Mit einer historischen Rede im Bundestag läutete Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar die "Zeitenwende" ein. Foto: picture alliance / Flashpic / Jens Krick

30.05.2022
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Deutschlands „Zeitenwende“: Wo steht das Land drei Monate später?

Dass der 24. Februar die Republik überrascht, ja schockiert hat, ist eigentlich kaum zu erklären. Da wäre zum einen der konkrete Umstand, dass der Tag keinen Kriegsbeginn markiert. Gekämpft wird im Donbass schon seit 2014. Russland hatte seinen Krieg gegen die Ukraine mit seinem großangelegten Angriff „nur“ eskaliert. Noch dazu hatte sich der „full-scale war“ über Wochen abgezeichnet.

Zum anderen nimmt Russland seit Jahren die Rolle des Friedenstörers mit seiner blutigen Intervention im Syrischen Bürgerkrieg, seiner Einmischung in Libyen und Mali, mit nuklearer Aufrüstung, Mordanschlägen, Cyberangriffen, einschlägigen Manövern, der Unterdrückung von Oppositionellen und einer breiten Desinformations- wie Destabilisierungskampagne inklusiver des Versuchs, demokratische Wahlen zu beeinflussen, ein. Wie können bei diesem Register Kriegsverbrechen, wie in Butcha geschehen, und das Auslösen einer weltweiten Hungerkrise da überraschend?

Die Republik wurde von der Krise jedenfalls vollkommen unvorbereitet getroffen – nicht nur psychologisch, sondern auch ökonomisch und militärisch. Plötzlich war die Abhängigkeit von russischem Gas nicht mehr im nationalen Interesse, sondern ein Problem. Plötzlich war die Frage relevant, ob die NATO-Abschreckung glaubhaft und die Bundeswehr kampfstark war. Sinnbildlich steht dafür der „blank-Post“ von Generalleutnant Alfons Mais.

Die Berliner Politik hatte im Umgang mit Russland ausschließlich auf Diplomatie gesetzt – und die Verteidigungsfähigkeit sträflich vernachlässigt. Es war eine Politik ohne Netz und doppelten Boden. Anders als Willy Brandt, SPD-Übervater und Kanzler der Ostpolitik, der eine starke Bundeswehr in einem starken Bündnis im Rücken wusste, als er 1970 nach Moskau fuhr.

Der Handlungsdruck, der auf dem Kanzler lastete, war riesig. Und Olaf Scholz lieferte: Am 27. Februar läutete er in einer großen, ja historischen Rede im Deutschen Bundestag die „Zeitenwende“ ein und nannte fünf Handlungsaufträge. Erstens: die Unterstützung der Ukraine – nun auch mit Waffenlieferungen. Zweitens: Putin vom Krieg abbringen – mit harten Sanktionen. Drittens: eine Eskalation verhindern – durch eine zur Verteidigung des gesamten Bündnisgebiets entschlossene NATO. Viertens: Russlands militärischer Bedrohung begegnen – durch eine „leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt“. Und fünftens: die Sicherung der Energieversorgung – indem die einseitige Abhängigkeit überwunden wird. Wo steht das Land rund drei Monate später? Scheitert die Zeitenwende als schlecht kommunizierte Ankündigungsoffensive oder wird Deutschland endlich erwachsen?

Waffenlieferungen – ein Hickhack

Während die Bereitstellung von MANPADS und Panzerfäusten schnell und entschlossen erfolgte, entspann sich um die Lieferung von „schweren Waffen“ ein politisches Hickhack als ob es keinen Krieg gäbe. Die Kommunikation nach außen ist widersprüchlich, die Begründungen wechseln; innerhalb der Koalition gab und gibt es offenen Streit, welche Waffensysteme die Ukraine bekommen soll. Dazu ständig neue Forderungen aus Kiew. Die Opposition reagiert scharf, CDU-Außenexperte Roderich Kiesewetter kritisierte bei Anne Will: „Der Kanzler will nicht, dass die Ukraine den Krieg gewinnt“.

Sanktionen – ein zweischneidiges Schwert

Die EU hat schnell fünf Sanktionspakete erlassen, die Einzelpersonen und die russische Wirtschaft treffen sollen. Unter anderem ist russischen Banken der Zugang zum europäischen Kapitalmarkt weitgehend untersagt, Transaktionen sind eingeschränkt, der Luftraum ist gesperrt, russische Kohle darf nicht mehr importiert, verteidigungsrelevante Güter nicht mehr aus der EU exportiert werden (Warum eigentlich erst jetzt?). Hinzu kommen diplomatische Maßnahmen (Bsp.: G7 statt G8). Viele westliche Unternehmen haben außerdem ihr Russlandgeschäft aufgegeben oder zurückgefahren, kollabiert ist die russische Wirtschaft gleichwohl noch nicht. Schärfere Maßnahmen, wie ein komplettes Öl-Embargo, sind aber umstritten. In letzter Minute einigten sich die EU-Staats- und Regierungschefs am 30. Mai auf ein sechstes Sanktionspaket, wonach russisches Öl, das per Schiff transportiert wird, nicht mehr nach Europa eingeführt werden darf. Eine härtere Linie war an Problemmitglied Ungarn gescheitert. Deutschland und Polen wollen außerdem bis zum Ende des Jahres auf Pipeline-Öl aus Russland verzichten, sodass die EU ihren Ölimport aus Russland dann um immerhin 90 Prozent reduziert hat, wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte.

Noch stärker ist der Widerstand beim Gas. „Russland deckt rund 50 Prozent des deutschen Erdgasverbrauchs. Damit bilden die russischen Gaslieferungen die Basis für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie“, warnte BASF-Chef Martin Brudermüller. Die Abhängigkeit im Bereich der Energieversorgung wird uns also noch eine Weile herausfordern.

Geschlossenheit im Bündnis – Totgesagte leben länger

Hatte Frankreichs Präsident die NATO vor wenigen Jahren noch als „hirntot“ abqualifiziert, ist das Bündnis heute politisch so vital wie seit 30 Jahren nicht mehr. Militärisch, die mangelnde Einsatzbereitschaft der europäischen Mitgliedsstaaten mal beiseite, hatte das Bündnis ohnehin kein Problem. Gefährlich ist allerdings die türkische Blockade des finnischen und schwedischen Mitgliedsantrags. Am 29. Juni kommt es auf dem Madrider Gipfel zum Schwur.

Kriegstaugliche Bundeswehr – nur, wenn der Kanzler sie will

Am Abend des 29. Mai haben sich Vertreter der Ampel-Koalition mit denen der Union zum Sondervermögen geeinigt. Am 3. Juni stimmte der Bundestag für die notwendige Grundgesetzänderung, am gleichen Tag wurde dann das Bundeswehrsondervermögensgesetz verabschiedet. Es braucht nun nur noch die Zustimmung des Bundesrats. Konkretisiert wurde die Verbindung von Ausgaben aus dem Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro mit dem Zwei-Prozent-Ziel der NATO. Danach sollen mithilfe des Sondervermögens „im mehrjährigen Durchschnitt von maximal fünf Jahren zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf Basis der aktuellen Regierungsprognose für Verteidigungsausgaben nach Nato-Kriterien bereitgestellt“ werden. Zum Schluss ein Vergleich: Die Friedensdividende betrug laut einer Berechnung des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln seit 1990 stolze 447 Milliarden US-Dollar [sic].

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