Am Abend des 9. November 1989 teilte SED-Politbüromitglied Schabowski mit, dass alle DDR-Grenzen in die Bundesrepublik und nach Westberlin für DDR-Bürger geöffnet werden. Foto: picture alliance/Wolfgang Kumm

Am Abend des 9. November 1989 teilte SED-Politbüromitglied Schabowski mit, dass alle DDR-Grenzen in die Bundesrepublik und nach Westberlin für DDR-Bürger geöffnet werden. Foto: picture alliance/Wolfgang Kumm

09.11.2022
Von Harald Bergsdorf

Abscheulichstes Symbol für das Scheitern des Kommunismus

Jedes Jahr am 9. November gedenkt die gesamtdeutsche Bundesrepublik des Mauerfalles 1989. Bis heute tragen viele Menschen noch die damaligen Fernsehbilder in sich: Bilder von zurückweichenden Grenzern; Bilder von fallenden Mauerteilen; Bilder von jubelnden und tanzenden Menschen; Bilder von Freudentränen; Bilder von langen Trabbi-Schlangen auf dem Weg nach Westen. Bei aller Freude über den Mauerfall bleibt es wichtig, weiterhin sowohl über das mörderische Bauwerk als auch die SED-Diktatur als solche aufzuklären.

SED betrieb Diktatur und Unrechtsstaat

Dass die SED zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortet und in der DDR mithilfe vor allem der Stasi einen Unrechtsstaat betrieben hat, bezweifeln heute lediglich Schönredner und -färber der SED-Diktatur. 1953 ließ die SED, die als Arbeiterpartei auftrat, auf unschuldige Arbeiter schießen – der erste Volksaufstand im Ostblock. Damals töteten sogenannte „Antifaschisten“ wehrlose Menschen, um die zweite deutsche Diktatur zu sichern. Über 50 Personen, darunter viele Jugendliche, ließ die SED – unterstützt von der Sowjetarmee – damals erschießen, totprügeln oder von Panzern überrollen. Dennoch nannte die SED den Aufstand einen „faschistischen Putsch“ von „Klassenfeinden“ aus dem Westen.

Acht Jahre später, 1961, errichtete die SED die mörderische Mauer. Viele „Republikflüchtlinge“ wurden von hinten erschossen. Im Widerspruch zur SED-Propaganda war die Mauer kein „antifaschistischer Schutzwall“. Denn die Maschinengewehre zielten nach innen auf DDR-Bürger. Bis zu ihrem Ende fungierte die Mauer primär als Schutzwall für die SED und ihre „Diktatur des Proletariats“, die faktisch eine Diktatur des Politbüros über das Proletariat war. Der SED-Schießbefehl an Mauer und Stacheldraht basierte auf purer Menschenverachtung. Über die Mauer hatte John F. Kennedy bemerkt: „Die Demokratie ist nicht perfekt. Aber wir hatten es nie nötig, eine Mauer zu bauen, um die Menschen an der Abwanderung zu hindern und bei uns zu halten?…Die Mauer ist das abscheulichste und stärkste Zeichen für das Versagen des kommunistischen Systems.“

SED-Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen

Insgesamt verantwortet die SED hunderte von Toten an Mauer und Stacheldraht: Erschossene, ertrunkene und zerfetzte Ausreisewillige, die im SED-Jargon „Grenzbrecher“ hießen. Noch im Februar 1989 wurde Chris Gueffroy, damals 21 Jahre alt, an der innerdeutschen Grenze erschossen, weil er von Deutschland nach Deutschland wollte. Die vier daran beteiligten Grenzer erhielten für ihre Todesschüsse auch noch Prämien. Nach der Niederschlagung des studentischen Aufstandes in Peking auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ mit vielen Todesopfern lobte die SED-Führung noch im Sommer 1989 demonstrativ und drohend die chinesische Parteiführung.

Darüber hinaus trägt die SED nicht nur die Verantwortung für Zwangsadoptionen von Kindern andersdenkender Eltern, sondern auch für eine sechsstellige Zahl an politischen Gefangenen in der DDR – inklusive Isolationsfolter in dunklen, feuchtkalten Haftzellen und andere Arten von Psychoterror. Zu den besonders perfiden MfS-Methoden gehörte es, über einzelne Dissidenten das Gerücht zu verbreiten, sie arbeiteten für die Stasi. Das Ziel dessen bestand darin, in oppositionellen Kreisen Vertrauen zu zerstören – nicht immer ohne Erfolg.

In jeweils changierender Intensität unterdrückte die SED bis 1989 sowohl Meinungsfreiheit und Opposition als auch Juden, Christen und Kulturschaffende. Eklatant war auch der geistige Mangel zum Beispiel an westlicher Literatur, die es oft, wenn überhaupt, nur unter der Ladentheke gab. Umso höher sind Mut und Widerspruch gegen das Regime einzuschätzen, das niemals eine demokratische Republik war. Vielmehr waren die Menschen in der DDR aus SED-Sicht eher Untertanen als Bürger. Lediglich Sowjetmacht, Stasi und Schießbefehl verhinderten einen höheren Anstieg von Abwanderung und Protest.

SED verantwortlich für Miss- und Mangelwirtschaft

Außerdem litt die Mehrheit in der DDR unter der Knappheit vieler Güter. Die meisten Leidtragenden der SED-Miss- und Mangelwirtschaft waren Arbeiter. Damit unterminierte die selbst erklärte Arbeiterpartei ihre soziale Rhetorik. Letztlich lebten Normalbürger in der Bundesrepublik wesentlich weiter entfernt von „Verelendung“ im Sinne von Marx als die Mehrheit in der DDR. Im Ergebnis errichtete die SED in der DDR eine neue „Klassengesellschaft“, die bei der Zuteilung von Lebenschancen zwischen systemnahen und systemfernen Menschen unterschied.

Letztlich hinderte die SED zahlreiche Menschen daran, ihre Potenziale zu entfalten. Deshalb wollten viele kreative Köpfe das Land verlassen oder verkrochen sich in die innere Emigration. Missliebige Bürger ließ die SED, um Druck aus dem Kessel zu nehmen und Kasse zu machen, gegen harte Währung in den Westen ausreisen – ein Gipfel des SED-Materialismus und der SED-Profitgier.

Soziale SED-Rhetorik zwischen Fiktionen und Fakten

Zwar waren in der DDR zum Beispiel die Mietpreise insgesamt deutlich niedriger als heute, aber deswegen meist auch die Wohnqualität. Ganze historische Altstädte, etwa das heute wunderbar sanierte Erfurter Andreasviertel, verfielen nach dem Motto: „Ruinen schaffen ohne Waffen“. Bis 1989 verharrten auch die meisten DDR-Betriebe in desolatem Zustand mit verschlissenen und veralteten Maschinenparks. Das gilt auch für viele Bauten und Verkehrsinfrastruktur. Ohne Sanierung schienen die meisten Unternehmen auf dem Weltmarkt kaum konkurrenzfähig. Deren Produkte fanden im Wettbewerb kaum noch Kunden und Käufer.

Unter oft sehr widrigen Bedingungen erbrachten viele Fachleute in der DDR dennoch, unter anderem durch viel Improvisationskunst, bemerkenswerte Leistungen, darunter viele Frauen. Bei identischen Qualifikationen waren sie freilich viel seltener in wirtschaftlichen, behördlichen oder politischen Führungsgremien vertreten als Männer, unter anderem im SED-Politbüro. Im Widerspruch zu Lobliedern auf die angebliche Frauenemanzipation in der DDR arbeiteten viel mehr Frauen als Männer im Geringverdienersektor. Vor allem mussten gerade Frauen in der DDR üblicherweise die Doppellast aus Erwerbs- und Familienarbeit schultern.Ablenkungsmanöver der SEDMit dem Ziel, über das von ihr verursachte Versagen hinwegzutäuschen, arbeitete die SED – gemäß Lenins Pressestrategie – mit breit angelegter Agitation und Propaganda durch die von ihr gelenkten Medien. Die SED betrieb echte „Systemmedien“.

Damit versuchte sie, den Lehrsatz von Marx, wonach das „Sein das Bewusstsein bestimmt“, um 180 Grad umzukehren. Doch scheitere die SED daran, das wichtigste Medium, das Fernsehen, vollständig zu kontrollieren und zu steuern. Tatsächlich nutzte ein hoher Anteil der Menschen in der DDR eher das West- als das Ostfernsehen und entzog sich damit der stetigen „Rotlichtbestrahlung“ durch die SED. Mehrheit der DDR-Bürger eher Opfer als TäterTrotz aller Verbrechen weigern sich Anwälte und Advokaten des SED-Regimes bis heute, die zweite deutsche Diktatur einen Unrechtsstaat zu nennen, unter dem die übergroße Mehrheit der DDR-Normalbürger litt, die nicht SED-Mitglied war. Gerade deshalb befand eine Resolution des Deutschen Bundestages bereits 1994: „Die politisch-moralische Verurteilung der SED-Diktatur bedeutet keine Verurteilung der ihr unterworfenen Menschen, im Gegenteil. Die Deutschen in der SBZ/DDR trugen den schwereren Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte.“

Dr. phil. Harald Bergsdorf ist Politikwissenschaftler, Zeithistoriker und Buchautor aus Bonn.

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