Angesichts des Dauereinsatzes der Bundeswehr in der Corona-Amtshilfe warnt Oberstleutnant André Wüstner vor einem schleichenden Verlust der Einsatzbefähigung. Fotos: Bundeswehr/DBwV, Montage: DBwV

Angesichts des Dauereinsatzes der Bundeswehr in der Corona-Amtshilfe warnt Oberstleutnant André Wüstner vor einem schleichenden Verlust der Einsatzbefähigung. Fotos: Bundeswehr/DBwV, Montage: DBwV

08.02.2021
DBwV

„Die Strukturen sind systematisch vernachlässigt worden!“

Das Land ist seit mehr als einem Jahr im Würgegriff der Corona-Pandemie, und praktisch in jeder Nachricht tragen die wesentlichen Akteure Flecktarn: Ohne die Amtshilfe der Bundeswehr sähe es in Deutschland zappenduster aus. Darüber und über weitere Fragen ist der Bundesvorsitzende Oberstleutnant André Wüstner im ständigen Austausch mit wichtigen Akteuren. Neben dem Gespräch mit unseren Mitgliedern und Verantwortungsträgern aus dem eigenen Ressort gleicht er sich regelmäßig mit Gesundheitsminister Jens Spahn, Kanzleramtsminister Helge Braun oder dem Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, ab. Im Gespräch mit Gregor Mayntz von der Rheinischen Post Gruppe äußerte sich der Bundesvorsitzende jetzt zu aktuellen Fragen.  


Überall in Deutschland erlebt die Bevölkerung in der Pandemie „helfende Hände“ mit Uniform – wie erleben die Soldaten das selbst?

Oberstleutnant André Wüstner: Sie erleben ein starkes Gemeinschaftsgefühl. Vieles ist schief gelaufen, Deutschland hat große strukturelle Probleme, diese Pandemie in den Griff zu bekommen, aber es packen viele mit und ohne Uniform an, um das beste aus der Situation zu machen, um Leben zu retten. Die Bundeswehr hilft jetzt sogar erneut im europäischen Ausland.

Gibt es auch positive Begegnungen mit Leuten, die die Bundeswehr zuvor meist negativ gesehen haben?

Wüstner: Für das gegenseitige Verständnis auch innerhalb des öffentlichen Dienstes ist die Amtshilfe natürlich sehr gut. Da gab es viele Sorgen um eine „Militarisierung“ der Verwaltung. Und jetzt erlebt man das Gegenteil. Soldaten sind aufgrund von Organisationsvermögen und Stressresistenz hoch anerkannt. Und man weiß, wie sehr man gerade jetzt aufeinander angewiesen ist. Nebenbei: Alle haben erkannt, dass wir es im letzten Jahr und teilweise noch heute mit einem größeren Staats- sowie Verwaltungsversagen zu tun haben und gerade deshalb nur gemeinsam durch die Pandemie kommen.

Wer versagt?

Wüstner: Nicht die einzelnen Menschen im System, die wirklich alles geben. Die Strukturen sind systematisch vernachlässigt worden. Das rächt sich jetzt und zeigt sich in der völlig unzureichenden personellen und materiellen Ausstattung nicht nur in den Gesundheitsämtern. Ich ziehe meinen Hut vor den Bürgermeistern und Landräten, denn die müssen aus dem Nichts ein Maximum aus den mit heißer Nadel gestrickten Verordnungen machen.

25.000 Soldaten stecken in der Corona-Amtshilfe. Angesichts einer auf unter 200.000 Kräfte geschrumpften Truppe stellt sich die Frage, ob die Bundeswehr das auf Dauer leisten kann.

Wüstner: Nein, das kann sie nicht. Wir müssen aktuell sehr aufpassen, dass wir nicht in einen schleichenden Verlust unserer Einsatzbefähigung abdriften. Die Verbindung von Amtshilfe und eigenen Hygienevorkehrungen führt dazu, dass Ausbildung und Übung vielerorts ausfallen. Ehrlich gesagt: Es ist doch ein Wahnsinn, dass die Bundeswehr als nicht zuständige Organisation seit über einem Jahr ununterbrochen Dienst im Innern leistet, weil es andere schlichtweg nicht gebacken kriegen.

Das heißt, dass die zivilen Strukturen auf eine große Katastrophe nicht eingestellt sind?

Wüstner: Wir sehen doch jetzt, dass wir völlig unzureichende Strukturen und Verfahren haben, um Krisen und flächendeckende Katastrophen bewältigen zu können. Wir müssen daraus schnellstmöglich lernen. Die Bundesregierung sollte bis zum Sommer einen Erfahrungsbericht vorlegen und aufzeigen, welche Konsequenzen zu ziehen sind. Da hat sich auch die Innenministerkonferenz in der Vergangenheit nicht mit Ruhm bekleckert. So eine Pandemie ist ein laues Lüftchen im Vergleich zu den Bedrohungsszenarien, mit denen wir uns eigentlich befassen müssten.

Woran denken Sie?

Wüstner: An Herausforderungen und Bedrohungsszenarien, wie sie bereits 2016 im Weißbuch beschrieben wurden. Nehmen Sie als Beispiel eine Anschlagswarnung auf Bayer in Leverkusen, dann kurz darauf Giftgasangriffe in mehreren Städten gleichzeitig, wie es sie in anderen Ländern schon gegeben hat, dann legt eine große Cyber-Attacke unsere Wasser- und Stromversorgung lahm. Und das bedeutet angesichts der Ausstattung mit Notstromaggregaten, dass nur noch höchstens 20 Prozent der Krankenhäuser voll funktionsfähig bleiben, von der sonst kritischen Infrastruktur ganz zu schweigen. Schlimmstenfalls trifft uns das mit einer außenpolitischen Bedrohung beispielsweise an der Ostflanke der NATO. Unvorstellbar? Keinesfalls.
 

Was schlagen Sie konkret vor?

Wüstner: Der neue Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Armin Schuster, sollte gemeinsam mit dem nationalen und territorialen Befehlshaber, General Schelleis, Erfahrungen sowie den Handlungsbedarf beschreiben und mit Kanzleramtsminister Braun erörtern. Wir brauchen einen Top-down-Ansatz aus dem Kanzleramt unter Einbindung der betroffenen Ressorts, denn alles andere dauert einfach zu lange. Die gesamtstaatliche Sicherheitsvorsorge muss wieder ein Schwerpunkt von Bund und Ländern werden.

Erleben wir in der extremen Angewiesenheit auf die Bundeswehr im Innern gerade eine Auflockerung der Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit?

Wüstner: Das Grundgesetz ist bindend, dennoch kann man wie bisher gemeinsam beraten und agieren. Ich muss aber betonen: Die Amtshilfe ist nicht Kernauftrag, nicht strukturbegründend für die Bundeswehr. Aber wenn wir auf die möglichen Szenarien von Anschlägen und Angriffen schauen, dann sehen wir, dass die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit immer mehr verschwimmen. Daher muss mehr vernetzt werden. Nicht nur auf Ebene der Ministerien, sondern überall bis runter zu den Kommunen muss wieder eine Führungsfähigkeit für flächendeckende Katastrophen und Krisen aufgebaut werden.

Was heißt das konkret?

Wüstner: Es bedarf geübter und leistungsfähiger Krisenstäbe mit einer tauglichen Krisenkommunikation inklusive kompatibler Digitalisierung, weg vom bisherigen untauglichen Flickenteppich. Dass hier jedes Bundesland teils unterschiedlich agiert, dürfen wir nicht weiter hinnehmen. Das betrifft auch das Übungsgeschehen, das je nach Bundesland sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Nur was man übt, funktioniert im Ernstfall. Hätten sich Bund und Länder von vorneherein besser mit Pandemie-Lagen auseinandergesetzt, hätten wir bei weitem nicht ein derartiges Behördenversagen erlebt und wären besser durch diese Katastrophe gekommen.

Die Bundeswehr hat schon viele Reformen hinter sich. Brauchen wir jetzt, angesichts der veränderten Lage, wieder eine große Reform?

Wüstner: Man darf das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, aber der Handlungsbedarf für optimierte Führungsstrukturen ist enorm. Die Trendwenden der letzten Jahre wirken durch eine gewisse Lähmung des Systems nur begrenzt, um die Bundeswehr auf die seit 2016 veränderte Auftragslage einzustellen. Ich kann nur hoffen, dass genügend Druck aufgebaut wird. Denn so wie wir derzeit aufgestellt sind, reicht es nicht, um auf Risiken und Bedrohungen im Ausland wie im Inland bestmöglich reagieren zu können.

Die Einsatzbereitschaft liegt weiter im Argen?

Wüstner: Gemessen am politischen Auftrag sind wir bei der materiellen Einsatzbereitschaft noch nicht über die 50-Prozent-Marke hinausgekommen, das weiß jeder Fachpolitiker.

Das dürfte auch noch viel Geld kosten – Geld, das nach den vielen Milliarden in der Pandemie vermutlich nicht mehr zur Verfügung steht.

Wüstner: Sparen bei der Sicherheit ist aktuell ein No-Go. Innere und äußere Sicherheit bleiben Wesenskern staatlichen Handelns. Wer mit offenen Augen in die Welt blickt, erkennt, dass Bedrohungen nicht ab-, sondern zunehmen. Es gilt, die Bündnisse zu stärken mit einem glücklicherweise wieder auf Multilateralismus setzenden US-Präsidenten Biden. Aber Achtung, auch wenn Deutschland vielleicht im Sommer eine Fregatte ins Südchinesische Meer entsendet, wird er ein weiteres Unterlaufen der NATO-Zusagen mit Blick auf die Lastenteilung nicht akzeptieren, und zwar zu Recht.

Momentan schaut die Republik aber sehr nach innen, auf die Pandemie und die Folgen. Risiken und Bedrohungen vermutet man weit weg, entsprechend sieht man keinen zusätzlichen Finanzierungsbedarf.

Wüstner: Leider ja, deshalb braucht es kluge Außen- und Verteidigungspolitiker, die immer wieder erklären, wie spannungsgeladen es um uns herum ist und wie abhängig wir als Exportnation von einer stabilen Sicherheitsarchitektur und freien See- und Handelswegen sind. Ich hoffe auch, dass die aktuell geschobene Münchner Sicherheitskonferenz im Mai oder Juni stattfindet. Nicht nur, weil damit automatisch der Fokus auf eine fragile Weltordnung im Umbruch gerichtet wird, sondern weil es Botschafter Ischinger mit seinem Format immer wieder gelingt, Spannungen zu lösen und Frieden bestmöglich zu sichern. Denn am besten für uns alle ist es doch, wenn man eine Armee außer zur Abschreckung nicht braucht.

Worauf muss das Ministerium bei einer Reform der Bundeswehr vor allem achten?

Wüstner: Zusätzlich zu unseren Vorschlägen oder denen des früheren Wehrbeauftragten hat die FDP dazu gerade ein starkes Papier vorgelegt. Denn natürlich geht es darum, Stäbe und Verwaltung zu verschlanken, einer Überalterung der Streitkräfte entgegenzuwirken, sich auf die Kerndimensionen Land, Luft, See und Cyber zu konzentrieren und insgesamt, eine Ministerin sowie Generalinspekteur für heutige wie künftige Bedrohungen endlich strukturiert führungsfähig zu machen.

Und die reformgebeutelten Soldaten sehen dem mit Freude entgegen?

Wüstner: Natürlich sind wir leidgeprüft. Innerhalb der Bundeswehr hat sich mit den letzten Reformen die Erkenntnis verankert: „Schlimmer geht immer.“ Das werden wir nicht noch einmal zulassen. Der Leidensdruck ist allerdings enorm hoch. Mit Blick auf die bekannten Mängel wundern sich viele, warum das Ministerium nicht aus den Puschen kommt. Es geht ja nicht um eine neue Sparreform mit weiteren Standortschließungen. Es geht darum, fehlerhafte Strukturen und Verfahren in der Verwaltung sowie den Streitkräften anzupassen. Aufgaben, Zuständigkeit und Ressourcen müssen wieder in eine Hand. Alles andere wirkt negativ auf die Moral der Truppe.
   
Bis zu den Bundestagswahlen wird es knapp. Nun will Frau Kramp-Karrenbauer ja in der Bundespolitik bleiben. Denken Sie, dass sie das in einer zweiten Amtszeit das ganz große Rad gedreht bekommt?

Wüstner: Ganz generell gilt, dass eine zweite Amtszeit immer spannend ist, weil jeder Akteur dann besser messbar wird. Sehr vieles wird erst in der nächsten Legislaturperiode umzusetzen sein, aber den guten Plan brauchen wir jetzt. Und so werden die nächsten Monate erkennen lassen, ob sie in der Lage und willens ist, das große Rad in Sachen Finanzierung, Rüstung und Beschaffung oder der notwendigen Modifikation von Strukturen zu drehen. Ich wünsche es ihr und damit unserer Bundeswehr, denn noch nie waren einsatzbereite Streitkräfte so wichtig wie heute.

Mit Rat und Hilfe stets an Ihrer Seite!

Nehmen Sie Kontakt zu uns auf.

Alle Ansprechpartner im Überblick