Die Beteiligung am Projekt "Wir sind Marine" war groß. So konnte mit der Studie ein klares und realistisches Bild der Marine gewonnen werden.  Foto: Imago Images/Bildfunk

Die Beteiligung am Projekt "Wir sind Marine" war groß. So konnte mit der Studie ein klares und realistisches Bild der Marine gewonnen werden. Foto: Imago Images/Bildfunk

23.08.2020
Prof. Dr. Marcus Albrecht

Die Identität der Deutschen Marine – Standort- und Kursbestimmung

Professor Dr. Marcus Albrecht lehrt und forscht an der Hochschule Düsseldorf mit Schwerpunkt Unternehmenssteuerung und Leadership. Er ist unabhängiger wissenschaftlicher Leiter der Projektgruppe „Wir sind Marine“ und Spiritus Rector des Projekts. In diesem Gastbeitrag stellt Prof. Dr. Albrecht Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Projekt „Wir sind (M)marine“ vor, mit dem die besondere Identität der Teilstreitkraft Marine untersucht wurde.

Wie können wir die vielfältigen, tiefgreifenden Veränderungen bewältigen, die seit einigen Jahren über alle Bereiche unseres Lebens hereinbrechen? Wie können wir sie bewusst gestalten, statt sie zu erleiden? Das ist die Schlüsselfrage unserer Zeit (Horx 2011), in der Veränderung die einzige Konstante zu sein scheint.

Tatsächlich erleben wir gerade Veränderungen bislang ungekannten Ausmaßes. Die Entwicklungen laufen uns davon – und wir versuchen verzweifelt, mit unseren vertrauten Handlungsmustern hinterherzulaufen. Veränderungen machen Menschen Angst, sie erzeugen Unsicherheit und gerade in Zeiten großer Umbrüche sehnen wir uns nach dem Beständigen, nach etwas, das Halt gibt, das sich – vermeintlich – schon immer bewährt hat. Nach Identität, die – zumindest dem Wortlaut nach – das beinhaltet, was immer gleichbleibt. Dass diese Sehnsucht nach Bewährtem zuweilen allerdings auch in die Irre gehen kann, haben Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit, auch in der Bundeswehr, gezeigt.

Identität: Innerer Kompass einer Organisation und Schlüssel zur Zukunft

Identität ist das, was einen Menschen ausmacht, was ihn von anderen unterscheidet und was sein Handeln und seine Wirkung auf andere bestimmt. In diesem Sinn haben auch Organisationen eine Identität und letztlich ist es diese Identität, die über ihr „Wohl und Wehe“ entscheidet: Identität schafft Zugehörigkeit und Verbundenheit, sie gibt Orientierung und lenkt Verhalten und sie vermag einer Organisation Attraktivität und Akzeptanz zu verleihen. Oder eben auch nicht. Allerdings: Identität ist nicht statisch. Wir alle kennen Menschen, die den Anschluss an die Zeit verloren haben und auch Organisationen kann dies passieren. Anpassung, die Fähigkeit, Veränderungen aufzunehmen, sich auf sie einzustellen und mit ihnen Schritt zu halten, Identität mit der Zeit zu entwickeln, nicht gegen die Zeit zu verteidigen, ist für Menschen wie für Organisationen fraglos (über)lebenswichtig. Diese Kompetenz ist der Schlüssel zur Zukunft, für die Marine wie für die Bundeswehr generell.

Von fehlender Identität (Clair 2020) kann indes nicht die Rede sein. Denn jede Organisation hat eine Identität. Die Frage ist, ob sie sich dieser Identität bewusst ist, ob es die Identität ist, die sie sich wünscht und ob diese Identität (noch) in die Zeit passt. Wenn wir eine leistungsfähige Marine ohne Nachwuchssorgen haben möchten, eine Marine, die ihren Auftrag heute, vor allem aber in den kommenden Jahrzehnten zuverlässig erfüllen kann, in der Motivation und Zufriedenheit den Dienst bestimmen und die von der Gesellschaft anerkannt ist, dann muss sich die Marine den Entwicklungen stellen, die sich in den Ansprüchen, Forderungen und Bedürfnissen widerspiegeln, die von ihren Stakeholdern an sie herangetragen werden. Sie muss in den Spiegel schauen und sich die Frage stellen, ob und inwieweit sie als Organisation mit ihrem Erscheinungsbild, ihren Verhaltensweisen und Ritualen, ihren Arbeitsmethoden und Fähigkeiten und mit ihren Werten und Überzeugungen noch in die Zeit passt. Sie muss sich ehrliche Antworten darauf geben und dort, wo es nötig ist, mit der Zeit gehen, d.h. ihre Identität weiterentwickeln.

„Wir sind Marine“ - Projektkonzept und -methodik

Aus diesem „müssen“ ist in der Marine bereits ein „werden“ geworden. Im Spätsommer 2018 hat der Inspekteur der Marine den Startschuss für das Projekt Wir sind Marine gegeben. Ziel dieses in den deutschen Streitkräften bislang einzigartigen Projekts ist es, die Identität der Marine objektiv zu erfassen, sie fundiert zu bewerten, mit Zielen, Zeit und Zukunft abzugleichen und – soweit erforderlich – zu modernisieren. Hierdurch soll die Identität der Marine gestärkt, die Attraktivität des Dienstes in der Marine erhöht und die Arbeitszufriedenheit der Männer und Frauen der Marine (Zivilpersonal eingeschlossen) verbessert werden. Der Begriff „Marine“ in der Projektmarke kennzeichnet im Übrigen nicht nur die Organisation, sondern ist zugleich (im Sinne neudeutschen Sprachgebrauchs) als Adjektiv zu verstehen, das im Projektverlauf mit Inhalt zu füllen war: Was bedeutet es eigentlich, marine zu sein?

Konzeptionell basiert Wir sind Marine auf zwei Säulen: Einer Fragebogen-Maßnahme sowie einer an die Fragebogen-Maßnahme anknüpfenden Serie von Workshops mit repräsentativen Teilnehmergruppen (Teilnahme jeweils freiwillig). Der Fragebogen wurde auf der Grundlage abgesicherter Forschungsergebnisse der (Organisations-)Psychologie, der Soziologie, der Management-/Führungsforschung sowie der Neurobiologie individuell für die Marine entwickelt. In den Workshops ging es darum, das Bild, das sich aus den Fragebögen ergab, mit den Teilnehmern zu diskutieren, zu klären, ob bzw. inwieweit sie sich in diesem Bild wiederfinden und ggf. fehlende Aspekte zu ergänzen.

Gemeinsam mit den Männern und Frauen der Marine wollten wir charakterisieren, „wer wir sind“ und ein Bild entwickeln, „wer wir sein sollten“; eine Vorstellung, was eine moderne Marine ausmacht – welche motivierende Vision sie leiten sollte, auf welchen spezifischen Werten sie gründen sollte, über welche Fähigkeiten ihre Soldaten verfügen müssten, welche Form des Miteinanders zielführend wäre usw. Und natürlich galt es, herausfinden was der Marine vielleicht fehlt, um diesem Idealbild zu entsprechen.

Offene Antworten und ein klares Bild

Die Marine hat gefragt – und die Männer und Frauen der Marine haben geantwortet. Mit hoher Beteiligung, großer Offenheit, hohem Engagement und Vertrauen und in aller Deutlichkeit. Und mit sehr großer Übereinstimmung. Aus den Einschätzungen in den Fragebögen und den Diskussionen in den Workshops haben wir ein klares, realistisches Bild der Marine gewinnen können sowie eine Vielzahl an interessanten und wichtigen Einsichten und Hand-lungsimpulsen. Es würde den Umfang dieses Beitrags sprengen, alle Ergebnisse des Projekts vorzustellen, so dass hier – entlang der Frage was den unveränderlichen Kern der Identität der Marine ausmacht und wo es Kurskorrekturen bedarf – nur vier Aspekte exemplarisch angerissen werden sollen.

Soldatsein als Gravitationszentrum der Identität der Marine

Hinsichtlich des Kerns der Identität der Marine liegt der Gedanke nahe, dass dies – natürlich – die Seefahrt ist. Wir sind Marine hat aber gezeigt, dass es in erster Linie das Soldatsein ist, das die Identität der Marine ausmacht: Unter Einsatz des eigenen Lebens zu schützen, was wichtig und wertvoll ist – Menschen, die man liebt, die Werte unserer Grundordnung, Freiheitsrechte und Errungenschaften. Die Identität der Marine ist damit innerhalb der Bundeswehr in hohem Maße integrativ – im Gegensatz zu dem Identitätsklischee, das mancherorts innerhalb der Bundeswehr noch über die Marine gepflegt wird. Der Bezug zur See bildet erst das zweite wichtige Identitätsmerkmal: Der Ort, an dem sich Marine bewähren muss. Herausfordernd ist allerdings, dass es die Identität der Marine offenbar nicht gibt, sondern dass es innerhalb der Marine verschiedene Identitätsgruppen gibt, die bei den Aspekten militärische Prägung, Seefahrt und Berufsattraktivität jeweils unterschiedliche (inhaltliche) Schwerpunkte setzen. Dieses, innerhalb der Marine desintegrativ wirkende Nebeneinander mehrerer Identitäten schwächt das Zusammengehörigkeitsgefühl und führt zu Blockaden. Leistungsfähigkeit und Attraktivität der Marine in den kommenden Jahren werden ganz wesentlich davon abhängen, dass es gelingt, Bewegung in dieses erstarrte Identitätsgefüge zu brin-gen und einen zeitgemäßen Identitätskonsens zu entwickeln.

Identitätsaspekt Berufsverständnis

Die viel diskutierte Frage, ob der Beruf des Soldaten ein Beruf wie jeder andere sei, wurde ebenfalls sehr klar beantwortet: Der Beruf des Soldaten ist ein besonderer Beruf – aber eben auch und in erster Linie ein Beruf! Ein Beruf, der sich auch wie ein Beruf anfühlen muss, der mit anderen Berufen auf dem Arbeitsmarkt konkurriert und der nur dann interessant ist, wenn er genauso attraktiv ist wie andere Berufe. Und dazu gehören ganz bestimmte Rahmenbedingungen, bei denen es auch in der Marine (wie in der Bundeswehr insgesamt) offenbar noch jede Menge Aufholbedarf gibt (z.B. Grenzziehung zwischen Beruflichem und Privatem, Planungssicherheit, attraktive persönliche Entwicklungsmöglichkeiten, lebensphasenorientierte Karrieremodelle, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, faire, leistungsabhängige Aufstiegs- und Ausstiegsmöglichkeiten, ausbildungsgemäße Verwendung, Verhältnis von Leistung und Gegenleistung, ein angemessener Arbeitsplatz, Sicherheit am Arbeitsplatz, ...). Auffassungen, dass der Soldatenberuf kein Beruf sei und die Bundeswehr kein Arbeitgeber, dass Soldaten nicht arbeiten, sondern „dienen“ und die Selbstverständlichkeiten anderer Berufe – und sei es nur eine geregelte Arbeitszeit – daher für Soldaten nicht gelten, wurde damit eine klare Absage erteilt.

Starke Identität entsteht durch eine gemeinsame, sinnhafte Vision

Darüber hinaus unterstreichen die Projektergebnisse, dass eine klare, sinnhafte Vision, ein Bild von einer positiven Zukunft, das verbindet, Sinn gibt und auf das alle gemeinsam hinarbeiten, von überragender Bedeutung für eine starke Identität ist und somit wesentlich zu Einsatz-Bereitschaft, Motivation und Zufriedenheit beiträgt. Doch vielen Soldaten erschließt sich nicht (mehr), wofür (für welches höhere Ziel) sie eigentlich arbeiten und sie wünschen sich mehr Erklärung der und Teilhabe an den aktuellen Einsätzen der Marine/Bundeswehr seitens der Politik. Es gehört jedoch zwingend zum Wesen einer modernen Berufsarmee, für das, was sie tut, für jeden Einsatz, ein ehrliches und berührendes Rational zu finden und dieses Rational emotional und aktivierend zu vermitteln. Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn Soldaten nicht wissen, wofür sie kämpfen, warum sollten sie dann überhaupt kämpfen? Inhaltlich unterstreichen die Projektergebnisse, dass diese Vision für die Marine über die beiden Facetten „Kampf“ und „Seefahrt“ hinausgehen muss. Selbstverständlich gehören diese beiden Aspekte zur DNA einer Marineidentität. Das bestreitet niemand. Aber sie grenzen innerhalb der Marine zu sehr ein und vor allem zu sehr aus, wirken also gerade nicht integrativ, und reichen allein nicht (mehr) aus, um innere Motivation zu erzeugen, Orientierung zu geben und Gemeinschaft zu stärken.

Gleichwürdiger Umgang miteinander

Der familiäre Umgang auf Augenhöhe, dass es – im Rahmen der Regeln – hier lockerer und weniger militärisch zugeht als bei den anderen TSK, hat die Marine schon immer ausgezeichnet und ist eigentlich eines ihrer wesentlichen Identitätsmerkmale. Dieses Miteinander ist nicht nur den besonderen Herausforderungen der Bordgemeinschaft geschuldet, es gründet auch in der Erfahrung, dass ein gleichwürdiges Miteinander zu hoher Motivation, zu Resultaten und Zufriedenheit führt. Und doch werden Menschen – auch in der Marine – vielfach als Objekte des Willens anderer Menschen behandelt – und nicht als Subjekte, als Menschen mit eigener Individualität und eigenem Willen. Man mag dieses Verhaltensmuster für militärtypisch halten, historisch betrachtet ist es das auch. Doch es muss deutlich hervorgehoben werden, dass es Einsatz-Bereitschaft, Motivation und Zufriedenheit erheblich schwächt. Wenn Menschen (bloß noch) Gegenstand der Absichten, Bewertungen oder Maßnahmen/Anordnungen anderer sind, wenn sie als Objekte behandelt werden, verletzt dies sowohl das menschliche Grundbedürfnis nach Verbundenheit und Zugehörigkeit als auch das nach Autonomie und Freiheit. Menschen reagieren hierauf mit sehr starken Abwehr- und Ausweichmaßnahmen, das Spektrum reicht von innerer Kündigung über Adaption und Verstärkung dieses Verhaltens bis hin zu offener Verweigerung und heftigem Widerstand. (Hüther 2018) Hinter diesen Reaktionsmustern eine Generationenthematik zu vermuten, wie häufig geschieht, geht vollkommen an der Sache vorbei. Tatsächlich ist es diese Objekthaftigkeit, die Demotivation und innere Verweigerung hervorruft und die sich hemmend auf die Einsatz-Bereitschaft auswirkt. Für die Marine bedeutet dies mit der Zeit zu gehen, indem sie wieder zu ihren Wurzeln zurückfindet: Den Einzelnen wieder als Subjekt zu entdecken, ihn als Subjekt einzubinden und ein gleichwürdiges Miteinander wieder zurück in den Kern ihrer Identität zu rücken.

Und wie geht es nun weiter?

Ergebnisseitig hat Wir sind Marine alle Erwartungen weit übertroffen. Allein die schiere Zahl wertvoller Anregungen und Impulse, die wir einsammeln konnten, ist beeindruckend. Die Standortbestimmung ist abgeschlossen, die erste Etappe erfolgreich und mit viel positiver Resonanz bewältigt. Nun steht die Marine vor der Herausforderung, von dieser Position aus, den Kurs für den Weg ins 21. Jahrhundert abzustecken. Und sich dabei in mancherlei Hinsicht auch von ihrer Vergangenheit zu emanzipieren. Die Männer und Frauen der Marine haben mit Wir sind Marine einen möglichen, ja notwendigen Kurs – ihren Kurs – zu mehr Motivation, Berufszufriedenheit und Einsatz-Bereitschaft, vorgezeichnet. Es ist beabsichtigt, diesen Kurs nun in der zweiten Phase des Projekts in einem professionellen Leitbildprozess zu kodifizieren, mit konkreten Zielen und Maßnahmen zu unterlegen und schrittweise mit geeigneten Change-Management-Methoden umzusetzen. In diesem Sinne: To be continued ...

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