Die Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten beim Gipfel in Vilnius. Foto: NATO

11.07.2023
Von Philipp Kohlhoefer

Die NATO und die Ukraine: Status (noch) unklar

Der zukünftige Status der  Ukraine ist das dominierende Thema des NATO-Gipfels in Vilnius. Aber nicht das einzige: langfristige Herausforderung ist China.

Vilnius. Der Name wird nicht genannt. Als Jens Stoltenberg am Dienstagvormittag zur gemeinsamen Pressekonferenz mit dem südkoreanischen Präsidenten Yoon Suk Yeol erscheint, ist aber schnell klar, dass es um China geht. „The war in Ukraine“, sagt er, „has global ramifications.“ Das betreffe alle, die an einer regelbasierten internationale Ordnung Interesse hätten. So habe man zwar auch die Gefahren aus Nordkorea im Blick, aber „Security is not regional, security is global.“

Ähnlich klingt Stoltenberg, als er zuvor Chris Hipkins trifft, den neuen Premierminister Neuseelands: „What happens in the Indo Pacific matters for Europe, for NATO, and what happens in Europe matters for the Indo Pacific.” Man müsse zusammenstehen und für die Regeln eintreten, nach denen die internationalen Beziehungen organisiert seien – was ziemlich deutlich als Warnung an China verstanden werden kann, obwohl das so natürlich niemand sagt. Zwar bleibt die zukünftige Rolle der Ukraine das größte Thema des Gipfels der 31 NATO-Länder, aber die Tatsache, dass neben den Regierungschefs aus Südkorea und Neuseeland auch diejenigen Australiens und Japans nach Litauen kommen, zeigt: Fernost gewinnt an Bedeutung. Die NATO will und wird Teil der internationalen Sicherheitsarchitektur sein.

Erdogans Kehrtwende

Zumal der größte Streitpunkt jenseits der Ukraine seit gestern beigelegt ist: Nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zuerst seine Zustimmung zur Aufnahme Schwedens zuerst noch mit der Wiederaufnahme der Gespräche eines türkischen EU-Beitritts verknüpft hatte, vollzog er im Laufe des Nachmittags die Kehrtwende. Die Türkei werde dem Beitritt Schwedens keine Steine in den Weg legen. Zwar kann das türkische Parlament die Ratifizierung des Beitrittsvertrages noch verzögern, politisch kann Erdogan aber mehr hinter die Aussage zurück. Nach dem direkten Beitritt bereits während des Gipfels ist es die zweitbeste Lösung. Am Nachmittag treffen sich die Regierungschefs der Mitgliedsländer mit den Schweden. Überraschungen sind dann keine mehr zu erwarten.

Im Vorfeld ist ebenso die „Declaration of cooperation on airspace“ geklärt, in der festgehalten wird, dass die NATO-Verbündeten uneingeschränkten Zugang zum kombinierten Luftraum der baltischen Staaten erhalten. Sie wird heute gegen 17 Uhr in einer Zeremonie unterschreiben.

Ukraine kann auf "Fast track"-Mitgliedschaft hoffen

Bereits gestern zeichnete sich ab, was Jens Stoltenberg heute morgen verkündete: Auf den  Membership Action Plan (MAP), der normalerweise zur Heranführung von Beitrittskandidaten genutzt wird, wird im Fall der Ukraine verzichtet. Umgangssprachlich ist das die fast-track Mitgliedschaft in der NATO. Einmalig ist das nicht: Auch im Fall von Finnland und Schweden verzichtete die NATO auf den MAP. Beide Fälle sind allerdings leicht anders gelagert: Die beiden skandinavischen Länder sind seit Jahrzehnten funktionierende Demokratien, liberale Marktwirtschaften.

Ansonsten gilt: Genau wie die Schweden und Finnen arbeiten die Ukrainer seit 1994 mit der NATO im „Partnerschaft für den Frieden“- Programm zusammen.  Die Ukraine unterstützt die NATO bei zahlreichen Operationen mit eigenen Solddaten, etwa in Bosnien und Herzegowina, in Afghanistan und im Irak.  Der Verzicht auf den MAP zeigt denn auch deutlich, wohin der Weg führt – und wird auch von den Ukrainern so verstanden. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba twitterte, dass das der beste Moment sei, „to offer clarity on the invitation to Ukraine to become a member.”

Umfangreiche Waffenhilfe aus Deutschland

Und auch die Deutschen reisen nicht mit leeren Händen nach Litauen. Bereits heute ist Deutschland der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine nach den USA, das sogenannte „Gipfel-Paket von Vilnius“ umfasst weitere Waffen im Wert von knapp 700 Millionen Euro, vor allem Luftverteidigung, Panzer und Artillerie. Unter den gelieferten Systemen sind zwei PATRIOT-Startgeräte aus Bundeswehrbestand, 40 Schützenpanzer MARDER, 25 Kampfpanzer LEOPARD 1 A5 und fünf Bergepanzer 2. Daneben ein LUNA-Drohnensystem, ein Pionierpaket zur Ausbringung von Minen und ein taktisches Sanitätsdienst-Paket, darunter Teilkomponenten für ein Feldlazarett. Zudem liefert Deutschland 25.000 Artilleriegeschosse,

Gerade weil die Ukraine das dominierende Thema des Gipfels ist, bewegt sich die NATO zurück in längst überwunden geglaubte Zeiten, deren Verkündung im offiziellen Programm des Gipfels aber bisher nicht angekündigt ist: Konkret geht um drei Verteidigungspläne. Es sind sind die ersten seit Ende des kalten Kriegs. Was früher für die Bundesrepublik Deutschland galt, wird dabei jetzt auf den gesamten Bündnisraum ausgedehnt. Einer der drei Pläne deckt den hohen Norden und den Atlantik ab und wird vom Joint Force Command in Norfolk (USA) geleitet. Der zentrale regionale Plan, wird aus Brunssum in den Niederlanden geleitet, und soll den Raum vom Baltikum zu den Alpen sichern. Der dritte Plan bedient den Südosten, das Mittelmeer und das Schwarze Meer, mit einem Kommando in Neapel, Italien. Das ist insofern relevant für den Gipfel in Vilnius, da die Pläne, sofern sie verabschiedet werden, die Streitkräftestruktur festlegen, einschließlich der Anzahl an Truppen und Ausrüstung in hoher Alarmbereitschaft sowie der Kommando- und Kontrollstruktur.

Zwar wurde bereits auf dem NATO-Gipfel im letzten Jahr in Madrid beschlossen, zur Abschreckung Russlands künftig „mehr als 300 000 Soldaten" in hoher Einsatzbereitschaft zu halten, weitere Details sind allerdings von der Verabschiedung der Verteidigungspläne abhängig und sollen in Vilnius beschlossen werden.

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