Eine Vitrine voller Erinnerungen: Andenken an seine Einsätze hat Militärdekan Bernd F. Schaller in seinem Büro. Foto: DBwV/Schmidt

Eine Vitrine voller Erinnerungen: Andenken an seine Einsätze hat Militärdekan Bernd F. Schaller in seinem Büro. Foto: DBwV/Schmidt

30.03.2020
Amina Vieth

Karfreitagsgefecht: „Wir wurden zur Schicksalsgemeinschaft“

Berlin. Einfach da sein, einfach zuhören – was so simpel klingt, kann eine große Stütze und Hilfe sein in schwierigen, emotional fordernden Situationen. Wie wichtig das ist, weiß Militärdekan Bernd F. Schaller mit Sitz in der Berliner Julius-Leber-Kaserne. Er war als Militärpfarrer vor Ort in Kundus, als Soldaten beim Karfreitagsgefecht fielen und verwundet wurden. Tod und Leid kannte er bereits aus seiner Zeit als Rettungssanitäter und Notfallseelsorger. Der Einsatz und dieses tragische Ereignis jedoch wirkten auf eine andere Art und Weise auf ihn – und auf seinen Blick auf Ostern.

Der gebürtige Augsburger ist als sogenannter „dritter Mann“ 14 Jahre lang ehrenamtlich beim Rettungsdienst der Malteser mitgefahren, zuvor hatte er eine Sanitäterausbildung absolviert. Er packte dort mit an, wo Hilfe gebraucht wurde. „Dort bekommt man schon viel mit. Man weiß nie, was einen erwartet, wenn man aus dem Auto steigt.“ Als er dann Pfarrer geworden war und eine Pfarrei übernahm, fungierte er auch als Feuerwehr-Seelsorger. 2008 führte ihn sein Weg dann zur Militärseelsorge. Kundus im Jahr 2010 war sein erster Auslandseinsatz – und prägend.

Freitags war der "Base Day"

„Ein Einsatz verändert einen. Die Kameradschaft, von der man sonst nur hört, erlebt man selbst“, berichtet Schaller mit einem Lächeln. Er erinnere sich noch gut an den Zusammenhalt unter den Soldatinnen und Soldaten. In der „Gottesburg“, wie die aus Containern provisorisch errichte Kapelle und Rückzugsraum genannt wurden, seien alle willkommen gewesen. Gemeinsam mit dem evangelischen Seelsorger wechselte er sich ab bei den Gottesdiensten ab, einiges machten sie zusammen. In der Vorbereitungszeit und Übergangszeit wurden bereits die ersten Kontakte geknüpft.

Freitags war der „Base Day“. „Die Truppenküche hatte zu, alles fing etwas später, erst gegen Mittag an. Wir boten immer freitags um 10 Uhr ein Bibelfrühstück an. Die Soldaten bekommen viel aus der Heimat in den Einsatz geschickt, auch Lebensmittel, die wurden geteilt. Das war immer sehr schön.“ So war es auch am 2. April 2010. Die Soldaten saßen zusammen, aßen zusammen. Ein „Bibelimpuls“, wie Schaller sagt, gehörte ebenfalls dazu. Erstmals verteilte er dafür ein Meditationsbild, über das man dann sprach. „Es zeigte eine Figur, einen Mann, vor einem großen Fragezeichen“, berichtet der Geistliche. Vielfach gebe es im Leben Fragezeichen, warum Dinge geschehen beispielsweise. Welche Tragweite diese Frage noch haben sollte, ahnte niemand.

"Wir brauchen Sie. Aber nicht erst in einer halben Stunde"

Während außerhalb des Lagers bereits das Gefecht in vollem Gange war, war innerhalb der Mauern alles ruhig. „Noch während des Frühstücks erfuhren wir, dass es draußen Feindkontakt gab. Mehr wusste niemand zu dem Zeitpunkt.“ Als dann Stabsangehörige am Nachmittag nicht zur routinemäßigen Wochenlage erschienen, wurde Schaller stutzig. Es gab nur eine Nachricht, dass die Besprechung ausfiele. Kaum in der „Gottesburg“ wieder angekommen, erreichte Schaller ein Anruf. „Es war der Einsatzoffizier. Er sagte: Wir brauchen Sie. Aber nicht erst in einer halben Stunde.“

Umgehend machte sich der Pfarrer auf den Weg, noch immer im Unklaren, was sich genau ereignet hatte. Vor Ort traf er auf den Einsatzpsychologen, welcher ihm die Nachricht über einen gefallenen Soldaten übermittelte. Dass es noch zwei weitere Gefallene an dem Tag zu beklagen geben sollte, wusste Schaller da noch nicht. „Wir wussten noch nicht, welche Ausmaße es hatte. Dann wurden nach und nach die Toten gebracht.“

Seine Erfahrungen aus der Notfallseelsorge gaben ihm Werkzeuge an die Hand, um die Lage zu händeln. „Aber wirklich vorbereiten kann man sich auf so eine Situation nicht.“ Man sei ein Mensch, keine Maschine. Auch er habe das Geschehene erst einmal einordnen müssen. „In einem Feldlager ist man eine Gemeinschaft, auch dann, wenn man sich namentlich nicht kennt.“ Innerhalb weniger Augenblicke wurden alle im Lager zu einer Schicksalsgemeinschaft.

"Man tut instinktiv, was notwendig ist"

Schaller gesellte sich zu den Soldaten, die den Verlust ihrer Kameraden betrauerten, das Geschehene noch gar nicht greifen oder gar sofort verarbeiten konnten. Das Wichtigste dabei: Zuhören, da sein. „Ich stand mit ihnen zusammen, man sprach und schwieg. Es wurden Zigaretten angeboten. Obwohl ich Nichtraucher bin, habe ich dennoch bestimmt eine Schachtel mit ihnen zusammen geraucht.“ Es gebe in solchen Fällen eine Dynamik, die einfach entstehe, „man kann sie nicht steuern“. „Man tut instinktiv das, was notwendig ist.“

Einige Soldaten suchten das Gespräch, einige zogen sich zurück. „Jeder verarbeitet Trauer anders“, weiß Schaller. Und an wen wendet sich der Seelsorger? „Ich mache es nicht anders als die Soldaten. Ich suche mir jemanden, mit dem ich reden kann.“ In seinem Fall sei es der Truppenpsychologe gewesen, die von Beginn an ein gutes Verhältnis gepflegt hatten und sich regelmäßig ausgetauscht hatten.

Das Osterfest rückte vollkommen in den Hintergrund. „Das Osterfeuer fiel selbstverständlich aus.“ Auf Schritt und Tritt war das Karfreitagsgefecht Thema.  Am Ostersonntag wurden die Särge nach Deutschland geflogen. Auf dem Platz, wo die Kameraden nur zwei Tage zuvor das Lager verlassen hatten, aber nicht lebend zurückkehrten, kamen alle zusammen, auch Soldaten anderer Nationen, wie Belgier und Amerikaner. „Es sind alles Soldaten, sie sind Kameraden, sie alle nahmen Anteil und bildeten eine Gasse, durch die die Panzer mit den Särgen fuhren. Es war wie auf einer Beerdigung, aber dennoch eine ganz andere Situation.“ Es sei eines der seltenen Male gewesen, bei denen Schaller seine Predigt aufschrieb. „Ich wusste selbst nicht, wie es emotional klappen würde.“

Und von jenseits der Mauer erklang eine Melodie

Eines blieb und bleibt Schaller noch immer besonders im Gedächtnis: Während der Trauerzug in Richtung Hubschrauberlangeplatz schritt, erklang von der anderen Seite der Mauer plötzlich eine Melodie. Ein Ziegenhirte, wie Schaller dem begleitenden Getrappel und Glockenklang nach vermutete, spielte ein Lied auf einem Instrument. „Ich bin mir sicher, dass er keine Ahnung hatte, was innerhalb der Mauern passierte. Aber es war, als würde er ein Lied zum letzten Geleit spielen. Es war ein sehr leises und beruhigendes Lied. Ich erinnere mich nicht mehr an die Melodie. Aber ich erinnere mich, dass es etwas Hoffnungsvolles hatte.“

Für den Abend war klar, dass es eine Andacht geben müsse. Einen Ort, an dem die Soldaten zusammenkommen konnten. Dann entwickelte sich etwas, das Schaller auch heute noch sehr berührt. Vor der „Gottesburg“ gab es ein Beachvolleyballfeld, an dessen Rand für das Osterfeuer ein Holzkreuz aufgestellt worden war. Man hatte bereits Fotos der Gefallenen besorgt und sie von roten Kerzen umrahmt aufgestellt.

Dann begannen Soldaten, Kerzen vor dem Kreuz aufzustellen. „Wir haben alles, was wir an Kerzen hatten, die eigentlich für Ostern vorgesehen waren, verteilt. Und wo wir konnten, haben wir noch weitere Kerze aufgetrieben“, erinnert sich Schaller. „Wir standen dann alle zusammen mit Kerzen in der Hand, sprachen Gebete, es wurde ausgewählte Musik vom Band gespielt. Es war sehr bewegend – und einfach authentisch“, berichtet der Seelsorger mit andächtigem Blick.

Ungeminderte Einsatzbereitschaft

Das Osterfest betrachtet Schaller seit dem Karfreitagsgefecht aus einem anderen Blickwinkel. Das Karfreitagsgefecht begleitet ihn dabei. Mit einigen Soldaten von damals steht er noch in Kontakt. Am 2. April, wenn sich das Gefecht zum zehnten Mal jährt, kommen einige von ihnen zusammen.  
Nach Kundus ging Schaller noch ein weiteres Mal in den Auslandseinsatz, nach Masar-i-Sharif 2017. Ob noch weitere Einsätze folgen, weiß er noch nicht. Seine Einsatzbereitschaft bleibt ungemindert bestehen.

Sein Rat an alle Seelsorger, die im Einsatz ähnliche Erfahrungen machen wie er in Kundus: „Man weiß nie, was einen erwartet. Man weiß nicht, was kommt. Man muss sich auf die Situation einlassen und nicht mit vorgefertigten Konzepten kommen oder nur Muster abrufen. Zuhören, einfach mal da sein.“