Eine Szene aus dem Sechs-Tage-Krieg: Ein Sherman-Panzer der israelischen Armee vor einem zerstörten Panzer der arabischen Gegner – der schnelle Krieg und der schnelle Sieg im Juni 1967 begründeten den Mythos der Unbesiegbarkeit der Truppen mit dem Davidstern. Foto: Picture Alliance

Eine Szene aus dem Sechs-Tage-Krieg: Ein Sherman-Panzer der israelischen Armee vor einem zerstörten Panzer der arabischen Gegner – der schnelle Krieg und der schnelle Sieg im Juni 1967 begründeten den Mythos der Unbesiegbarkeit der Truppen mit dem Davidstern. Foto: Picture Alliance

04.11.2023
Von Dr. Joachim Krause

Krieg in Nahost: Eine strategische Herausforderung für Deutschland

Die Bundesregierung hat eine aktive Rolle eingenommen und Israel breite Unterstützung zugesagt. Die Bilder von demonstrierenden Palästinensern lassen die Deutschen irritiert zurück. Das erfordert Einsatz für die einzige Demokratie, die sich seit 75 Jahren in Nahost bewährt hat.

Der Terroranschlag der Hamas gegen Israel mit etwa 1.400 abgeschlachteten israelischen Menschen und über 200 Geiselnahmen hat bei uns in Politik und Öffentlichkeit Spuren hinterlassen. Positiv ist zu verzeichnen, dass die Bundesregierung eine aktive Rolle eingenommen hat, indem sie ihre Solidarität mit Israel deutlich machte – unter anderem durch Besuche des Bundeskanzlers, der Außenministerin und des Verteidigungsministers. Auch wurden Hilfeleistungen versprochen, sogar militärischer Art. Unangenehm aufgefallen sind die teilweise gewaltsamen Demonstrationen von Hamas-Anhängern und Palästina-Sympathisanten, die „Gerechtigkeit für Palästina“ und ein „freies Palästina“ fordern, womit sie implizit meinen, dass der seit 75 Jahren bestehende Staat Israel abgeschafft werden soll – ein Staat, der die einzige funktionierende Demokratie im Nahen Osten ist. Auch das „Verrechnen“ der durch Hamas begangenen Morde und Geiselnahmen mit angeblichen oder tatsächlichen Opfern israelischer Luftangriffe oder Besatzungsherrschaft durch hiesige Palästina-Sympathisanten und Intellektuelle ist geradezu erschreckend.

All diese Entwicklungen sollten Anlass geben, die breiteren strategischen Hintergründe in den Blick zu nehmen und zu fragen, was hier wirklich auf dem Spiel steht. Das, was derzeit im Nahen Osten passiert, betrifft Deutschland indirekt und direkt. Es ist eine Herausforderung, die als strategisch aufgefasst, analysiert und in ihren Konsequenzen bedacht werden muss. Das geschieht hierzulande allerdings nur unzulänglich, wenngleich die Bundesregierung sich erkennbar Mühe gibt. Die folgenden Aspekte gilt es dabei ins Auge zu fassen:

Die strategische Zielrichtung der brutalen Angriffe der Hamas auf Israel wird kaum diskutiert. Unter Experten gibt es dazu drei unterschiedliche Annahmen, wobei derzeit jede für sich plausibel erscheint.

Welche Rolle spielendie Mullahs im Iran?

Die erste These besagt, dass die Hamas die Raketenangriffe und das brutale Abschlachten von Israelis sowie die Geiselnahme aus eigenem Antrieb unternommen hat, um damit die Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien zu sabotieren und innerhalb der arabischen Welt eine Massenbewegung zugunsten der Palästinenser auszulösen. Die zweite These lautet, dass die Hamas ihre Terrorangriffe nicht unabhängig von der Zustimmung der Führung in Teheran vorgenommen hat. Vielmehr soll der Angriff Vergeltungsaktionen der Israelis provozieren, die dann der Hisbollah Anlass geben, Israel mit seinen mehr als 100 000 Raketen anzugreifen. Ziel sei es, einen langanhaltenden Krieg in der Region zu provozieren, der dazu führen wird, dass die USA an die Grenze ihrer militärischen Unterstützungsfähigkeit für die Ukraine und Israel gelangen. Angesichts der sehr eng gewordenen Bündnisbeziehung zwischen Moskau und Teheran ist das keine abwegige Vermutung. Möglicherweise käme dann noch eine Militäraktion Chinas gegen Taiwan hinzu oder ein erster Kernwaffentest des Iran. Welche dieser Annahmen stimmt, wird sich erweisen, sobald Israel eine Bodenoperation im Gaza-Streifen unternimmt. Auf beides muss die Bundesregierung vorbereitet sein, insbesondere was die Unterstützung für die Ukraine betrifft. Die dritte Annahme ist noch bedenklicher: Möglicherweise signalisiert der palästinensische Terroranschlag vom 7. Oktober 2023, dass generell die Überzeugung um sich greift, dass der „Westen“ (zu dem Israel gerechnet wird) schwach geworden ist und die Zeit gekommen sei, die vor allem durch westliche Staaten geprägte internationale Ordnung gewaltsam zu zerstören.

Die deutsche Politik und die öffentliche Diskussion werden leider noch zu wenig von strategischen Überlegungen geprägt. Vielmehr herrscht eine Art von Weltschmerz und die Angst vor einem „Flächenbrand“ vor. Die Angst vor dem „Flächenbrand“ reflektiert ein mangelhaftes Verständnis dessen, worum es hier geht und was militärisch möglich ist und was nicht. Der Begriff des Flächenbrandes suggeriert, dass ein Krieg aus Versehen oder unter Verkoppelung unglücklicher Umstände entstehen kann. Tatsache ist, dass es in der neueren Geschichte bislang keinen Krieg gab, der „aus Versehen“ ausgebrochen ist. Zwar kann es unglückliche Umstände geben, aber jeder Kriegsausbruch kann nur dann realistisch angenommen werden, wenn es politische Akteure gibt, die diesen Krieg wollen und die sich auch entsprechend darauf vorbereitet haben. Schaut man in den Nahen Osten, dann wird erkennbar, dass keiner der Nachbarstaaten das militärische Potenzial und auch den politischen Willen hat, Israel anzugreifen. Die einzige Kraft, die das vermag, sind die aus Teheran ferngelenkten Hisbollah im Zusammenwirken mit anderen schiitischen Milizen in Syrien. Und das wäre dann kein „Flächenbrand“, sondern eine vorbedachte Eskalation und möglicherweise der Beginn eines Weltkrieges.

UNRWA ist als Hilfswerk jetzt selbst ein Problem

Die jüngste Krise sollte den Blick für die strukturellen Ursachen und die Natur des Nahost-Konflikts schärfen und die Suche nach neuen Wegen zur Folge haben. Nicht die mangelnde „Gerechtigkeit“ für die Palästinenser ist das Problem, sondern dass die Flucht und Vertreibung von 700.000 Palästinensern im Jahre 1948 immer noch institutionalisiert und perpetuiert wird. In den vergangenen 100 Jahren hat es in der ganzen Welt gewaltige Fluchtbewegungen und Vertreibungen gegeben: Im Wege der Teilung Indiens ab 1947 wurden über 14 Millionen Hindus, Moslems oder Shiks vertrieben, Deutschland musste nach 1945 12 Millionen Vertriebene aufnehmen, 2,1 Millionen Polen wurden aus der Sowjetunion zwangsumgesiedelt, 1,5 Millionen Franzosen mussten Algerien verlassen, über eine Million Griechen flohen aus Anatolien und 800.000 Juden wurden aus arabischen Ländern vertrieben. Weitere Beispiele ließen sich nennen.

In all diesen Fällen haben verantwortungsbewusste Politiker in den betroffenen Ankunftsländern sich um die Integration der betroffenen Menschen gekümmert, weil ihnen das Wohl dieser Menschen wichtig war, die ihnen bezüglich Sprache, Religion oder Kultur auch nahestanden. Im Fall der seinerzeit vertriebenen 700 000 Araber palästinensischer Herkunft hat kein arabischer Staat bisher eine Integration versucht, sondern alle Regierungen waren darauf bedacht, diese in Flüchtlingslagern zu isolieren und ihnen zu versichern, dass sie alles für eine „gerechte Lösung“ ihres Problems unternehmen werden. Von den ursprünglichen Vertriebenen lebt heute kaum noch jemand, aber etwa 6 Millionen Menschen mit Flüchtlingsstatus werden heute vom Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) in Jordanien, Syrien, im Libanon, in der Westbank und im Gaza-Streifen betreut. UNRWA hat diesen Zustand institutionalisiert und perpetuiert. Es betreut seit 1949 eine ständig anwachsende Zahl von Menschen mit Flüchtlingsstatus und betreibt ein umfangreiches Erziehungswesen, Sozialwesen und Gesundheitswesen. Das Hilfswerk wird zu 95 Prozent aus freiwilligen Beiträgen finanziert, die größten Geldgeber waren 2022 die USA, Deutschland und Schweden.

UNRWA steht seit vielen Jahren in der Kritik, unter anderem wegen Korruption, Kollaboration mit Hamas-Terroristen oder wegen Schulbüchern, in denen Hass auf Israel gepredigt wird. Der deutsche Journalist Martin Klingst hat 2018 in einem Beitrag für die ZEIT geschrieben: „UNRWA ist zu einer Krake geworden. Gegründet, um ein drängendes Problem zu lösen, ist das Hilfswerk inzwischen selber ein Problem.“ Es wird daher Zeit, dass auch Deutschland seine Position überdenkt und seinen Beitrag zu UNRWA in Frage stellt. Es wäre allerdings nicht richtig – so wie seinerzeit von der Trump-Administration gemacht – die Beiträge einfach zu kürzen oder auszusetzen. Deutschland sollte vielmehr eine große internationale Initiative einleiten, deren Ziel es sein sollte, unter Einbeziehung reicher arabischer Staaten den Insassen der Flüchtlingslager Perspektiven in der arabischen Welt zu bieten. Sollte diese Initiative scheitern, wäre es tatsächlich angesagt, die Unterstützung für UNRWA gänzlich einzustellen. Nach Angaben der Weltbank ist die finanzielle und materielle Unterstützung des Auslands für Palästinenser mit Flüchtlingsstatus pro Kopf derzeit doppelt so hoch, wie bei vergleichbaren internationalen Hilfeleistungen in anderen Ländern. Die Menschen unter UNRWA im Gaza oder auf der Westbank leben daher nicht in Armut und Elend, wie bei uns gerne suggeriert wird, sondern werden auf einem Niveau alimentiert, welches dafür sorgt, dass keine Kritik an Hamas oder Fatah aufkommt. Diese wiederum bieten den Palästinensern keinerlei Perspektive außer Krieg und Terror.

Deutschland sollte vorerst Abschied von der Idee einer Zwei-Staaten-Lösung für Israel und die Palästinenser nehmen. Der von Hamas im Gaza-Streifen errichtete Staat ist ein palästinensischer Staat und nach den massenhaften Morden an israelischen Zivilisten bleibt die Frage im Raum: Wie soll eine palästinensische Staatlichkeit für Israel akzeptabel sein, wenn diese hauptsächlich dafür genutzt wird, terroristische und militärische Bedrohungen gegen Israel aufzubauen? Auch die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah hat keine funktionierende und den Frieden sichernde Staatlichkeit errichten können. Israel hat daher vor 20 Jahren eine Mauer zwischen sich und dem Gebiet der PNA gebaut, nachdem von dort viele brutale terroristische Anschläge ihren Ausgang genommen hatten.

Ein religiös untermauerter Extremismus und Antisemitismus sind auch außerhalb der Flüchtlingslager unter jungen Palästinensern und Arabern weit verbreitet. Es macht wenig Sinn zu hoffen, dass mal gemäßigte Kräfte unter den Palästinensern das Ruder übernehmen. Es gibt diese Kräfte, aber sie sind schwach und kommen weder im Gaza-Streifen noch in den Gebieten der Palästinensischen Autonomiebehörde zur Geltung. Wo sie auftreten, werden sie unterdrückt oder physisch ausgeschaltet. Selbst in arabischen Staaten weiß keiner, wie mit dem Extremismus der Palästinenser umzugehen ist. Ein arabischer Diplomat sagte mal im Jahr 2000 nach dem Fehlschlag des Camp-David-Gipfeltreffens: „Die Palästinenser lassen keine Gelegenheit aus, Gelegenheiten [für eine bessere Zukunft] auszulassen.“ Ohne dass dieser Extremismus und der damit verbundene Antisemitismus an der Wurzel bekämpft wird, kann es keine friedliche Lösung im Nahost-Konflikt geben. Der Extremismus und insbesondere der Antisemitismus sind nicht die Folge der israelischen „Besatzungsherrschaft“, sondern haben sich schon in den 30er und 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts unter massiver Mitwirkung des Dritten Reiches herausgebildet. Sie sind Teil der politischen DNA unter vielen Palästinensern.

Das vermehrte Auftreten arabischer und palästinensischer Extremisten und Antisemiten auf deutschem Boden ist eine Folge der liberalen Asylpolitik der vergangenen 10 Jahre, insbesondere der unkontrollierten Aufnahme von etwa 1 Million Menschen aus der arabischen und muslimischen Welt im Herbst 2015, veranlasst durch die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Sorglose Migrationspolitik schafft enormes innenpolitisches Problem

Die Mehrheit der 1,5 Millionen in Deutschland lebenden Araber sind keine Extremisten und Antisemiten, aber die hier auftretenden Mengen an gewaltbereiten Hamas-Sympathisanten lassen erkennen, dass wir uns durch eine sorglose Migrationspolitik ein enormes innenpolitisches Problem aufgehalst haben. Auf dieses Problem wurde bereits 2015 hingewiesen, aber geschehen ist seither nichts.

Der Krieg zwischen Hamas und Israel ist auch ein Informationskrieg, bei dem es um die Deutungshoheit über Ereignisse geht. Wie sehr die Hamas dabei mit Desinformationen und der Nutzung von Bildern angeblicher Opfer israelischer Angriffe vorgeht, ist mittlerweile erkennbar geworden. Die Frage bleibt: Warum sind die öffentlich-rechtlichen Kanäle, insbesondere die „Tagesschau“, so grandios darauf reingefallen? Und immer noch werden zivile Opferzahlen der Hamas-Desinformation unkritisch in deutschen Medien wiedergegeben. Offensichtlich, das zeigen diese Beispiele,  bedarf es in diesem unserem Land inzwischen einer groß angelegten Aufklärungskampagne über Informationskriegsführung.

Deutschland muss kreativ werden

Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik wird die oben angesprochenen Probleme angehen und dabei ein erhebliches Maß an Kreativität entwickeln müssen. Es reicht nicht aus, Politik durch wohlfeile Erklärungen betreiben zu wollen. Die Formel, wonach Israels Sicherheit Deutschlands Staatsräson ist, ist begrüßenswert. Sie bleibt aber weitgehend ein ungedeckter Scheck. Die Bundeswehr wird nicht in der Lage sein, Bodentruppen nach Israel zu entsenden, wenn sie es nicht einmal schafft, bis 2025 eine vollständige Heeres-Brigade in Litauen aufzustellen.

Deutschland kann Israel Munition liefern und finanzielle und materielle Hilfe überwiegend ziviler Art leisten, aber mehr ist nicht möglich. Die Formel von der Staatsräson wird zudem zur hohlen Phrase angesichts der Tatsache, dass jüdisches Leben im heutigen Deutschland nicht nur durch Rechtsextremisten, sondern auch durch antisemitische Araber gefährdet ist. Diese operieren in mehreren Großstädten in einer Stärke, die die Polizeikräfte zu überfordern scheint.

Dieses Land tut sich schwer damit, einen Diskurs zu entwickeln, der strategische Zusammenhänge, Herausforderungen und Lösungswege systematisch aufgreift, abarbeitet und Lösungen entwickelt. Es verbleibt der Eindruck einer politischen Führung, die zu oft auf Symbolik und Formelsprache zurückgreift, und einer weitgehend orientierungslosen veröffentlichen Meinung, die sich an Randereignissen, an militärischen Detailfragen oder an unlösbaren ethischen Problemen abarbeitet. Für einen Staat, der sich gern als europäische Führungsnation sieht, ist das kein gutes Zeugnis.

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