Was bedeutet die türkische Syrien-Offensive für Deutschland?
Die türkische Offensive in Syrien hat begonnen. Sie löst auch in Deutschland Befürchtungen aus. Ist mit einer neuen Fluchtbewegung nach Europa zu rechnen? Wie reagieren die Kurden in Deutschland? Und wächst im Zuge der Offensive die Gefahr von IS-Anschlägen?
Berlin - Trotz aller Warnungen von Nato-Verbündeten hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seine Ankündigung wahr gemacht: Am Mittwochnachmittag (9. Oktober 2019) erklärte er auf Twitter den Beginn der Militäroffensive in Nordsyrien zur Bekämpfung der kurdischen YPG-Miliz, die von der Türkei als Terrororganisation angesehen wird. Der Angriff könnte weit über die Region hinaus Wirkung zeigen - auch in Deutschland.
Wie hat die Bundesregierung auf den Angriff reagiert?
Eine der ersten internationalen Reaktionen kam von Außenminister Heiko Maas, der den Angriff «auf das Schärfste» verurteilte. «Die Türkei nimmt damit in Kauf, die Region weiter zu destabilisieren und riskiert ein Wiedererstarken des IS», sagte der SPD-Politiker. Es drohe nun eine weitere humanitäre Katastrophe sowie eine neue Fluchtbewegung. «Wir rufen die Türkei dazu auf, ihre Offensive zu beenden und ihre Sicherheitsinteressen auf friedlichem Weg zu verfolgen», sagte Maas.
Kommen jetzt tatsächlich mehr Flüchtlinge aus Syrien nach Europa?
Dass eine neue Fluchtbewegung ausgelöst wird, scheint sicher. Nur ist bislang nicht klar, wo die vor einmarschierenden Truppen flüchtenden Menschen Zuflucht finden können. Kurzfristig könnte sich ein Teil der vorwiegend kurdischen Bevölkerung in den Nordirak begeben. Sollte die Türkei ihre Heimat dauerhaft besetzen, dürfte zumindest ein Teil dieser Menschen mittelfristig versuchen, nach Europa zu gelangen. Dass umgekehrt syrische Flüchtlinge aus Deutschland in der von der Türkei vorgesehenen «Sicherheitszone» in Nordsyrien angesiedelt werden könnten, gilt dagegen als wenig wahrscheinlich. Denn die türkische Regierung will dort vor allem Syrer ansiedeln, die bei ihnen im Land Schutz gefunden haben.
Ist hierzulande mit Anschlägen zu rechnen?
Die Sicherheitsbehörden halten Anschläge militanter kurdischer Gruppen auf Geschäfte, Vereine, Moscheen und andere Einrichtungen türkischer Migranten in Deutschland für möglich. In diesem Jahr waren mehrere Kurden zu Haftstrafen verurteilt worden, die nach der türkischen Militäroffensive im nordsyrischen Afrin Anfang 2018 solche Anschläge verübt hatten.
Und was ist mit der Gefahr durch den IS?
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die von den Kurden gefangen gehalten werden, die Kriegswirren zur Flucht nutzen und sich neu formieren. Darunter sind auch deutsche Staatsbürger. Eine Gelegenheit zur Flucht könnte sich auch für die IS-Frauen und ihre Kinder ergeben, die in den syrischen Lagern Roj und Al-Hol leben. Die Kurden und ihre bisherige Schutzmacht USA haben Deutschland und andere Staaten mehrfach aufgefordert, ihre Staatsangehörigen zurückzuholen. Deutschland verwies bisher auf teilweise noch ungeklärte Identitäten und mögliche Risiken für die deutsche Bevölkerung. Organisiert wurde vom Auswärtigen Amt nur die Ausreise einiger Kinder. Nach Angaben der Bundesregierung waren Ende September 111 aus Deutschland ausgereiste Islamisten in Syrien in Haft.
Kann die Bundeswehr in die türkische Operation hineingezogen werden?
Die Bundeswehr ist in Syrien nicht mit Bodentruppen im Einsatz. Die Luftwaffe überfliegt das Kriegsgebiet aber mit Aufklärungsflugzeugen, die Stellungen oder Verstecke der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) suchen. Die Ergebnisse dürfen nur für den Kampf der internationalen Anti-IS-Koalition gegen die Extremisten verwendet werden. Um das sicherzustellen, gibt es einen sogenannten Red-Card-Holder, der die rote Karte zückt, wenn Aufträge an die Luftwaffe oder die Verwendung des Materials gegen das deutsche Mandat verstoßen. Damit soll beispielsweise verhindert werden, dass sich das türkische Militär aus deutschen Quellen Erkenntnisse über kurdische Stellungen verschafft.
Wird der Anti-IS-Einsatz der Bundeswehr trotzdem verlängert?
Das Bundeskabinett hat das bereits beschlossen. Das letzte Wort hat aber der Bundestag, der noch im Oktober entscheidet. Bisher hat aus den Regierungsfraktionen noch niemand die geplante Verlängerung in Frage gestellt. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat erst am Dienstag bei einem Besuch in Mali betont, dass sie den Ausbildungseinsatz für Kurden im Nordirak nun sogar für noch wichtiger halte. Die Stationierung deutscher «Tornado»-Aufklärungsjets in Jordanien und der Einsatz von Tankflugzeugen für die Anti-IS-Koalition soll aber gemäß Kabinettsentscheidung nur noch bis zum 31. März 2020 laufen.
Was bedeutet die Offensive für die deutsch-türkischen Beziehungen?
Sie werden nach einer Entspannungsphase seit Anfang vergangenen Jahres auf eine neue, schwere Belastungsprobe gestellt. Die Reaktionen der Bundesregierung sind schon jetzt deutlich schärfer als bei der letzten Syrien-Invasion der Türkei in der Region Afrin.