Sollen wiederbeschafft werden: Krankentransportzüge. Für die Landes- und Bündnisverteidigung ist der Patiententransport über Land von essenzieller Bedeutung. Foto: Bundeswehr/Detmar Modes

19.10.2024
Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr Unterabteilung VII - Führung, Einsatz, Lagezentrum

Bisherige Erkenntnisse aus dem Krieg in der Ukraine und Ableitungen für den Sanitätsdienst der Bundeswehr

Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine hat nicht nur politische und militärische Veränderungen ausgelöst, sondern bietet dem Sanitätsdienst der Bundeswehr (SanDstBw) wichtige Einblicke. Diese Beobachtungen wurden daher zum Anlass genommen, bisherige Planungen kritisch zu überprüfen und bisher getroffene Annahmen und Rationale zu hinterfragen und auf Kriegstauglichkeit zu testen. Dabei hat sich gezeigt, dass neben vielen anderen Faktoren ein gut funktionierender Sanitätsdienst mit einer robusten und belastbaren Rettungskette von besonderer Bedeutung für die Moral, die Funktion und den Einsatzwert der Streitkräfte ist. Es lassen sich eine Vielzahl an Parallelen identifizieren, die auch den Sanitätsdienst der Bundeswehr in der Weiterentwicklung voranbringen. Gleichwohl stellen die Entwicklungen in der Ukraine keine vollumfängliche „Blaupause“ für einen möglichen künftigen Konflikt dar, auf den sich die deutschen Streitkräfte vorbereiten sollten.

Im Wesentlichen lassen sich die Beobachtungen auf neun Erkenntnislinien konzentrieren:

1. Schutzniveau des Roten Kreuzes

Ähnlich wie in den Konflikten in Syrien, Afghanistan und im Irak, entfaltet auch in diesem Konflikt das Rote Kreuz als Schutzzeichen kaum Wirkung. Au contraire, werden Einrichtungen und Fahrzeuge mit Schutzzeichen als lohnende Ziele angegriffen, um nachhaltigen materiellen und personellen Schaden zu erzeugen und die Truppe zu demotivieren.

Daher ist ein Schutz- und Mobilitätsniveau für die Sanitätskräfte zu realisieren, das dem der zu unterstützenden Truppe entspricht. Die Forderungen nach geschützten Fahrzeugen und geschützten hochmobilen Einrichtungen dienen dabei sowohl dem Schutz und der Versorgung der anvertrauten Patienten als auch des eigenen Personals. Zusätzlich ist die Resilienz des Sanitätsdienstes durch eine ausreichende personelle und materielle Hinterlegung zu steigern, um eventuelle Verluste ohne signifikante Einbußen in der medizinischen Versorgung ausgleichen zu können.

2. Ausfallraten

Mit fast einem Fünftel liegt die Zahl der Gefallenen im Ukraine Konflikt deutlich höher als die von der NATO kalkulierte Ausfallrate, welche auch als Grundlage für die deutschen Planungsrationale verwendet wurde. Dabei liegt den Ausfallraten der NATO die Annahme zu Grunde, dass in etwa gleichwertige Gegner aufeinandertreffen. Als klare Konsequenz lässt sich hieraus ableiten, dass ein nicht ausreichend dimensionierter Sanitätsdienst zu unverhältnismäßig höheren Verlusten nach Kampfhandlungen führt.

Studien zeigen, dass die Überlebenschancen eines Verwundeten erheblich sinken, wenn er nicht innerhalb der ersten Stunde einer notfallmedizinischen Behandlung zugeführt werden kann. Eine stabile Rettungskette unter Einhaltung der geforderten Zeitlinien für die Behandlung garantiert am Ende die Rettung von Menschenleben beziehungsweise Überlebensqualität. Dazu werden aber in ausreichendem Maße ausgebildetes und einsatzbereites Personal, Patiententransportmittel und Behandlungseinrichtungen für einen flexiblen Einsatz als Elemente einer Rettungskette benötigt.

3. Patiententransport und Umlaufberechnungen

Bei qualitativer und quantitativer Beleuchtung des Patiententransports zeigt sich, dass die bisher angenommene Verteilung auf die Verkehrsträger (66% landgebunden, 33% luftgebunden) im Ukraine-Krieg deutlich zu Ungunsten des Lufttransportes auf landbasierte Evakuierung verschoben werden musste. Hier kommt insbesondere dem improvisierten Schienentransportmittel besondere Bedeutung zu.

Es lässt sich bereits heute feststellen, dass sowohl in der Bundeswehr als auch bei anderen europäischen NATO-Partnern Großraumtransportmittel für die zu erwartenden hohen Patientenaufkommen fehlen. Zur Bewältigung der zu erwartenden Patientenzahlen wird eine deutlich höhere Transportkapazität als bisher vorhanden benötigt werden. Für den taktischen Verwundetentransport werden zusätzliche Großraumfahrzeuge – etwa Krankenkraftomnibusse – benötigt. Auf größeren Entfernungen kommt der schienengebundenen Verlegung mit Lazarettzügen besondere Bedeutung zu. Weitere wichtige Ableitungen, die sich über den rein militärischen Aspekt hinaus erstrecken, sind bei den Langstreckenverlegungen großer Patientenvolumina zu erwarten. Diese gelingen nur in engen Kooperationen mit multinationalen und zivilen Hilfsorganisationen, welche qualifiziertes Personal zur Begleitung und Versorgung beistellen müssten.

4. Mobilität und Flexibilität der Elemente der Rettungskette

Den Arten der Verwundungen und Verletzungen sowie den Ausdehnungen des Gefechtsfeldes geschuldet, kommt der Sanitätsausbildung für Nicht-Sanitätspersonal (Nicht-SanPers) der Streitkräfte eine wachsende Bedeutung zu. Sie sind diejenigen, die vor der qualifizierten sanitätsdienstlichen Versorgung das Leben der verwundeten Kameradinnen und Kameraden quasi „in ihren Händen halten“ und dazu befähigt werden müssen, kompetent Erste Hilfe auf dem Gefechtsfeld zu leisten. Am „scharfen Ende“ tätig zu sein, fordert neben einer hohen Qualifikation und guter Ausbildung von Ersthelfern und Sanitätspersonal auch eine umfangreiche Ausstattung mit Sanitätsmaterial (zum Beispiel Tourniquets, Bandagen und Hämostyptika für die Blutstillung an Extremitäten und Weichteilen). Die heutige hochdynamische Gefechtsführung verlangt zudem hohe Mobilität von Einrichtungen und Fahrzeugen sowie Flexibilität in Planung und Umsetzung der sanitätsdienstlichen Unterstützung.

5. Stellenwert einer Ersthelfer-qualifizierung des Nicht-SanPers

Durch Intensivierung der Ersthelfer-Ausbildung, welche innerhalb der ersten Minuten ihre Wirkung entfaltet, kann die Erhöhung der Überlebensrate von Verwundeten deutlich gesteigert werden. Am Beispiel der quasi nicht vorhandenen Ersthelfer-Befähigung in den russischen Streitkräften ist die deutlich höhere Rate an Gefallenen festzumachen, die sich unter anderem nicht unerheblich auf die Moral der Truppe auswirkt.

6. Frühe notfallchirurgische/chirurgische Erstbehandlung

Durch die von der NATO vorgegebenen Zeitlinien werden die Einsatzgrundsätze des SanDstBw maßgeblich bestimmt. Nicht erst durch die Erfahrungen aus dem Russland-Ukraine-Krieg, aber durchaus gestützt durch die Erkenntnisse dieses Konfliktes, mit einem enorm hohen Bedarf an frühen chirurgischen Interventionen, wird seitens aller etablierten westlichen Sanitätsdienste einer möglichst weit vorn zu platzierenden chirurgischen Erstbefähigung herausgehobene Bedeutung beigemessen. Der deutsche Sanitätsdienst hat sich bereits vor dem Russland-Ukraine-Krieg aus eigenen Ableitungsrationalen heraus hinsichtlich der Ausrichtung auf Landes- und Bündnisverteidigung angepasst und zusätzliche notfallchirurgische Elemente im Bereich eines Gefechtsverbandes in Form sogenannter Forward Surgical Elements (FSE) ausgeplant. Zugleich wurden die Behandlungs- und Operationskapazitäten für eine Kampfbrigade erhöht, indem zusätzliche Sanitätseinrichtungen der Behandlungsebene 2 dort platziert wurden.

7. Ressortübergreifende Gesundheitsversorgung/Drehscheibe DeutschlandEntgegen der aktuellen Lage in der Ukraine, wo viele Drittnationen Hilfe anbieten und Patienten und Flüchtlinge aufnehmen, wird Deutschland im Falle von Krise und Krieg medizinisch und sanitätsdienstlich weitgehend auf sich allein gestellt sein – so wie mutmaßlich jede andere Nation in Europa. Deutschland wird jedoch aufgrund der Drehscheiben-Funktion einerseits, seiner klinisch-medizinischen Standards andererseits eine gewichtige Bedeutung im multinationalen Kontext der nationenübergreifenden Gesundheitsversorgung beigemessen. Ebenso wird die sanitätsdienstliche Unterstützung der Streitkräfte im Inland bei einer Lage-Entwicklung hin zu einem NATO-Artikel 5-Szenario zunehmend eingeschränkter, da auch der SanDstBw Ausfälle im Rahmen von Kriegshandlungen erleiden wird und Sanitätskräfte nachgeführt werden müssen.

Die zu erbringenden Aufgaben in der „Drehscheibe Deutschland“ werden also bei fortschreitender Lage-Entwicklung zu einer gesamtstaatlichen Aufgabe, bei der der Sanitätsdienst der Bundeswehr eine koordinierende Funktion erfüllt. Darüber hinaus muss auch die medizinische Unterstützung von in Mitleidenschaft gezogener Zivilbevölkerung und von potentiellen Flüchtlingsströmen Beachtung finden. Die Zahl der Verwundeten aus Kriegshandlungen, die nach Deutschland zurückgeführt werden, wird zunehmen und die teils hybriden Kriegshandlungen werden – auf der Zeitachse vermutlich zunehmend – auch Deutschland betreffen. Dies führt neben den normalen Bedarfen der zivilen Gesundheitsversorgung zu einer erheblichen Steigerung der Patientenzahlen.

8. Die Relevanz der sanitätsdienstlichen Unterstützung für Moral und Einsatzwert von Streitkräften

Die Relevanz der sanitätsdienstlichen Unterstützung für Moral und Einsatzwert von Streitkräften wird durch die ukrainischen Streitkräfte sowie in der internationalen Wahrnehmung vielfältig beschrieben, häufig auch besonders hervorgehoben. Eine gute Sanitätsausbildung rettet Leben an der Front: ganz vorn durch Erstmaßnahmen zur Blutstillung und Lebenserhaltung, mit zunehmendem Abstand durch qualifizierte Versorgung auf allen Ebenen.

9. Ein Sanitätsdienst der Bundeswehr aus einer Hand als Grundlage für eine effektive sanitätsdienstliche Unterstützung

Im Ukraine-Krieg zeigte und zeigt sich in der Verwundetenversorgung, dass die Führung der Sanitätskräfte durch die dortigen Großverbandskommandeure, insbesondere in puncto Ausbildung, Ausrüstung und Leistungsniveau, inhomogen, dysbalanciert und schlussendlich in Teilen ineffektiv ist. Im ersten Ergebnis wechselte zumindest die sanitätsdienstliche Führung der Combat Medics zum August 2023 zum Kommando Sanitätsdienst.

Im Vergleich dazu steht der Zentrale Sanitätsdienst der Bundeswehr, der Qualifikation und Ausbildung aller verfügbaren sanitätsdienstlichen Ressourcen in einem Systemverbund aus einer Hand führt und darüber hinaus die Kohäsion mit den unterschiedlichen Organisationsbereichen der Streitkräfte sowie auch im zivil-militärischen Kontext sicherstellt. Nur diese Etablierung eines Systemverbundes aus einer Hand ermöglicht eine effektive sanitätsdienstliche Unterstützung von Streitkräften.

Zusammenfassung

Die Sanitätsdienste der NATO und insbesondere der Bundeswehr sind planerisch und konzeptionell grundsätzlich bereits auf die Unterstützung ihrer jeweiligen Streitkräfte in einem konventionellen Kriegs-Szenario ausgerichtet. Gleichwohl besteht derzeit ein Ungleichgewicht in der Streitkräfte-Entwicklung zu Ungunsten der sogenannten „Enabler und Supporter“ – wozu neben Logistik und Führungsunterstützung auch der Sanitätsdienst gehört. Hier gilt es dringend, die notwendigen Ressourcen zu hinterlegen. Streitkräfte können nur als ausgewogenes Gesamtsystem unter Berücksichtigung aller Fähigkeitsträger effektiv funktionieren. Von den Erkenntnissen des Russland-Ukraine-Konfliktes abgeleiteten Bedarfe für den Sanitätsdienst müssen also nicht nur beziffert, sondern auch dringend realisiert werden, um eine sanitätsdienstliche Unterstützung in einem Systemverbund aus einer Hand zu ermöglichen, die Menschen rettet und die Kampfkraft und -moral der Truppe erhält.

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