze steht. Ob es jetzt zu einem politischen Willen kommt, dass Russland jemals die Nato angreifen will, kann ich nicht beurteilen. Aber es bleibt der Fakt eines militärisch gleichwertigen Gegners, der die Nato insbesondere in den Randgebieten gefährden kann. Unsere Bundesrepublik hat bis zum Fall der Mauer auch erheblich von der Nato-Solidarität profitiert. Daher glaube ich fest daran, dass wir jetzt in einem gemeinsamen Bündnis solidarisch an der Seite unserer Bündnispartner stehen müssen. Insbesondere derer, welche die Bedrohung etwas anders empfinden als wir. Ich glaube, es ist für uns etwas schwieriger, mit dieser Bedrohung umzugehen, weil wir diese Randlage nicht mehr haben. Wenn Sie aber nach Polen fahren oder ins Baltikum: Die empfinden schon das militärische Potenzial, welches auf der Gegenseite steht, als Bedrohung. Wir haben 2014 gesehen, was die Annexion der Krim für die Staatengemeinschaft bedeutet hat. Es ist ein Beispiel, dass man militärisches Potenzial nutzen kann, um letztendlich zu Veränderungen auf der Landkarte zu kommen. Und wir sind nun mal genau dafür aufgestellt worden, in so einem Ernstfall bereit zu sein. Wie es General a.D. von Kirchbach richtig gesagt hat: Wir als Streitkräfte sind so aufgestellt, dass wir letztendlich auch unter Einsatz unseres Lebens verpflichtet werden können, einem solchen Auftrag auch gerecht zu werden.
von Kirchbach: Wenn ich an das Karfreitagsgefecht 2010 in Afghanistan denke, sieht man, dass das keine imaginären Vorstellungen sind. Wenn man Soldatinnen und Soldaten in den Einsatz schickt, muss klar sein, dass damit in der Regel auch ein Risiko verbunden sein kann, für jeden, der geht. Und jeder, der Soldaten in den Einsatz schickt, muss das als Kalkül haben. Ich habe niemals erlebt, dass unsere Regierung oder auch das Parlament in dieser Frage leichtfertig gehandelt haben. Zu Hochzeiten des Einsatzes im Kosovo war ich Generalinspekteur. Ich habe mit den Abgeordneten gesprochen. Und von welcher Partei auch immer, keiner hat sich diese Entscheidungen leichtgemacht und das darf man auch nicht.
Hertrich: Damals waren Auslandseinsätze heiß diskutiert, sind sie heute schon Normalität geworden?
von Kirchbach: Es ist ja gesetzlich geregelt, wie das passiert. Und es gibt keinen Bundeswehreinsatz außerhalb des Bündnisgebiets ohne eine Zustimmung des Parlaments. In jedem sorgfältig ausgearbeiteten Mandat wird klar festgehalten, was die Aufgabe ist und wozu die Soldaten da sind, was sie dürfen und was sie nicht dürfen.
Nawrat: Die Debatten werden schon noch wahrgenommen und für uns als Soldat wird die Realität des Einsatzes niemals zur Normalität. Dennoch bejahe ich die Frage aus Sicht der Gesellschaft, denn es ist ein Stück weit Normalität geworden, dass die Bundeswehr im Ausland eingesetzt wird. Die ersten Einsätze, wie wir sie mit SFOR und KFOR hatten oder in der Anfangszeit in Afghanistan, sind sehr viel mehr in der Öffentlichkeit und auch in den Standorten wahrgenommen worden. Jetzt im Moment haben wir ja wieder eine höhere Aufmerksamkeit zum Einsatz in Afghanistan. Dies ist dem geplanten Einsatzende geschuldet. Vorher war es tatsächlich eine gefühlte Normalität. Was auf der einen Seite gut ist, weil es eben auch unser tägliches Handwerkszeug darstellt. Aber auf der anderen Seite wiederum nicht so gut, weil die Debatten eher in Kreisen der Fachpolitiker stattgefunden haben und weniger in der breiten Öffentlichkeit. Das ist meine Wahrnehmung.