Das wahre Ausmaß der Katastrophe zeigte sich vielerorts erst nach dem Rückgang der Fluten. Foto: privat

Das wahre Ausmaß der Katastrophe zeigte sich vielerorts erst nach dem Rückgang der Fluten. Foto: privat

04.08.2023
Von Philipp Kohlhöfer

Der Wiederaufsteher

Achim Gasper ist Ingenieur bei der Luftwaffe, Major, und sei langem Mitglied im Deutschen BundeswehrVerband. Er war Teilnehmer der Invictus Games im letzten Jahr – und ist bei der Flut im Ahrtal vor zwei Jahren fast gestorben. Zum zweiten Mal.

Das letzte Telefonat, bevor das Netz zusammenbricht, führt Achim Gasper irgendwann zwischen acht und neun am Abend. Ein paar Stunden regnet es da schon, erst leicht, ab dem Nachmittag dann sehr heftig. „Hör zu“, sagt ein Kumpel, Feuerwehrmann, am anderen Ende der Leitung, „ihr müsst irgendwie die Nacht überleben.“ Heute werde nicht mehr evakuiert. Das Wasser zu hoch, der Regen zu stark, die Strömung zu wild, der Wind zu heftig.

Achim Gasper steht vor einem Loch, bombentrichterähnlich. Sein Haus stand hier, um ihn herum wird gebaut, da ist der Wideraufbau in vollem Gang, andere Häuser müssen erst noch abgerissen werden, bisher hat sich dort gar nichts getan. Gräser wachsen auf seinem Grundstück, im Herbst soll es losgehen mit dem Neubau. Die Straße runter steht ein Schild vor einem Haus „Zu verkaufen“.

„Von bis“, sagt Gasper, Major der Luftwaffe, stationiert in Koblenz. Manche Bewohner seien wild entschlossen, alles wieder aufzubauen, so wie es vorher war, andere haben resigniert und sind weggezogen. Gasper kommt aus dem Ort, Altenahr-Altenburg, Landkreis Ahrweiler. Sein Bruder wohnt hier, nebenan, seine Eltern in paar Meter weiter, ihr Haus ist abgerissen. Seine Oma überlebt die Flut nicht, sie ertrinkt in der Küche ihres Hauses.

Hochwasser, das war früh klar. Um 11.27 Uhr, 14. Juli 2021, rechnet der Hochwasserlagebericht des Umweltministeriums Rheinland-Pfalz mit einer Prognose von 3, 30 Meter. „Deutlich“ so heißt es intern, aber man war schlimmeres gewohnt. Hochwasser hatte es ein paarmal gegeben an der Ahr. Das ist nicht ungewöhnlich. Selbst nachmittags geht niemand von Extremhochwasser aus. Um 16.43 Uhr verschickt das Landesamts für Umwelt eine Pressemitteilung: „Wir nehmen die Lage ernst, auch wenn kein Extremhochwasser droht." Gasper ist da mit dem Hund spazieren, er hat schon Überschwemmungen gesehen, das ist nicht das erste Mal, richtig besorgt ist er nicht. Das ändert sich, als gegen 19 Uhr der Strom ausfällt. Ab da, sagt er, sei es schnell gegangen. „Unser Keller ist innerhalb von zwei Minuten vollgelaufen“. 19.30 Uhr ist es, als die ersten Keller überfluten. Danach steigt das Wasser innerhalb von Minuten um mehrere Meter. „Man konnte die Treppenstufen verschwinden sehen“, sagt Gasper. Später wird klar: Innerhalb von 24 Stunden fallen in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli mehr als 100 Liter Regen pro Quadratmeter.

„Naja“, sagt Gasper. Er ist seit 2003 bei der Truppe. Wehrdienst, vier Jahre auf Zeit, dann acht, zwölf, dann Berufssoldat. Er wird Fluggerätemechaniker, er ist der beste seines Jahrgangs deutschlandweit. Die Ausbildung dauert 42 Monate, er schafft es in der Hälfte der Zeit. Er wird Offizier, macht diverse Fachausbildungen, studiert Maschinenbau. Als das Wasser im Erdgeschoss steht, denkt er auch, dass das schon wieder wird. Mist, aber das kriegt man wieder hin. Als es die Treppe im Flur erreicht und man zusehen kann, wie Stufe um Stufe im Wasser verschwindet, wird es ihm mulmig. „Wenn das dann noch steigt“, sagt er, „dann weiß man: Man kommt hier nicht mehr raus“. Er bereitet den Dachboden vor, er entfernt Ziegel, falls sie raus müssen aufs Dach. Das Tal ist von drei Seiten von Felsen umgeben, teilweise reiner Schiefer, meist mit Bäumen bewachsen. Auf der vierten Seite fließt die Ahr. Ein Kessel. Dann weiß man, man kommt hier nicht mehr raus. Das Wasser steigt.  

Um 20:43 Uhr liegt die letzte Prognose für den Höchststand bei 6,92 Metern, aber auch die wird übertroffen werden. Gasper weiß das, ohne es zu wissen: Er sieht es. Er sitzt mit seiner Frau und dem Hund im Dachstuhl des gemeinsamen Hauses, er hat gerade telefoniert, zur Not, hatte der Feuerwehrmann gesagt, klettert auf den Schornstein. Ihr seid alleine. Er erzählt seiner Frau nichts davon. Er hofft. Dass das Fundament hält. Dass keiner der vorbeischwimmenden Öltanks eine Wand beschädigt und so die Statik zerstört. „Das scheppert schon ganz gut“, sagt Gasper, „wenn Autos an den Dachstuhl knallen.“ Er hofft, dass kein Feuer ausbricht. Dass die Nachbarn, die gegenüber auf dem Dach sitzen, nicht in die Brühe fallen, die mal die Ahr war. Dass das Wasser nicht weiter steigt. Dass sie überleben. Das Wasser ist nicht braun, wie man es erwarten würde. „Eher rot“, sagt Gasper. Viele der Heizöltanks sind geplatzt, daher die Farbe. Zäune und Wohnwagen schwimmen vorbei. Fahrräder, Bäume, Autos, Garagen. Ganze Häuser, einfach weggerissen. Es stinkt, natürlich stinkt es, das Wasser ist mehr Sondermüll als Wasser. Es ist stockdunkel, es gibt keinen Strom, kein Netz, nur das Geräusch des Wassers, als Regen und als Flut. „Zwischendrin kommen dir schon mal Gedanken, ob du es überlebst.“

Es ist apokalyptisch, aber wenn man in Deutschland lebt, kennt man das in der Regel nur aus dem Kino. 180 Menschen sterben vor zwei Jahren. 33 Milliarden Euro Schaden, noch so eine Zahl, nicht so schlimm wie die Toten, aber ebenfalls unvorstellbar hoch. Man kann das wissen. Man kann hinfahren. Mit den Betroffenen reden. Sich die Zerstörungen ansehen, die es teilweise immer noch gibt. Und doch sind es Zahlen aus einem Katastrophengebiet, die emotional nicht greifbar sind, wenn man es nicht erlebt hat.

Gegen zehn Uhr am nächsten Vormittag, 15. Juli, das Wasser steigt nicht mehr, unter der Zwischendecke zum Dach hört es auf. Ein Surfbrett schwimmt am Haus vorbei, wo immer das auch herkommt. Gasper klettert aus dem Dachfenster, es sieht wieder nach Regen aus, er denkt wir müssen hier raus, er schwimmt zum Brett, schiebt es in Richtung Dach zu seiner Frau und dem Hund. „Ständig berührt dich was am Bein“, sagt er, „wo du nicht weißt, was es ist.“ Komisches Gefühl, aber vernachlässigbar in dem Moment. Er sagt: „Gab da nicht viel  zu überlegen.“ Schließlich sind sie im Tal gefangen. Es ist wie Häuser in einem See bauen. Der Zeitpunkt ist jetzt. Jetzt müssen sie raus, die Strömung hat sich etwas beruhigt. Schwimmen, zuvor unmöglich, müsste jetzt gehen, zumal an ein Surfbrett geklammert.

Wie fühlt sich das an, wenn man weiß, dass man das vielleicht nicht überlebt? Gasper sagt nichts. Dann: „Puh.“

Sie schwimmen in Richtung der Felsen. Nach ein paar hundert Metern können sie stehen, das Wasser geht ihnen bis zur Hüfte. Sie klettern einen der Berge hoch, sie sind nicht alleine, es ist wie ein Treck von Einwohnern, die durch den Wald nach oben gehen.

Als das Wasser abgelaufen ist, ein paar Tage später, trifft die neue Normalität mit Vollgas auf die alte. Das Haus steht noch, für den Moment. Ein Gutachten wird später 96 Giftstoffe in den Wänden feststellen, Heizöl, Lacke, Pestizide, was man eben in Kellern und Lagern rumstehen hat. Die Gifte sind, vermischt mit Schlamm, in Möbeln, Kleidung, Steinen, überall. Manche davon in einer Konzentration 6000mal höher als zulässig. Kein einziges Kinderbild, kein Schulzeugnis, nichts hat es durch die Flut geschafft. Gasper hat das, was er in der Nacht am Körper trug. Und sein Leben. Das kennt er schon.

Er ist dabei als die NATO 2015 in Albacete in Spanien den Luftkrieg übt, näher als ihm lieb ist. Sieben Sekunden nach dem Start kippt eine griechische F16 nach rechts weg, die Seitenrudertrimmung ist falsch eingestellt, eine Checklistenkladde hat den Knopf verdreht - was keinem auffällt. Die F16 fällt auf andere Maschinen, die gerade zum Start vorbereitet werden. Zwölf Menschen sterben, 33 werden teilweise schwer verletzt. Gasper steht fünfzig Meter entfernt, er hat Glück, das ist alles. Die Feuerwand dreht zufällig in die andere Richtung, die Trümmer fliegen an ihm vorbei. Gasper nimmt die Bilder mit, seither lassen sie ihn nicht mehr los. Aber eben nicht nur die Bilder: Vor allem die Gefühle. PTBS, Posttraumatische Belastungsstörung, bis heute medizinisch nicht wirklich verstanden. „Ich spüre das alles nochmal“, sagt er. Die Hitze, die verbrannte Haut, der Geruch von Kerosin und Tod. Das ist keine Erinnerung, die langsam abklingt. Es ist kein Film, den er im Kino sieht. Kommt der Flashback ist Gasper wieder in der gleichen Situation.  Er riecht es, er fühlt es, er schmeckt es. Als wäre es jetzt. Und für ihn ist es das auch. „Schlaf ist schlecht“, sagt er. Im Schlaf kommt es oft. Passieren kann es dauernd, überall. Vor allem, wenn man Stress hat. Gasper steht vor dem Loch, das mal sein Haus war und sagt: „Das hier hat nicht so richtig geholfen“. 

Zwar bleibt die Flut von 2021 nach allen Maßstäben ein außergewöhnliches Ereignis. Aber: In Zukunft werden sich Extremwetterereignisse allen Prognosen nach häufen. Man kann das politisch leugnen, und wenn man das auf individueller Ebene tut, weil man eben in der Region verwurzelt ist und das Häuschen am Fluss Heimat bedeutet, dann ist das menschlich auch mehr als verständlich. Aber es ändert nichts daran, dass es dennoch passieren wird. Alle, die sich auskennen, sind sich darüber einig. Nicht umsonst beschäftigen sich mittlerweile die meisten Armeen mit dem Klimawandel als sicherheitspolitische Bedrohung. Und das gilt eben auch fürs Inland.

Denn nicht nur werden die Extremwetter zunehmen, auch ihre Intensität wird sich erhöhen. So haben Forschende des Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology des Karlsruhe Institut of Technology erst im April ausgerechnet, wie sich die gleiche Wetterlage in einem um zwei Grad erwärmten Deutschland entwickelt hätte. Ergebnis: Fast ein Fünftel mehr Niederschlag. Der Scheitelpunkt der Flut läge dann sogar um 39 Prozent höher. Noch höher. Bei 7.07 Meter wurde das Messgerät von der Wucht des Hochwassers weggespült. Kann es an der Ahr trotzdem gut gehen? Kann es Jahre oder gar Jahrzehnte ruhig bleiben? Natürlich. Ist das wahrscheinlich? Es ist jedenfalls eine Wette. 

„Macht das…?“
„Nein, macht es nicht“, sagt Gasper, bevor die Frage gestellt ist. „Die Antwort ist Nein.“

Aber der Wiederaufbaufonds ist genau das: Ein Fonds zum Wiederaufbau. Man darf mit dem Geld, von Härtefällen abgesehen, nicht woanders bauen. Auch die Versicherung zahlt nur bei Wiederaufbau. Zudem gibt es in Deutschland Bestandsschutz. Häuser, die von der Flut nur beschädigt wurden, dürfen ohne Auflagen wieder saniert werden – sofern sie exakt so aufgebaut werden wie vorher. Das führt dazu, dass direkt am Fluss ebenerdig gebaut wird, weil: es war ja vorher schon so. Mit einem Zugang zur Ahr.

„Die Realitätsverweigerer“, sagt Gasper. Für die anderen, die mit dem Neubau, gilt: Ebenerdig dürfen keine Wohnräume mehr liegen, Elektroinstallationen sind ebenfalls verboten. Abstellräume im Erdgeschoß, das ist erlaubt. Bessere Keller, aber das war es dann auch. Adaption an den Fluss. Und richtig überraschen kann das eigentlich keinen. Das Wohngebiet liegt in einer wunderschönen Gegend, aber eben auch: im ehemaligen Flussbett. Das ist seit Jahrzehnten so und nicht die Schuld der jetzigen Bewohner, für eine Flutkatastrophe kann ohnehin keiner was. Früher aber, vor der Bebauung, war es eben das Gebiet, das überschwemmt wurde bei Hochwasser – und das hat dann auch niemanden gestört, weil dort einfach keiner wohnte. Der Fluss, das könnte die Botschaft sein, braucht mehr Raum. Tatsächlich gibt es jetzt Zonen, in denen man gar nicht mehr bauen darf, aber siehe: Bestandsschutz.

Weil er viel Sport macht, normalerweise, um seine PTBS in den Griff zu bekommen, startet Achim Gasper 2022 bei den Invictus Games in Den Haag, als Ruderer. Er sagt: „Das war eine arge Belastung, weil das hier dazwischenkam.“ Die Untertreibung des Jahres, fast schon norddeutsch. Es kam dazwischen.

PTBS ist ein unsichtbares Handicap, nicht wirklich greifbar für Außenstehende. Die Krankheit wird nie mehr verschwinden. Durch Psychotherapien, durch Sport, muss man lernen, die Zeichen zu deuten, wann es losgehen könnte. Lernen, damit umzugehen. Flashbacks zu haben, die man regulieren kann, so gut es geht. Wenn ein Anfall kommt, dann kommt er sofort, wenn ihn etwas triggert, Flatterband etwa, das damals benutzt wurde, um die verbrannten Leichen zu markieren, „Wenn ich das jetzt höre“, sagt Gasper, „ist schlecht“. Anfälle können jeden Tag sein oder dreimal die Woche, das ist völlig unterschiedlich und nicht voraussehbar. Bei Gasper gehen sie einher mir sehr starken Kopfschmerzen. „Man spürt jedes Mal wieder die Todesangst.“ Durch die Flut hat sich sein Zustand verschlimmert.

Seit Jahren hat Achim Gasper Therapie, Woche um Woche, wieder und wieder, die Konfrontation mit dem eigenen Trauma ist anstrengend und erfordert Willenskraft und manchmal denkt er, dass das eine Vorbereitung war, auf die Folgen der Flut, denn auch hier: Anstrengung. Willenskraft.

Das gilt für die Bürokratie. Vor allem aber für die Versicherung. Sechs Gutachten gibt es mittlerweile. Fünf kommen zu dem gleichen Schluss: Neubau. Eins plädiert für Sanierung. Es ist das der Versicherung. „Verstörend“ nennt Gasper das. Enttäuschend auch, schließlich hat er sich als Soldat der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet. Die Versicherung weigert sich die Schadenssumme anzuerkennen. Ihr Gutachter hat den Wert nur auf ein Fünftel dessen geschätzt, was die anderen Sachverständigen ermittelt haben. Das Haus ist weg, es existiert nicht mehr, aber die Versicherung geht nach wie vor davon aus, dass das Haus nur beschädigt wurde. Und weil das Land, nicht ganz zu Unrecht, argumentiert, dass die Versicherung zahlen sollte, ging es auch bis vor kurzem nicht wirklich voran. Das, immerhin, hat sich geändert. Der Opferschutzbeauftragte von Rheinland-Pfalz hat sich mittlerweile eingeschaltet, seither ist zumindest klar, das gebaut werden kann. Der Rest wird später geregelt. Nur auf den Deutschen BundeswehrVerband war von Anfang an Verlass: Über die Soldaten und Veteranen Stiftung bekam Achim Gasper schnell und unkompliziert Unterstützung.

„Mittlerweile“, sagt Gasper, sind wir mal ehrlich, „kann ich dreimal im Jahr Geburtstag feiern.“. Denn er hat nicht nur Pech gehabt. Vor allem hatte er zweimal auch wirklich Glück. Wenn das ein Computerspiel wäre und man drei Leben hätte. Gasper sagt: „Zwei sind schon weg“.

Mit Rat und Hilfe stets an Ihrer Seite!

Nehmen Sie Kontakt zu uns auf.

Alle Ansprechpartner im Überblick