60 Jahre Bundeswehr: Anpassungsfähigkeit als Erfolgsrezept
Die Beschaffung von Hunderttausenden Haarnetzen. Einsätze, die länger dauern als die beiden Weltkriege zusammen. Und vielleicht eine Generalinspekteurin im Jahr 2030: Einblicke in 60 Jahre Geschichte der Bundeswehr und die mögliche Zukunft der Streitkräfte gewannen die Teilnehmer des „Zeitzeugenforums“.
Just zum Geburtstag der Bundeswehr hatten das Bildungswerk des DBwV und das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) zur Reise in die Vergangenheit und zum Blick nach vorn in ein Berliner Hotel geladen.
Wissenschaftler führten am Beginn der drei Gesprächsrunden, die sich der Historie widmeten, in die Ereignisse der jeweiligen Epochen ein. Oliver Bange skizzierte die schwierigen Gründungs- und Aufbaujahre. Dabei erfuhren die Teilnehmer etwa, dass der Bedarf an Haarnetzen nach dem legendären Erlass groß war: 740.000 Stück wurden geordert.
Bange beschrieb den Wandel im Selbstverständnis, der die lange Periode des Kalten Kriegs kennzeichnete: Bildungsreform, die Bestellung eines Wehrbeauftragten, die Innere Führung, das Auftreten als sozialer Arbeitgeber. Er betonte, dass die Existenz der Bundeswehr von der übergroßen Mehrheit nie in Frage gestellt worden sei, auch wenn in der einen oder anderen Krise die Angst vor dem Krieg präsent gewesen sei. Sein Fazit: „Die Erfolgsgeschichte der Bundeswehr ist ihre Anpassungsfähigkeit. Sie ist eine Armee der Demokratie und gekennzeichnet durch ihre Fähigkeit, gesellschaftlichen Wandel anzunehmen, aufzunehmen und umzusetzen.“
Die Zeitzeugen des Kalten Krieges berichteten anschaulich aus den frühen Jahren. General a.D. Helge Hansen wunderte sich über die damalige Diskrepanz zwischen der Realität und der öffentlichen Wahrnehmung. „Die Rede war immer von den Soldaten für den Frieden, obwohl es um Vorbereitung für den Krieg ging.“
Staatssekretär a.D. Walther Stützle würdigte noch einmal die Rolle Helmut Schmidts. Der habe wohl die gründlichste Diagnose überhaupt zum Zustand der Streitkräfte gestellt. Ergebnisse seien das Weißbuch von 1970 gewesen, aber vor allem die Bildungsreform und die Einsetzung der Wehrstrukturkommission. „Es lohnt noch heute, einen Blick in deren Arbeitsergebnisse zu werfen. Da konnte man schon damals nachlesen, dass eine Freiwilligenarmee teurer und gesellschaftspolitisch problematischer ist als eine Wehrpflichtigenarmee.“
Nina Leonhard war es vorbehalten, aus wissenschaftlicher Sicht die „Armee der Einheit“ zu beleuchten. Im kollektiven Gedächtnis sei vor allem haften geblieben, dass 10.800 frühere NVA-Soldaten in die Bundeswehr übernommen worden seien. Die Bundeswehr sei nach einem Zitat des früheren Generalinspekteurs Harald Kujat der Schrittmacher gewesen. Insofern gelte sie als „einzig legitime deutsche Armee seit 1945“.
Oberstleutnant Andreas Winkler, früherer NVA-Soldat, schilderte, wie er die Tage der Wende erlebt hat. Er habe sich natürlich vor allem die Frage gestellt, wie es mit ihm weitergehe. Ob er den Anforderungen gerecht werden könne, nachdem er in eine Armee mit völlig anderen Strukturen und einer anderen Kultur gewechselt sei. Doch seine Befürchtungen seien schnell zerstreut gewesen: Winkler erinnerte an die Ansprache von Jörg Schönbohm vom Bundeswehrkommando Ost: „Wir kommen nicht als Sieger zu Besiegten, sondern als Deutsche zu Deutschen.“
Oberst a.D. Bernhard Gertz, langjähriger DBwV-Vorsitzender, betonte, dass im BMVg durchaus unterschiedliche Auffassungen darüber herrschten, wie man mit den Menschen in der NVA umgehen solle. Als Justitiar des BundeswehrVerbands habe er es als seine Aufgabe angesehen, sich auch diejenigen nicht als Verlierer der Einheit fühlen zu lassen, die nicht in die Bundeswehr übernommen wurden. Deswegen sei der Verband auf die früheren NVA-Soldaten zugegangen und habe ihnen das Angebot gemacht, dem DBwV beizutreten.
Oberstleutnant Rudolf Schlaffer warf einen Blick auf die Ereignisse, die die Bundeswehr zur Einsatzarmee machten. Demokratie und Liberalität hätten sich nach 1990 eben nicht global durchgesetzt. Deswegen habe sich die Rolle der Bundeswehr geändert. Meilensteine seien das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu „out-of-area“-Einsätzen von 1994 und der Einsatz im Kosovo 1999 gewesen.
Minister a.D. Franz Josef Jung hob noch einmal das Konzept der vernetzten Sicherheit hervor, das als Strategie im Weißbuch 2006 festgeschrieben wurde. Der damalige US-Außenminister Donald Rumsfeld habe ihm dazu verständnislos gesagt: „Da müssen Sie doch andere Ministerien fragen. Das kann doch nicht richtig sein.“ Aber nur mit Entwicklung könne man das Vertrauen der Bevölkerung in den Einsatzländern gewinnen. Jung skizzierte auch die erschütternden Momente, als Tod und Verwundung bittere Realität wurden. Die trauernden Angehörigen am Sarg der Gefallenen hätten ihn damals sehr bewegt.
Der frühere Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan betonte, dass sich die Bundeswehr schon unter der Führung von Minister Volker Rühe gründlich verändert habe. „Das hat nur keiner mitbekommen damals.“ Der General a.D. brach eine Lanze für die Bundeswehr: „Es geht leider unter, wie sich die Bundeswehr in einem Afghanistan-Einsatz bewährt hat, der länger als Erster und Zweiter Weltkrieg zusammen gedauert hat.“ Die Soldaten seien loyal, obwohl das Parlament sie in einen Einsatz geschickt habe, der von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werde.
Oberfeldarzt Heike Zielonka, sechs Mal im Einsatz, davon fünf Mal als Kompaniechefin, beschrieb plastisch die großen Belastungen für die Familie. Sie zeigte zudem auf, wie sehr die Soldaten unter planerischer Unsicherheit litten. So habe sie einmal erst am Abflugtag erfahren, dass sie nicht in den Einsatz gehe. Ein anderes Mal habe sie zwei Tage vorher erfahren, dass sie nach Kundus müsse.
Zum Schluss gab es den Ausblick auf die Bundeswehr 2020. Wer wäre dafür besser geeignet als DBwV-Chef Oberstleutnant André Wüstner, unter dessen Regie der Verband die gleichnamige Agenda entwickelt hat? Er unterstrich, dass das Problembewusstsein für sicherheitspolitische Herausforderungen da sei und inzwischen auch die Bevölkerung erfasst habe. Jetzt müssten die Konsequenzen gezogen werden, um die materiellen und personellen Lücken zu schließen. „Aber der Überbau muss politisch vorgegeben werden.“ Und da sei er nicht so optimistisch. „Dieser Handlungsbedarf spielt auf den Parteitagen kaum eine Rolle.“
Auch der ausgewiesene Verteidigungsexperte Winfried Nachtwei warf den Blick auf den gestiegenen Stellenwert der Außen- und Sicherheitspolitik. „Ich habe Zweifel, ob diese Herausforderungen mit den bestehenden Kapazitäten zu bewältigen sind.“
Der Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels beleuchtete konkret das Idealmodell Bundeswehr 2020: Vollausstattung, ein Haushalt von 1,2 Prozent des Sozialprodukts. So könne es aussehen. „Und 2030 wird eine Generalinspekteurin dem Minister melden, dass der Eurofighter voll einsatzfähig ist“, schmunzelte der Politiker.
Am Schluss stellte Fernsehjournalist Christian Thiels das Buch „Die Bundeswehr 1955 bis 2015. Sicherheitspolitik und Streitkräfte in der Demokratie. Analysen, Bilder und Übersichten” von Rudolf Schlaffer und Marina Sandig vor. Dazu war auch die Ministerin erschienen, die in einer kurzen Ansprache unter anderem die besondere Haltung der Bundeswehr in den Einsatzgebieten lobte. Sie sei vom Respekt geprägt, den die Soldaten den Menschen dort zollten, sagte Ursula von der Leyen.