Verteidigungsminister Boris Pistorius (4.v.l.) mit Bundestagsabgeordneten und Soldaten in Litauen. Foto: DBwV/Philipp Kohlhöfer

Verteidigungsminister Boris Pistorius (4.v.l.) mit Bundestagsabgeordneten und Soldaten in Litauen. Foto: DBwV/Philipp Kohlhöfer

27.12.2023
Von Philipp Kohlhöfer

Der erste Schritt zur Brigade

Kurz vor Weihnachten fährt Boris Pistorius nach Litauen, um die Roadmap für die dauerhafte Stationierung einer deutschen Brigade zu unterzeichnen. In Litauen rennt er damit offene Türen ein.

Nieselregen von vorne, Temperatur knapp über dem Gefrierpunkt, das Wetter ist nordeuropäisch schlecht, aber die Laune ist gut. Verteidigungsminister Boris Pistorius und sein litauischer Amtskollege Arvydas Anušauskas sitzen vor den Flaggen Deutschlands und Litauens im Verteidigungsministerium in Vilnius. Aufregung, Stolz, Kameras klicken, viel Presse, Printjounalisten sprechen in Handys, Militärs treten von einem Fuß auf den anderen, Fernsehfrauen pudern sich und machen Aufsager.

Und dann unterschreiben die beiden Verteidigungsminister die „Roadmap Brigade Lithuania“, ein vierseitiges Dokument, das erste Eckpfeiler festzieht zur dauerhaften Stationierung einer deutschen Kampfbrigade in Litauen. Das ist historisch, ein vielstrapaziertes Wort, aber diesmal passt es, denn die Bundeswehr war noch niemals dauerhaft außerhalb der eigenen Landesgrenzen stationiert. Die Panzerbrigade 42, ausgerüstet mit dem Leopard 2A8, moderner geht es nicht, formell in Dienst zu stellen 2025, zwei Jahre später bei voller Stärke kriegsfähig. 4800 Soldaten, das ist fast ein Drittel der regulären litauischen Armee. Aber eigentlich geht es um was ganz anders.

Das eine bedingt das andere, wenig subtil. Kommt man zum litauischen Verteidigungsministerium, hängt dort am Eingang die litauische Fahne, riesengroß, von der Decke bis zum Boden. Direkt daneben, genauso groß: die Fahne der Ukraine. Die Frage, die über ganz Litauen schwebt und dem Baltikum: Was passiert, wenn die Ukraine dem russischen Angriff nicht widerstehen kann? Das sagt so niemand, aber das liegt auf der Hand. Um was es in diesen Tagen in Litauen also eigentlich geht: Die unmittelbare Bedrohung der NATO durch das imperialistische Russland, wie immer, seit spätestens zwei Jahren.

„Wir sind bereit, NATO-Territorium zu verteidigen“, sagt Boris Pistorius. „Kein Zentimeter“ des Territoriums solle verloren werden. Applaus brandet auf nach der Unterzeichnung, die Litauer machen Selfies mit Pistorius. Man stehe jetzt an der neuen Ostflanke, hatte der noch gesagt, das kenne man, damals seien die Amerikaner da gewesen, um abzuschrecken. Die sind immer noch da, massiv in Polen. Aber weiter östlich werden es die Deutschen sein. 2024/25 wird darüber entscheiden, ob Deutschland Europa führen wird. Kann man ja auch mal sagen: Aufgrund seiner  Lage, Größe, Wirtschaftskraft und Demografie ist es das einzige Land, das das kann. Eine große Schweiz können wir nicht sein, das gibt die Geopolitik nicht mehr her. Boris Pistorius nennt das Projekt in Litauen denn auch „Leuchtturmprojekt der Zeitenwende.“

Und in Litauen triff er damit auf fruchtbaren Boden – und dankbare Menschen. Lange war in Downtown Vilnius auf dem Dach eines Hotels ein Bild von Putin montiert. „Wir sehen uns in Den Hague,“ stand darauf. An den Stadtbussen sind bis heute Solidaritätsgrüße angebracht, in vielen Läden hängt die ukrainische Fahne. Und an einem Abend sitzt ein Vater mit seinen beiden Töchtern in einer Pizzeria und eine von ihnen trägt ein Hoodie auf dem steht: „Kalifornien.“

Keine Kriegsmüdigkeit in Litauen

Anders als in Deutschland stellt sich in Litauen keine Kriegsmüdigkeit ein, die Bedrohung ist zu nahe, geografisch und zeitlich, schließlich liegt die litauische sozialistische Sowjetrepublik nur etwas über drei Jahrzehnte zurück. Niemand geht davon aus, wie selbstverständlich zum Westen zu gehören, eine kollektive NATO-Erfahrung, wie sie es in den 1980ern in Westdeutschland gab, REFORGER etwa, gibt es nicht. Und so investiert Litauen zweieinhalb Prozent seines Bruttosozialproduktes in Verteidigung. Man trinkt Gin aus England, isst Burger und in einer Bar namens „Who hit John“ sagt jemand, dass nur tote Russen gute Russen sind. Keiner trägt Jacken, auf denen „Moskau“ steht.

Die Richtung nach Westen ist klar und die Deutschen sind im Land, um das abzusichern – gemäß des Strategischen Konzepts der NATO 2022. „Die russische Föderation“ steht da, „ist die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum.“ Die NATO sucht keine Konfrontation, das steht da auch, Absatz 9, wird aber „Abschreckung und Verteidigung für alle Verbündeten deutlich stärken.“ Pistorius formuliert das nur wenig anders. Den Deutschen schlägt denn auch eine enorme Wertschätzung entgegen. Der deutsche Verteidigungsminister war zuvor beim Präsidenten, danach beim Außenminister, aber den Respekt gibt es in der gesamten Gesellschaft, das kann man leicht ausprobieren – einfach Deutsch reden irgendwo in Vilnius und schon kommt jemand und bedankt sich.

Kein Wunder. Zwar gibt Litauen viel Geld aus fürs Militär, aber das ist dennoch nur etwas mehr als eine Milliarde Euro. Die Volkswirtschaft ist klein, in Berlin wohnen sehr viel mehr Menschen als in der gesamten Baltenrepublik. Ohne die Verbündeten würde Litauen schnell fallen. Zumal das Land der Schlüsselstaat für das gesamte Baltikum ist – schließlich grenzt einerseits die russische Exklave Kaliningrad an das Land, das frühere Königsberg. Vilnius ist gerade mal 200 Kilometer von der Suwalki-Lücke entfernt. Die ist knapp einhundert Kilometer breit, im Luftraum sogar nur sechzig, und die einzige Landverbindung zwischen Polen und den drei baltischen Staaten. Es ist vermutlich die labilste Region innerhalb der NATO. Im Kriegsfall kann Nachschub über sie schätzungsweise nur anderthalb Tage organisiert werden. Auch deshalb stationierte die NATO 2016 vier Bataillone in dem Gebiet, die Amerikaner in Polen, die Briten in Estland, die Kanadier in Lettland und eben die Deutschen in Litauen. „Niemand“, steht in der NATO-Strategie, „sollte an unserer Stärke und Entschlossenheit zweifeln, jeden Zentimeter des Bündnisgebiets zu verteidigen … und uns gegen jeden Angreifer durchzusetzen“. Die NATO, steht da, bleibe ein Bollwerk der regelbasierten internationalen Ordnung.

Die Panzerbrigade 42 wird Teil deren Verteidigung sein. Sie wird sich zusammensetzen aus dem Panzerbataillon 203 aus Augustdorf in Nordrhein-Westfalen und dem Panzergrenadierbataillon 122 aus Oberviechtach in Bayern. Dritter Pfeiler wird allerdings die „enhanced Forward Presence Battlegroup“ sein, die jetzt schon da ist. Die soll auch weiterhin multinational verstärkt sein, insbesondere durch die Streitkräfte der Partnernationen Niederlande und Norwegen. Insgesamt 4800 deutsche Soldaten und Soldatinnen und 200 zivile Mitarbeiter sind 2027 dann in Litauen stationiert, plus Verbündete. Schon jetzt ist Rukla der größte Militärstützpunkt in Litauen und er wird wachsen.

Kampfpanzer, Schützenpanzer, Unterstützungsfahrzeuge, Munition, Infrastruktur: mindestens fünf Milliarden Euro, eher sieben bis acht, kostet die Aufstellung einer Brigade, dazu etwa dreißig Millionen Euro Unterhalt pro Monat. „Wir werden es bewältigen, weil wir es bewältigen müssen", sagt Pistorius im Verteidigungsministerium in Vilnius und sein litauischer Amtskollege ist sehr erfreut, das zu hören. Nur ein paar Tage zuvor hatte der Deutsche gewarnt, dass man nur fünf bis acht Jahre habe, dann könne ein Krieg mit Russland bevorstehen. Moskau habe die Rüstungsproduktion massiv gesteigert, die Drohungen gegen Moldau und Georgien, vor allem aber auch gegen die baltischen Staaten müsse man natürlich ernst nehmen: „Das ist nicht bloß Säbelrasseln.“ Pistorius sagte: „Bis dahin werden wir darauf vorbereitet sein.“

Im schlechtesten Fall, wenn die Ukraine verliert, – Wargames muss man immer spielen – , steht der Panzerbrigade 42 eine riesige kampferfahrene russische Armee gegenüber. Sollte der Kreml also wirklich versuchen das Baltikum abzuschneiden, dann wird das nur über Litauen gehen. Denkt man den Gedanken zu Ende bedeutet das: Deutschland ist vom ersten Tag an im Krieg mit Russland. Besser, billiger und ungefährlicher ist es, wenn Russland in der Ukraine gestoppt wird.

Dass das möglich ist, beweisen die Ukrainer Tag für Tag und das sieht Boris Pistorius später auch, denn der Tross macht sich dann auf Richtung Jonava. Das liegt direkt bei Rukla und dort betreiben Rheinmetall und KMW ein Joint Venture für Logistik und Instandsetzung: LDS, Lithuania Defense Services, in Betrieb seit Mai 2022. Das, was in der Ukraine kaputt geht, wird hier hin geliefert und repariert, Leopard 2A6, Marder, die Panzerhaubitze 2000, das ganze Programm. An den Panzern klebt Blut, im übertragenen Sinn, aber auf einem ist eine ukrainische Fahne gemalt, der Rest, alles, was man darüber sagen könnte, ist geheim. Das Werk geschützt.

Aber: Kein einziger der Panzer ist ausgebrannt, keine Zerstörung ist so schwerwiegend, dass die Besatzung das nicht überlebt haben könnte. Pistorius bekommt eine Extratour, alle anderen bleiben zurück und in keinem anderen Moment spürt man Zeitenwende mehr, denn der Krieg wird hier sehr greifbar. Und das ist gut, denn die Hersteller lernen durch den Beschuss. Und sie werden auch in Zukunft genug zu tun haben, schließlich liegt das deutsche Camp nur einen Katzensprung entfernt.

„Zeitenwende“, hatte der SPD- Haushälter Andreas Schwarz ein paar Wochen zuvor im Paul-Löbe-Haus in Berlin gesagt, „heißt für mich auch: Ich habe eine Verantwortung in der Welt“. Das deutsche Engagement in Baltikum läuft allerdings nicht erst seit gestern. Seit Februar 2017 haben knapp 9000 Männer und Frauen im Rahmen der enhanced Forward Presence, eFP,  ihren sechsmonatigen Dienst in Rukla und Pabrade geleistet, knapp 850 von ihnen sind zurzeit vor Ort. Die von Deutschland geführte eFP-Battlegroup hat derzeit eine Stärke von rund 1.400 Soldatinnen und Soldaten. Zwar stellen die Deutschen das Führungspersonal, darüber hinaus eine Kampfkompanie, zudem die Logistik und die sanitätsdienstliche Versorgung, die multinationale Battle Group wird aber unterstützt von Belgien und Kroatien, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen und Tschechien. Personal und Material rotieren im halbjährlichen Rhythmus, das wird sich jetzt ändern.

Seit 2022 engagiert sich Deutschland außerdem durch das Bereithalten einer „enhanced Vigilance Activities“-Brigade für Litauen. Das hat allerdings mehr politisches als militärisches Gewicht, da sich vor Ort, als forward command element, gerade mal zwölf deutsche Soldatinnen und Soldaten der Panzergrenadierbrigade 41 befinden. Die Etablierung einer Brigade ist da nur der nächste logische Schritt.

Und der kann ohne Personal nicht stattfinden. Als die deutsche Delegation im Camp eintrifft, sind gefühlt alle 850 Soldaten auf dem Camp-eigenen Weihnachtsmarkt. Es gibt Waffeln und Glühwein, Crêpes und Weihnachtsatmosphäre und an der Wand in der Einsatzküche hängen Bilder litauischer Kinder, die den Deutschen ein schönes Weihnachtsfest wünschen.  Die revanchieren sich, indem sie Geld sammeln für Geschenke.

Der DBwV wird auf die sozialen, finanziellen und familiären Rahmenbedingungen achten

Pistorius isst Waffeln, macht Selfies mit den Soldaten und redet mit allen, die das wollen. Viele wollen, die Schlange ist lang, der Minister hat Zeit. Die Roadmap ist ein Thema, aber kein besonders kontroverses. Hört man sich in der Truppe um, dann gibt es eigentlich keine zwei Meinungen: Es wird okay werden, hört man, die Litauer sind freundlich und hilfsbereit, sie freuen sich, dass die Deutschen da sind, das Land ist schön. Das wird sich einruckeln, davon sind alle überzeugt, schließlich ist das eine völlig neue Unternehmung für die Bundeswehr. Den militärischen Sinn der Brigade bestreitet schon gar niemand. Eher geht es um die Soft Skills, das, was wichtig ist für die Lebensqualität: Wie ist der Nachzug der Familie geregelt? Gibt es Kindergärten? Deutschsprachige Ärzte? Können die Kinder in eine deutschsprachige Schule gehen? Wie sieht es aus mit der Kultur? Gibt es Jobs für die Angehörigen?

„Zur Attraktivität“ wird Oberstleutnant i.G. Marcel Bohnert, stellvertretender Bundesvorsitzender des DBwV und zuständig für Auslandseinsätze, später in Berlin sagen, „zählen nicht nur unkomplizierte Pendel- und gute Wohnmöglichkeiten, sondern etwa auch Regelungen zur Arbeitszeit und zur Einsatzversorgung.“ Als Berufsverband gehe es nun darum, bei der Umsetzung der Roadmap auf die sozialen, finanziellen und familiären Rahmenbedingungen zu achten.

Politisch und militärisch allerdings scheint der Weg vorgezeichnet. Die Sicherheit der Balten wir das erhöhen. Aber unabhängig von der Brigade: Insgesamt sollten wir den Weg schneller gehen. Viel Zeit bleibt nicht.

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