Ein niederländischer Schützenpanzer CV90 der Grenadiertruppe überquert den Fluss Rena mit der Amphibie M3 durch die Schwimmbrückenkompanie des Pionierbataillons 901 aus Minden bei der Nato-Großübung Trident Juncture 2018. Foto: Bundeswehr/Marco Dorow

Ein niederländischer Schützenpanzer CV90 der Grenadiertruppe überquert den Fluss Rena mit der Amphibie M3 durch die Schwimmbrückenkompanie des Pionierbataillons 901 aus Minden bei der Nato-Großübung Trident Juncture 2018. Foto: Bundeswehr/Marco Dorow

04.04.2019
Heinrich Brauß

70 Jahre Nato – die Allianz am Scheideweg?

Die Nato begeht ihr 70-jähriges Bestehen – Anlass, ihre überragende Rolle für die Sicherheit Deutschlands und ihren historischen Erfolg zu würdigen. Schutz des freien Westens im Kalten Krieg, dessen Ende Deutschland zur Einheit und ganz Europa zur Freiheit verhalf; Öffnung für neue Mitglieder und Partner, die dem Osten Europas Stabilität brachte; Kampf gegen Diktatoren und Terroristen in Krisenregionen „out of area“; und nun Schutz ihrer Mitglieder gegen alte und neue Gefahren – eine Bilanz, die keine andere Organisation vorweisen kann und die in die Zukunft trägt.

Gleichwohl sehen viele die Nato in einer Krise. Die Gefahr kommt von innen. Die wiederholte öffentliche Kritik Präsident Trumps an europäischen Verbündeten wegen ungenügender Verteidigungsausgaben und seine Vorbehalte gegen den Wert der Nato für die USA haben die Verbündeten verunsichert. Die Meinung europäischer Politiker wiederum, Europa solle strategisch autonom werden, wird in Washington als Abkehr von Amerika verstanden und von etlichen europäischen Nationen nicht geteilt. Dies alles hat dem Zusammenhalt der Nato geschadet.

Die Missklänge dürfen aber nicht verdecken, was die Allianz seit 2014 leistet, um den neuen äußeren Bedrohungen zu begegnen. Im Süden Europas führen wachsende Instabilität, Kriege und Terrorismus zu Migrationsbewegungen, die Europas Stabilität bedrohen. Im Osten stellt Russlands Konfliktstrategie die größte geopolitische Bedrohung dar. Beiden Gefahren begegnet die Nato mit einer Doppelstrategie: Stärkung von Abschreckung und Verteidigung und Projektion von Stabilität durch Unterstützung von Partnernationen darin, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen.

Geschlossenheit wahren und ihre Handlungsfreiheit behalten

Russlands kontinuierliche Desinformation, Cyber-Angriffe und konventionelle und nukleare Aufrüstung sollen unsere Gesellschaften verunsichern und destabilisieren, Regierungen einschüchtern und die Nato und EU unterminieren. Der Bruch des INF-Vertrags und die Aufstellung neuer nuklearer Mittelstreckenraketen sind der jüngste Ausdruck dieser Strategie. Sie können nahezu jedes Ziel in Europa erreichen, Hauptstädte und zentrale zivile und militärische Einrichtungen, nicht aber die USA. Der Zweck ist klar: die Verteidigungsfähigkeit der Nato zu bedrohen, die Sicherheit Europas vom Potenzial der USA abzukoppeln und somit den Verteidigungswillen der Alliierten womöglich entscheidend zu schwächen. In der Nato werden nun Optionen analysiert, wie man die russische Drohung neu­tralisieren kann. Keine Option sollte von vornherein ausgeschlossen werden. Die Nato muss ihre Geschlossenheit wahren und ihre Handlungsfreiheit behalten. Nur dann wird Moskau zu Verhandlungen bereit sein. In Teilen der deutschen Politik scheint indes die Furcht vor einer angemessenen Reaktion der Nato, die es noch gar nicht gibt, größer zu sein als die vor russischen Raketen, die schon jetzt Berlin treffen können.

Insgesamt muss die Allianz fähig sein, auf mehrere unterschiedliche Bedrohungen aus verschiedenen Regionen rasch reagieren zu können – im Norden, im Atlantik, im Ostsee- und Schwarzmeerraum, in der Mittelmeerregion und im Mittleren Osten. Dies erfordert ein Höchstmaß an Reaktionsfähigkeit, Flexibilität und Einsatzbereitschaft, um mit den richtigen Kräften zur rechten Zeit am richtigen Ort zu sein. Seit 2014 setzt die Nato diesen Imperativ ins Werk. Einige Beispiele: Die Nato Response Force wurde auf rund 40 000 Mann verdreifacht. Ihre Schnelle Eingreiftruppe, in diesem Jahr von Deutschland geführt, ist mit Teilen in wenigen Tagen verfügbar. Die multinationalen Battlegroups in den Baltischen Staaten und Polen signalisieren Moskau, dass Russland selbst bei einem begrenzten Angriff, um einen „Fait accompli“ zu schaffen, sofort mit der Nato als Ganzer in Konflikt geriete, einschließlich der drei Nuklearmächte – Abschreckung in nuce. Die USA haben ihr Engagement für die Sicherheit Europas deutlich erhöht. Allein in diesem Jahr wenden sie 6,5 Milliarden Dollar auf für eine gepanzerte Brigade in Polen, für Ausrüstung, Übungen und Infrastruktur.

Bundeswehr muss sehr rasch wieder voll einsatzfähig werden

Und die Reaktionsfähigkeit der Nato wird weiter erhöht: Aufklärung und Alarmierung werden verstärkt, die Entscheidungsverfahren beschleunigt. Die Kommandostruktur wird wieder befähigt, Verteidigungsoperationen mit Großverbänden unter Cyber-Bedrohung zu führen. Cyber-Abwehr- und Operationsfähigkeit werden weiter verstärkt. Mit der Nato Readiness Initiative 4-30 wird bis 2020 die Einsatzbereitschaft von 30 Bataillonen, 30 Kampfflugzeugstaffeln und 30 Kriegsschiffen so erhöht, dass sie in maximal 30 Tagen im Einsatzraum sein können. Sie werden zu hocheinsatzbereiten Brigaden, Geschwadern und Einsatzgruppen weiterentwickelt. Nato und EU arbeiten zusammen, um die Bedingungen für eine rasche Verlegung von Truppen zu schaffen. Die Europäische Kommission stellt viele Milliarden Euro für die Verbesserung von Infrastruktur bereit und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur transatlantischen Lastenteilung.

Zusammen sollen alle diese Maßnahmen in der Nato wieder eine „culture of readiness“ schaffen. Natürlich erfordern sie enorme Ressourcen. Seit 2014 haben Europäer und Kanada denn auch 88,5 Milliarden Dollar mehr für Verteidigung ausgegeben. Aber es bleibt unumgänglich, dass alle Verbündeten bis 2024 das Versprechen der Staats- und Regierungschefs einlösen, zwei Prozent des BIP für Verteidigung aufzuwenden. Nicht, weil Trump dies fordert, sondern weil unsere Sicherheit, die Einsatzbereitschaft unserer Streitkräfte und die Verlässlichkeit und Solidarität unter Verbündeten dies verlangen. Warum sollen Balten, Polen, Rumänen und andere das Ziel erfüllen, das reiche Deutschland aber nicht? Denn die Bundeswehr muss sehr rasch wieder voll einsatzfähig werden. Als zentrale europäische Macht tragen wir eine besondere Verantwortung für die Funktionstüchtigkeit von Nato und EU.

Die Präsenz der USA und ihre erweiterte nukleare Abschreckung bleiben für Europas Sicherheit unersetzlich. Aber um Weltmacht zu bleiben, brauchen die USA Europa als Verbündeten. Europa ist die Basis für amerikanische Machtprojektion in den Nahen und Mittleren Osten – ein strategischer Vorteil für die USA zu geringen Kosten. Beide sehen sich zwei strategischen Herausforderungen gegenüber: Russland und China. Die USA sehen in dem gewaltigen Potenzial Chinas das größte Risiko und werden sich darauf konzentrieren. Die Europäer müssen sich darauf einstellen, viel mehr für Abschreckung und Verteidigung in Europa zu tun und zugleich die USA anderswo zu unterstützen. Die künftige europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion muss den europäischen Pfeiler der Nato stärken. Der 70ste Jahrestag öffnet also den Blick auf die Zukunft der Allianz: eine neue amerikanisch-europäische Übereinkunft von strategischer Reichweite. Von Deutschland werden Weitblick, Engagement und Führung erwartet, gerade auch in den USA.

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